Der Geschichte-Erzähler

Gernot Bauer über die historischen Betrachtungen des Nationalratspräsidenten Wolfgang Sobotka zum ÖVP-U-Ausschuss.

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Mangelnde Sachkenntnis kann Wolfgang Sobotka nicht ertragen, schon gar nicht bei politischen Gegnern. Mittwoch vergangener Woche liefert sich Sobotka im ÖVP-Korruptions-Untersuchungsausschuss ein Scharmützel mit dem SPÖ-Abgeordneten Jan Krainer über Details der Geschäftsordnung. Natürlich kann es aus Sobotkas Sicht nur einen geben, der recht hat. Und das ist nicht Jan Krainer. Denn dieser, so Sobotka deutlich vernehmbar, verfüge nur über "juristisches Halbwissen". Als eine SPÖ-Abgeordnete den Präsidenten auffordert, die Bezeichnung zurückzunehmen, sagt er ruppig: "Das bleibt im Protokoll."

Der Begriff "Halbwissen" ist die bevorzugte Schmähung durch Kundige. Allerdings sollten diese sich dann selbst keine Blöße geben. Doch genau das ist Wolfgang Sobotka passiert. Man darf dem Nationalratspräsidenten mit einiger Berechtigung vorhalten, über maximal "historisches Halbwissen" zu verfügen. Der Politikwissenschafter Anton Pelinka, als Universitätsprofessor eher ein Vollgebildeter, stuft dieses Halbwissen sogar auf "Dummheit" herab. In einem Interview im Club 3 (ein Diskussionsformat von "Kurier", "Kronen Zeitung" und profil) hatte Sobotka über die Lage in der Ukraine und zum Thema "Flüchtlinge" räsoniert: "Die Ukrainer müssen in der Ukraine bleiben und letztlich ihr Land verteidigen. Was wäre gewesen, wenn alle Österreicher nach 1945 geflohen wären?"

Es muss einem Spitzenpolitiker erst einmal gelingen, in zwei Sätzen Anmaßung, Schreibtischheldenmut und einen hanebüchenen geschichtlichen Vergleich unterzubringen. Dass Menschen - wie Sobotka vermeint - unter Lebensgefahr in ihrer überfallenen Heimat "bleiben müssen", macht im Grunde die Genfer Flüchtlingskonvention überflüssig. Zudem lässt es sich als neutraler Unbeteiligter aus der Ferne bequem zur militärischen Verteidigung eines fremden Landes aufrufen. Und 1945 wurde Österreich bekanntlich nicht wie die Ukraine 2022 überfallen, sondern von den Alliierten unter großen Opfern befreit.

Irgendwann am vergangenen Wochenende erkannte Sobotka, welchen Stuss er von sich gegeben hatte, und nahm ihn "mit dem Ausdruck des Bedauerns" zurück. In einem persönlichen Gespräch mit dem ukrainischen Botschafter in Wien, Vasyl Khymynets, entschuldigte er sich "bei allen leidgeprüften Ukrainerinnen und Ukrainern" für seine "unpassenden Äußerungen".

Für eine Entschuldigung bei den Österreicherinnen und Österreichern sah Sobotka keinen Anlass. Dabei lieferte er im Club-3-Gespräch zur österreichischen Zeitgeschichte ebenfalls einen jenseitigen Beitrag. Auf die Frage, ob er aufgrund einer möglichen Befangenheit den Vorsitz im ÖVP-Korruptions-U-Ausschuss zurücklegen werde, sagte der Nationalratspräsident: "Es wird nicht möglich sein, mit permanenten Unterstellungen jemanden rauszukicken." Denn: "Dann könnte man auch die Zweite Präsidentin und den Dritten Präsidenten rauskicken. Und wer soll es dann machen? Das haben wir schon einmal gehabt, 1933."

Wiederum: Viel Mumpitz in einem Satz. Der Rücktritt der drei Präsidenten 1933, der den Nationalrat lahmlegte, war nach Ansicht der Zeithistoriker eine Geschäftsordnungskrise (mit solchen sollte sich Sobotka auskennen), die lösbar gewesen wäre. Kanzler Engelbert Dollfuß verhinderte allerdings das Wiederzusammentreten des Nationalrats mit Polizeigewalt. Die Folgen waren ein juristischer Staatsstreich von oben und das Ende der Demokratie in der Ersten Republik. Eine Analogie von der Ausschaltung des Parlaments 1933 zur Vorsitzdebatte im U-Ausschuss 2022 zu ziehen, ist grotesk.

Die ÖVP empört sich zu Recht, wenn sie - meist von sehr linker Seite - mit den Christlichsozialen im Ständestaat verglichen wird. Und nun ist es ausgerechnet der ÖVP-Nationalratspräsident, der eine Debatte über seine Person mit dem Austrofaschismus in einen Zusammenhang bringt. Seine kruden Einlassungen korrigierte er später wie folgt: Der Vergleich mit dem Jahr 1933 habe sich ausschließlich auf die Rücktritte der Nationalratspräsidenten bezogen und nicht auf den Polizeieinsatz gegen das Parlament. Er habe zum Ausdruck bringen wollen, "dass heutzutage immer stärker mit Vorverurteilungen gearbeitet wird, unabhängig von der tatsächlichen rechtlichen Grundlage".

