Martin Kocher

„Wir werden im Winter nicht mit dicken Decken dasitzen müssen"

Wirtschafts- und Arbeitsminister Martin Kocher über das Gefährliche an der Inflation, den politischen Unterschied zwischen einem Feuerwehrauto und einem Kindergarten – und warum er seine Zukunft sicher nicht im Kanzleramt sieht.

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profil: Die Regierung steht sehr schlecht da. Warum ging das Vertrauen verloren? Durch die Korruptionsaffären? 
Kocher: Wir erleben Multi-Krisen. Der russische Krieg in der Ukraine, Teuerung, Pandemie. Keine Regierung seit 1955 hatte so viele Herausforderungen. Die Gemengelage wird explosiver, soziale Medien heizen auf. Da wird es schwieriger, pragmatisch zu regieren. 

profil: Mit dem Anti-Teuerungspaket wird sehr viel Geld verteilt. Hoffen Sie auf Stimmungsänderung?
Kocher: Man darf nicht der Illusion aufsitzen, dass ein Paket allein verloren gegangenes Vertrauen zurückbringt. Wir müssen kontinuierlich gute Arbeit liefern. In letzter Zeit gelang einiges, das Pflege-Paket, jetzt das Anti-Teuerungspaket.

profil: Die häufigste Kritik am Anti-Teuerungspaket lautet: zu wenig treffsicher.
Kocher: Die kurzfristigen Maßnahmen wie der Teuerungsausgleich entlasten untere Einkommen stark. Bei den mittelfristigen Maßnahmen ging es um Strukturreformen: Wir müssen uns darauf einstellen, dass die Inflation mehrere Jahre lang höher bleibt als zuletzt, daher müssen wir unser Steuer- und Sozialsystem anpassen. Das passiert mit der Abschaffung der kalten Progression und der Valorisierung der Sozialleistungen.

profil: Es werden auch Spitzenverdiener entlastet, etwa mit dem Familienbonus. 
Kocher: Man kann immer über Prioritäten diskutieren. Ich halte es für wichtig, Familien zu stärken. Sie sind stark belastet. Alleinlebende oder Kinderlose tun sich leichter. Außerdem ist die Steuerbelastung in Österreich sehr hoch. Da kann man Entlastungen für alle schon argumentieren.

profil: Sie rechnen optimistisch, dass sich das Riesenpaket durch Wirtschaftswachstum finanziert. Müssen wir uns nicht auch auf Rezession einstellen?
Kocher: Rund die Hälfte finanziert sich durch inflationsbedingt höhere Steuereinnahmen selbst. Noch einmal 30 Prozent durch indirekte Effekte auf Steuereinnahmen. Es bleibt eine Lücke von einigen Milliarden Euro über vier oder fünf Jahre hinweg, das ist machbar. Wahrscheinlich wird das Wirtschaftswachstum ab Herbst flacher, das Paket stützt gerade den privaten Konsum, der im Moment Wachstumstreiber ist. 

profil: Wäre die Senkung der Mehrwertsteuer auf Grundnahrungsmittel sinnvoll?
Kocher: Der Effekt wäre relativ gering, das haben wir in Deutschland bei der Mineralölsteuer gesehen. Und es wäre extrem schwer zu überprüfen, ob die Supermärkte die Senkung voll weitergeben. Daher erscheint mir unser Weg, die Einkommen zu stützen, sinnvoller.

profil: Werden Leistungen wie das Arbeitslosengeld erhöht?
Kocher: Das Arbeitslosengeld steigt ja automatisch, weil es vom letzten Einkommen abhängt. Aber wir werden diskutieren, welche Auswirkungen die Inflation auf das Arbeitslosengeld hat – und vor allem auf die niedrigere Notstandshilfe. Wenn die Inflation hoch bleibt, wäre eine Anhebung vielleicht notwendig. 

