"Wein! Weib! Gesang! Kunst!"

Wien: Auf den Spuren der Josefine Mutzenbacher

Wien. Auf der Suche nach Josefine Mutzenbacher, der berühmtesten Prostituierten der Literaturgeschichte

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Manche Orte sehen aus der Entfernung hübsch aus, entpuppen sich aus der Nähe besehen aber als einigermaßen unansehnlich. Im unübersichtlichen Gassengeviert rund um den Ottakringer Brunnenmarkt zuckeln Pensionistinnen, in dezente Farben gewandet, nicht gerade den allerletzten Hutmode-Schrei auf dem Kopf, mit ihren Einkaufstaschen auf Rädern durch den Nachmittag. Eine Jungmutter manövriert ihren grellroten Kinderwagen durch die Schneise zwischen den Verkaufsständen. Ein Mann und eine Frau sind, mitten im Strom der Einkäufer, in ein Gespräch vertieft. Der Fischverkäufer reicht einer Kundschaft über die Verkaufsbudel hinweg zwei in Zeitungspapier eingeschlagene Aale ohne Köpfe. Vor dem Eingang des türkischen Restaurants stehen Männer auf dem Gehweg, rauchend, redend, Schalen von Sonnenblumenkernen auf die Straße schnippend.


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Eine Stadtrandidylle, eine Momentaufnahme aus der Wiener Vorstadt, der Brunnenmarkt an einem Freitagnachmittag, Jänner 2008. Bei näherer Betrachtung offenbart sich allerdings ein weit drastischerer Eindruck der Gegend rund um Wiens größten Detailmarkt, der sich seit über 200 Jahren an dieser Stelle des 16. Gemeindebezirks, zwischen Thaliastraße und Ottakringer Straße, befindet. Viele Geschäftslokale im Grätzel stehen leer, die Innenhöfe etlicher Häuser wirken verfallen, verwahrlost. Mehrere Hausportale, säulenflankiert und ehemals prunkvoll, gleichen Zutritten zu labyrinthartigen Katakomben. Der Wollner-Hof, erbaut Ende des 19. Jahrhunderts und eines der ältesten Häuser am Brunnenmarkt, soll bis 2009 renoviert werden; noch klaffen die eingeschlagenen Fenster in der Fassade des Wohnbaus wie Zahnlücken im Gemäuer, die unteren Stockwerke sind mit Brettern vernagelt.

Ottakring, vor hundert Jahren noch ein Vorort, der vom Stadtkern noch eine gute Tagesreise entfernt war, war schon damals bevölkert von Menschen, die in beengten Bassenawohnungen hausten; der Stadtteil war der aufblühenden Metropole Wien anno 1892 eingegliedert worden. Noch heute finden sich in manch trostloser, abgewirtschafteter Region des Bezirks atmosphärische Spurenelemente einer längst vergangenen Zeit: jenes Wien, in dem ein Großteil der Erzählung vom Leben und Lustwandeln der Josefine Mutzenbacher, der berühmtesten Prostituierten der pornografischen Weltliteratur, angesiedelt ist.

Gleich zu Beginn des 1906 publizierten Bekenntnisberichts "Josefine Mutzenbacher oder Die Geschichte einer Wienerischen Dirne, von ihr selbst erzählt" berichtet die titelgebende Ich-Erzählerin von sozialer Beengtheit und extremer Armut, von Mief und Muffigkeit, von der Tristesse der Vororte jener Zeit: "Wir wohnten ganz weit draußen in Ottakring, in einem damals neuen Hause, einer Zinskaserne, die von oben bis unten mit armen Leuten angefüllt war. Alle diese Leute hatten viele Kinder, und im Sommer war der Hof zu klein für ihre Schar. Ich selbst besaß zwei Brüder, die beide um wenige Jahre älter waren als ich. Mein Vater, meine Mutter, wir drei Kinder wohnten in einer Küche und einem Zimmer und hatten noch einen Bettgeher mit dazu. Solche Bettgeher waren der Reihe nach wohl ein halbes hundert bei uns." (Als "Bettgeher" wurden damals Personen bezeichnet, die gegen geringes Entgelt ein Bett für einige Stunden mieteten, während der Wohnungsinhaber die Schlafstelle nicht benötigte.)