Nun muss man wissen: Mag. phil. Wolfgang Sobotka, 66, ist ein gebildeter Mann. Er absolvierte ein Studium der Geschichte an der Universität Wien und unterrichtete das Fach als Professor am Gymnasium seiner Heimatstadt, Waidhofen an der Ybbs. Als Nationalratspräsident widmet er sich ernsthaft dem Kampf gegen Antisemitismus und organisiert regelmäßig Veranstaltungen zu zeitgeschichtlichen Themen, insbesondere zur historischen Aufarbeitung des Holocaust und Österreichs Rolle im Nationalsozialismus.

Wie kommt er dann dazu, mehrfach solch einen Unsinn zu verzapfen? Wahrscheinlich hat es mit seiner Persönlichkeit zu tun. Sobotka ist ein eruptiver Mensch, der gern und ausführlich die Welt erklärt. Da kann es passieren, dass man die Inhalte der Theatralik opfert, vor allem, wenn man glaubt, ohnehin alles zu wissen. Aus dem Historiker wird dann ein Geschichte-Erzähler.

Heinrich von Kleist schrieb einen bekannten Aufsatz über "die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden". Bei Sobotka wirkt es, als ob sich die Gedanken verflüchtigen, wenn er zum Dozieren ansetzt. Auch mit Namen tut er sich schwer. Seinen ÖVP-Klubobmann Wöginger nannte er im Plenum bereits Gustav statt August. Und vergangene Woche sprach er den ÖVP-Abgeordneten Stocker im U-Ausschuss wiederholt mit "Stockinger" an.

Wolfgang Sobotka ist freilich nicht nur ein gebildeter, sondern auch ein feinsinniger Mensch. Neben Geschichte studierte er auch an der Hochschule für Musik und darstellende Kunst in Wien (Violoncello und Musikpädagogik) sowie am Brucknerkonservatorium in Linz (Dirigieren). Seine politische Prägung erlebte er allerdings in einer ganz und gar nicht feinsinnigen Organisation: der ÖVP Niederösterreich, an deren regionale Allmacht vielleicht noch die Wiener SPÖ heranreicht.

Sobotka wäre gern Landeshauptmann geworden. Doch Erwin Pröll bevorzugte Johanna Mikl-Leitner und kommandierte seinen stellvertretenden Landeshauptmann 2016 nach Wien ab. Als Innenminister entwickelte Sobotka bemerkenswerte destruktive Kräfte und sabotierte die Regierungsarbeit von SPÖ-Kanzler Christian Kern und ÖVP-Obmann Reinhold Mitterlehner. Der Profiteur dieser Aktivitäten, Sebastian Kurz, machte Sobotka nach dem Wahltriumph 2017 zum Nationalratspräsidenten.

Kurz ist Geschichte, doch seine Postenbesetzung wirkt nach und hilft der ÖVP, den Korruptions-Untersuchungsausschuss abzufedern. Als dessen Vorsitzender hat Sobotka durchaus ein paar Hebel, wie vergangenen Mittwoch im Parlament zu beobachten war. Er erteilt bei Meldungen zur Geschäftsordnung das Wort, am liebsten drei ÖVP-Abgeordneten hintereinander. Er verzögert die Sitzung. Er snobbt Abgeordnete anderer Fraktionen ab. Im Zusammenwirken mit ihrem Nationalratspräsidenten gelang es den ÖVP-Abgeordneten, dass Bundesparteiobmann Karl Nehammer kaum eine unangenehme Frage beantworten musste.

Der Vorsitzende Sobotka kann den U-Ausschuss zwar nicht steuern, aber seinen Ablauf verkomplizieren. Dass über seinem Vorsitz eine dröhnende Befangenheit liegt, ficht ihn nicht an. So befasst sich der U-Ausschuss mit Postenbesetzungen und Freunderlwirtschaft im Innenministerium, auch in Zusammenhang mit Sobotkas Amtszeit. Dieser streitet Interventionen von außen nicht ab, nennt sie aber lieber "Bürgeranfragen". Eventuell wird Sobotka sogar selbst als Auskunftsperson geladen. "Wahrscheinlich tut er sich selber, der ÖVP, dem Nationalrat, der Republik und der Politik als Ganzes einen Dienst, wenn er sich ernsthaft überlegt, den Vorsitz weiterzugeben", sagt Vizekanzler Werner Kogler. Doch Sobotka will der "Keule der Befangenheit" nicht weichen. Denn diese sei in der Geschäftsordnung des Nationalrates nicht vorgesehen. Mit Keulen kennt sich Wolfgang Sobotka aus. Sie sind seit jeher sein bevorzugtes politisches Instrument.

Gernot   Bauer

Gernot Bauer

ist Innenpolitik-Redakteur.