profil: Erbschafts- und Vermögenssteuern stehen nicht im Koalitionsübereinkommen. Müsste nicht dennoch sachlich darüber geredet werden – um den sozialen Frieden zu erhalten? 
Kocher: Eine sachliche Debatte ist unmöglich. Vermögens- und Erbschaftssteuern scheinen immer Projektionsflächen für ideologische Haltungen zu sein. Es wird selten sachlich über mögliche Varianten gesprochen. Dann müsste man über das gesamte Steuersystem sprechen und überlegen, ob man den sehr hoch besteuerten Faktor Arbeit durch Umschichtung entlastet. Eine isolierte Debatte über Vermögens- und Erbschaftssteuern führt zu nichts.

profil: Die Inflation führt auch zu Umverteilung.
Kocher: Die Inflation führt zu Umverteilung zwischen Menschen mit Schulden und Menschen mit Sparguthaben. Das ist das Gefährliche an Inflation. Wir haben völlig unterschätzt, welche Verwerfungen in der Bevölkerung Inflation auslöst. 

profil: Ihr deutscher Kollege, Wirtschaftsminister Robert Habeck, ist ein Star, weil er offen Sätze sagt wie: Wir werden alle ärmer werden. Hat er recht?
Kocher: Natürlich macht importierte Inflation wie diese eine Volkswirtschaft ärmer. Wir als Politik federn die besonders starken Folgen bei Haushalten und Unternehmen ab. Diese Abfederung kommt aus dem Budget, daher wird die Volkswirtschaft, wir alle, ärmer. Das hat Habeck gesagt. Das war nichts Weltbewegendes. Aber er hat es als einer der Ersten offen ausgesprochen.

profil: In Österreich wagen Politiker selten derart offene Worte. Warum?
Kocher: Der Grat zwischen offenen Worten und Panikmache ist schmal. Wir haben Krieg vor der Haustür. Das ergibt negative Effekte auf unser tägliches Leben. Andererseits gibt es keinen Grund für Panik. Wir werden im Winter nicht mit dicken Decken dasitzen müssen. Aber wir sollten Energie sparen – weniger mit dem Auto fahren, Thermostate besser einstellen. Vieles geht ohne Komfortverlust. 

profil: Welchen Unternehmen wird im Ernstfall als Erstes das Gas abgedreht? 
Kocher: Es gibt verschiedene Parameter, danach werden Prioritäten gesetzt. Die Namen der Unternehmen können wir nicht öffentlich nennen. Manches ist klar: private Haushalte, Gesundheitssystem, Schulen sind besonders wichtig. Dann lebensnotwendige Produkte. Aber: Eine Energielenkung ist ein extrem unwahrscheinliches Szenario. Die Gasspeicher füllen sich; bei 40 Prozent Füllstand kommen wir ein halbes Jahr aus. Bis Herbst wollen wir die Speicher zu 80 Prozent voll haben. 

„Private SMS sind vielleicht nicht sauber formuliert, aber politisch irrelevant.“

Martin Kocher

profil: Warum drückt die Regierung bei Alternativen zu Gas nicht aufs Tempo? 
Kocher: Wir werden die Abhängigkeit von Erdgas nicht in einem Jahr beseitigen. Natürlich müssen wir den Ausbau anderer Energieformen beschleunigen, etwa durch raschere Umweltverträglichkeitsprüfungen. Es muss jetzt schnell gehen. Das haben alle erkannt.

profil: Politiker in Westösterreich nicht. Die wehren sich gegen Windräder auf Bergen.
Kocher: Da gibt es auch schon Umdenkprozesse. 

profil: Muss man seit dem russischen Angriffskrieg genauer hinschauen, mit wem man Geschäfte macht? 
Kocher: Außer Norwegen gibt es wenige lupenreine Demokratien mit Erdöl. Man muss mit moralischen Kriterien sehr vorsichtig sein, denn man ist schnell bei Eingriffen, die den Wohlstand gefährden. Da stehen wir ständig vor schweren Entscheidungen.