Wie ein fernes Echo auf die ausschließlich mit angewandtem Sex verdichteten Jugenderinnerungen der Josefine M. wirkt da ein über einem Haustor beim Yppenplatz, beim Ausgang des Brunnenmarkts, angebrachtes Zitat des 1994 verstorbenen Dramatikers Werner Schwab: In großen schwarzen Lettern prangt über dem Portal jenes Hauses, in dem der Radikaltheaterdenker einige Jahre lang lebte, eine berühmte Schwab-Sentenz: "Wir sind in die Welt gevögelt und können nicht fliegen."

In weiten Teilen Wiens hält sich seit Jahrzehnten ein Gerücht: Um die Wende des vergangenen Jahrhunderts habe in den engen, verwinkelten Gassen der Stadt eine Prostituierte namens Josefine Mutzenbacher Freiern Liebesdienste angeboten. Es gibt Eigentümer von traditionellen Wäschereibetrieben, die ihrer Kundschaft treuherzig versichern, vor Generationen habe hier auch eine gewisse Frau Mutzenbacher ihre Beinkleider und Röcke in die Reinigung gegeben. Geschäftstüchtige Hoteliers beteuern mitunter gegenüber Touristen, in ihren Etablissements sei die Mutzenbacher samt Kundschaft seinerzeit abgestiegen. Wikipedia, die freie Enzyklopädie im Internet, lässt die Frage immerhin offen: "Josefine Mutzenbacher ist der Name einer vermutlich fiktiven Wiener Prostituierten, die ihr eigenes, überwiegend erotisches Leben erzählt."

Unsittlichkeit. Die berüchtigtste Prostituierte der Stadt, die zum Synonym für die Wiener Dirne schlechthin wurde, hat jedoch nie gelebt. Mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit heißt der Schöpfer der Literaturfigur Felix Salten (1869-1945) - der Journalist und Autor hat sich nie offiziell zu dem schlüpfrigen Werk bekannt, die erste "Mutzenbacher"-Buchausgabe ist, um die strengen Sittengesetze der damaligen Zeit zu umgehen, als anonymer Privatdruck erschienen. Bereits Saltens Zeitgenossen, darunter Karl Kraus, Arthur Schnitzler und Anton Kuh, ergingen sich lustvoll in Spekulationen darüber, ob Salten der tatsächliche Autor der "Mutzenbacher" sei. Felix Salten, zur Entstehungszeit des Romans mächtiger Theaterkritiker der "Neuen Freien Presse", später Präsident des österreichischen PEN-Clubs und Ehrenbürger der Stadt, hatte jedenfalls die Fassade der Sittsamkeit unbedingt zu wahren; 1923 erschien übrigens jenes Buch, das den Autor weltberühmt machen sollte - der Tierroman "Bambi", der 1942 den Walt-Disney-Studios als Vorlage für den Zeichentrickklassiker diente. Laut Recherchen des Journalisten und Polgar-Experten Ulrich Weinzierl, ein profunder Kenner des Fin de Siècle, bürgerte sich für Salten bald ein so schlüpfriger wie mehrdeutiger Spottname ein: "Rehsodomit". 1945 habe Salten, so Weinzierl, auf dem Totenbett, teils schon im Delirium, unverfälschtes Mutzenbacherisch gesprochen.

Der Name Mutzenbacher bürgt seit je für Quantität und pornografische Qualität: Das - je nach Ausgabe - zwischen 200 und 400 Seiten starke Buch bietet ausschweifende Unsittlichkeit en masse - bis hin zu Kindesmissbrauch, Geschwistersex und Inzest; Themen wie Empfängnisverhütung, Menstruation und Abtreibung bleiben dagegen strikt ausgespart. In diesem Roman bleibt, trotz inflationärer Verwendung der drei Punkte zwischen den Wörtern - für gewöhnlich konstitutives Merkmal frivoler Literatur-, nichts ungesagt, explizit Ordinäres kommt unmissverständlich zur Sprache: "Maria und Josef …, du tust mir weh …, so ein Schwanz so ein großer …, und so dick …, ah …, süß …, süß …, ah …, ah …, das ist ganz anders als wie sonst …, fest, nur fest …, das g'spür ich bis in die Dutteln herauf."