profil: Wie konnte es geschehen, dass Österreich so überproportional von russischem Gas abhängig ist? 
Kocher: Im Nachhinein ist Kritik daran einfach. Hätte jemand vor 2014 gesagt, wir sollten weniger Erdgas aus Russland beziehen, wäre er vermutlich für verrückt erklärt worden, weil es viel billiger war. 

profil: Sollte die OMV von staatlichem Einfluss frei gemacht werden?
Kocher: Das fällt nicht in mein Ressort, aber ich finde, der Staat muss Einfluss auf die Infrastruktur behalten – wie immer die Eigentümerschaft konkret aussieht. 

profil: Trotz Krise klagt die Wirtschaft über Arbeitskräftemangel. Wird das so bleiben?
Kocher: Darauf müssen wir uns langfristig einstellen, allein wegen der demografischen Entwicklung. Es scheiden mehr Menschen aus dem Berufsleben aus als neu hinzukommen. Die Zuwanderung, die wir hatten, gleicht das nicht aus. 

profil: Was wirkt gegen Arbeitskräftemangel: bessere Gehälter, Vier-Tage-Woche, mehr Druck zu arbeiten? 
Kocher: Bessere Gehälter und Vier-Tage-Woche bringen keine neuen Arbeitskräfte. Wir sollten das inländische Potenzial ausschöpfen: bei Frauen und Älteren. Wir haben immer noch einen relativ frühen faktischen Pensionsantritt. Und es fehlt an Kinderbetreuung, das hindert Frauen an Erwerbstätigkeit.

profil: In Oberösterreich etwa sind nur fünf Prozent der Kindergartenplätze für unter Dreijährige mit Vollzeit vereinbar. Warum dauert der Ausbau so lange?
Kocher: Auf lokaler Ebene wird oft abgewogen zwischen Investitionen in ein Schwimmbad, ein Feuerwehrauto oder in einen Kindergarten. Ich glaube, das ändert sich gerade. Großen Aufholbedarf haben wir bei Kindern von ein bis drei Jahren, ganztägigen Öffnungszeiten und Elementarpädagogen und -pädagoginnen. Wer den Arbeitskräftemangel beheben will, muss Kinderbetreuung anbieten.

profil: Soll es wie in Deutschland einen Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung geben? 
Kocher: Das wäre ein symbolischer Akt. Die Umsetzung ist der entscheidende Punkt. 

profil: Ukrainische Flüchtlinge dürfen sofort arbeiten. Wollen Sie das auch anderen Flüchtlingen ermöglichen?
Kocher: Im Moment stehen 6000 ukrainische Flüchtlinge in einem Arbeitsverhältnis, und es werden wöchentlich mehr. Das Potenzial ist allerdings begrenzt, weil viele sehr junge oder alte Menschen gekommen sind und Mütter, die sich erst einmal um ihre Kinder kümmern wollen. Asylwerber aus anderen Staaten können einen Antrag auf Arbeitserlaubnis stellen, den ein Regionalbeirat genehmigt, wenn es keine inländischen Bewerber gibt. 

profil: Also fast nie.
Kocher: Das wird gemeinsam mit den Sozialpartnern entschieden.

profil: Wie wollen Sie Langzeitarbeitslosigkeit senken? Braucht es mehr Druck?
Kocher: Im Kern geht es um die Frage: Wie stark muss man fordern, wie stark muss man fördern? Es gibt Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen, Traumata oder einer veralteten Ausbildung, die verstärkte Förderung brauchen. Bei anderen ist das Grundproblem: Wer 1000 Euro Arbeitslosengeld bekommt, dazu 500 Euro für geringfügige Beschäftigung als Zuverdienst und dann noch beim Nachbarn aushilft, hat mit 1700 Euro netto mehr Geld zur Verfügung als jemand, der 40 Stunden an einer Supermarktkasse sitzt. 