Wegen seines Zeitkolorits wurde der Roman ebenso gerühmt wie für die "überaus treffende Milieu- und Sittenschilderung aus dem Wien der Jahrhundertwende" (Friedrich Torberg). Der Schriftsteller und Sprachtheoretiker Oswald Wiener, ein Anhänger der Kleinschreibung, bezeichnete "Josefine Mutzenbacher" als den "einzigen so genannten pornografischen roman eines deutschsprachigen autors, den man zur weltliteratur rechnen muss".

Wien, als historisch genau markierter Ort, kommt im Roman nur am Rande zur Sprache: Josefines Jugendzeit in Ottakring wird - ohne detaillierte Ortsbeschreibung, übrigens ein Kennzeichen des gesamten Buchs - gleich zu Beginn erwähnt; gegen Ende der Memoiren, Mutzenbacher arbeitet bereits als Hure - lakonischer Kommentar: "Und so begann ich meine Laufbahn" -, bricht sie Richtung Innenstadt auf: "Graben, Stephansplatz, Kärntner Straße usw." Der Roman findet seine anonymen, austauschbaren Handlungsorte in kalten Kellern, zugigen Häusernischen, auf dunklen Stiegenaufgängen und in spartanisch eingerichteten Schlafstätten. Jeder beliebige Ort, sei er noch so unwirtlich, dient der Befriedigung eruptiv auftretender Lendenlust. Die exakteste Lokalisierung, die im Roman zu finden ist, lautet: "In der Schönlaterngasse war ein finsteres altes Haus mit einem engen finsteren Flur." In der Sonnenfelsgasse, in einem Haus mit zartrosa Fassade und diskretem Eingang, nur wenige Meter vom Eingang zur Schönlaterngasse entfernt, ist heute eine "Club-Bar" namens "Josefine" untergebracht. Auf dem herzförmigen Hinweisschild an der Außenseite des Gebäudes ist eine barbusige Frau mit turmhoher, unzeitgemäßer Frisur zu sehen.

"Ich weiß ganz genau, wo und wie die Mutzenbacher einst gelebt hat", sagt dagegen Anna Ehrlich, 64, die seit vier Jahrzehnten Touristen und Einheimische via Themenführungen geschäftsmäßig durch die verschiedenen Aspekte der Stadtgeschichte begleitet. Seit zwanzig Jahren beschäftigt sich Ehrlich intensiv mit der erotischen Vita von der, wie sie gerne sagt, "Peperl". Vor Kurzem ist Ehrlichs Buch "Auf den Spuren der Josefine Mutzenbacher" erschienen, eine locker dahinfabulierte Wiener Sittengeschichte light, von den Römern bis ins 20. Jahrhundert; 1996 hat die Autorin zudem den innerstädtischen Erkundungsgang "Josefine Mutzenbacher - auf den Wegen der Lust im Alten Wien" initiiert: Bis 1963 waren die Gassen und Plätze des ersten Bezirks noch beliebter Huren-Treffpunkt, legendäre Vertreterinnen des Gewerbes waren das "Elefantenweibel", auch "Venus von Kilo" genannt, die "Duttel-Berta", die "Spitzen-Mimi". Viel ist während der zweistündigen Tour de Sex von "Graben-Nymphen", "Hübschlerinnen" sowie vom "Ratz'ngraben" (Rattengraben) die Rede: Der Haarhof, in Gehnähe zum Stephansplatz, diente im 19. Jahrhundert noch als Dirnen- und Freiertreff; seit 1683 ist hier etwa der "Esterházykeller" beheimatet, heute ein gutbürgerliches Wirtshaus, das man über einen kurzen, abschüssigen Tunnel betritt. Einst herrschte an diesem Umschlagplatz der raschen Lustbefriedigung reges Kommen und Gehen. Auf den 27 Steinstufen hinab zum Keller-Treffpunkt war sehr häufig Stöckelschuhknallen zu vernehmen.