profil: Wie wollen Sie das ändern?
Kocher: Erstens, indem gute Arbeitsangebote angenommen werden müssen. Zweitens, indem wir die Zuverdienstmöglichkeiten ändern – konkret: zeitlich befristen. Den Zuverdienst soll es weiterhin geben, wo er hilft, am Arbeitsmarkt wieder Tritt zu fassen. Aber nicht, wenn er Arbeitslosigkeit verlängert. 

profil: Wann kommt die Reform der Arbeitslosenversicherung?
Kocher: Voraussichtlich in den kommenden Wochen. 

profil: Hat die Pandemie die Menschen der Arbeit entwöhnt?
Kocher: Es hat sich etwas verändert durch die Pandemie. Die Höhe des Lohns ist oft gar nicht entscheidend, sondern Arbeitszeit, Flexibilität und Sinnstiftung. 

profil: Wird das Arbeitslosengeld degressiv – anfangs höher, später niedriger? 
Kocher: Wo man anfängt und endet, ist noch offen. Aber es kann nicht viel unter dem jetzigen System liegen, und am Anfang muss es jedenfalls höher sein. Mein Ziel ist, jedem Arbeitsuchenden ein Angebot zu machen: Fortbildung, Umschulung, Job. 

profil: Mit den Ressorts Arbeit und Wirtschaft sind Sie Superminister. Werden Sie jetzt der ÖVP beitreten? 
Kocher: Das war und ist kein Thema für mich. 

profil: Sie sind der beliebteste Minister der ÖVP-Riege in einer Regierung, die insgesamt sehr unbeliebt ist. Der Politologe Peter Filzmaier meint, die ÖVP sei bei der nächsten Wahl nur mit Ihnen als Kanzlerkandidat zu retten. Würden Sie das tun? 
Kocher: Nein! Das ist völlig unvorstellbar für mich. Es ist sehr wahrscheinlich, dass ich nach dieser Legislaturperiode in die Wissenschaft zurückgehe. 

profil: Sie haben Kanzler Sebastian Kurz als auch Karl Nehammer erlebt. Wie unterscheiden sich die beiden? 
Kocher: Spannende Frage. Natürlich hat jeder seinen Hintergrund und damit auch andere Schwerpunkte. Beide haben eine sehr klare Vorstellung, wo sie hinwollen. Beide geben persönlich extrem viel, auch physisch. Die Freiheit, in meinem Bereich zu gestalten, hatte ich unter Kurz und habe ich unter Nehammer.

profil: Schreiben Sie noch WhatsApp-Nachrichten? 
Kocher: Selbstverständlich.

profil: Aber keine mit Herzerl oder solche, in denen Sie jemand einen Arsch nennen.
Kocher: Ich versuche, Nachrichten zu vermeiden, die Emotionen entspringen. Wir alle sollten zwischen privaten und beruflichen SMS differenzieren. Private Nachrichten sind vielleicht nicht immer sauber formuliert, aber politisch irrelevant. Bisweilen verwendet jeder von uns Ausdrücke, die man nicht in der Öffentlichkeit haben möchte. Und dann gibt es Messages, die in die politische Verantwortung fallen. Dafür gibt es den Untersuchungsausschuss. 

profil: Die Chats betrafen aber Staatsbetriebe und Steuergeld.
Kocher: Die strafrechtliche Komponente ist Sache der Staatsanwaltschaft. Aber es gab Anzeigen, die relativ rasch wieder eingestellt wurden und für die Betroffenen doch vernichtend waren. Dadurch wurde die politische Diskussion sehr, sehr verhärtet. 

profil: Werden Sie Alexander Van der Bellen zum Bundespräsidenten wählen? 
Kocher: Alexander Van der Bellen, als Ökonomieprofessor ein ehemaliger Kollege, hat einen großen Vertrauensvorschuss und eine sehr gute Amtszeit hinter sich. Ich warte mal ab, wer sich sonst noch bewirbt, und lege mich dann fest. 

Eva   Linsinger

Eva Linsinger

Innenpolitik-Ressortleitung, stellvertretende Chefredakteurin

Christa   Zöchling

Christa Zöchling