"Josefine hat nicht ein-, sondern tausendfach gelebt", imaginiert sich Anna Ehrlich, sichtlich begeistert vom Thema, einen Lebenslauf der Kurtisane: Historie von unten, anekdotenreich verpackt, ist das Metier der Doppeldoktorin. "Mutzenbacher stammt aus den allermiesesten sozialen Verhältnissen. Es ist erschütternd, wenn man bedenkt, dass ein derart tristes Aufwachsen in dieser Stadt noch vor 130, 140 Jahren an der Tagesordnung war. Hätte Josefine etwa Waschfrau werden sollen? Auf eine Laune des Glücks hoffen? Sie hat, eine über alle Maße intelligente, lebensfrohe Frau ohne jedes Selbstmitleid, die Männer in ihrem Sinne gelenkt und sich so Vorteile verschafft. Sie stirbt ja bekanntlich als vermögende Frau." Sie sei, berichtet Josefine Mutzenbacher in ihrer Lebensgeschichte, "nicht im Dreck der Vororte erstickt. (…) Ich habe die Welt gesehen und meinen Gesichtskreis erweitert, und alles das verdanke ich meinem Lebenswandel, den man einen, lasterhaften' nennt."

Die Geschichte der Josefine Mutzenbacher erfuhr übrigens zwei literarische Fortsetzungen: den um 1917 veröffentlichten, von einem bis heute unbekannten Verfasser stammenden Nachfolgeroman "Meine 365 Liebhaber" sowie den nach dem Zweiten Weltkrieg ebenfalls anonym publizierten Text "Peperl Mutzenbacher, die Tochter der berühmten Josefine Mutzenbacher". Der Autor der "Peperl Mutzenbacher" war nicht nur ein Profi der Phrasen und der Plattitüden, sondern auch ein literarischer Machwerker, um dessen Rechenkünste und Recherchefähigkeiten es offenbar nicht zum Besten bestellt war. Im ersten, mutmaßlich von Felix Salten stammenden Teil der Sexsaga (der bisweilen auch der Autorenschaft von Teil zwei verdächtigt wird) ist vermerkt, dass die Prostituierte im Dezember 1904 nach langer Krankheit und schwerer Operation 52-jährig in einem Sanatorium verschieden sei; das Manuskript der Lebensaufzeichnungen habe Mutzenbacher einige Wochen zuvor ihrem Arzt überreicht. Im Vorwort zu "Peperl Mutzenbacher", den Erinnerungen der Tochter, ist fälschlicherweise registriert: "Aber wie Josefine Mutzenbacher dann gegen die vierzig ging, wollte sie plötzlich auch das haben, was fast jede andere Frau auch hat: ein Kind. Sie hat auch ein Kind gekriegt. Nur den ersten Schrei hat sie nicht mehr hören können. Die Fut, die schon so viele Schwänze drinnen gehabt hat, ist bei der Geburt zerrissen. Einen Tag später war die Josefine Mutzenbacher tot."

365 Liebhaber. In den Nachfolgewerken gerät Wien zur Kitschkulisse, zum touristisch-pittoresken Themenpark - es werden Straßen und Gassen, Plätze und urbane Nischen erwähnt und lokale Eindrücke geschildert. Gegen Ende der derzeit lieferbaren Ausgaben von "Meine 365 Liebhaber" findet sich sogar eine sehr genaue Ortsangabe. Josefine, geschäftstüchtig und Vorsorge fürs Altenteil treffend, eröffnet ihr eigenes "Kaffeehaus", eine kaum getarnte Herberge der obszönen Art. Die Dirne lässt zur Einweihung elegante Karten auf rosa Papier drucken: "Auf Sie warten wir schon lang! Künstlerparadies. Wien 1, Trumpfgasse 2. Wein! Weib! Gesang! Kunst!" In der Wiener Stadthistorie ist zu keiner Zeit eine Trumpfgasse verzeichnet. Mutzenbacher-Forscherin Ehrlich erinnert sich an Ausgaben des Romans, in denen anstelle der nicht existenten Trumpfgasse die fiktive Bordell-Adresse "Wien 1, Kumpfgasse 2" lautete - die entsprechende Straße in der Innenstadt verbindet die Singerstraße mit der Schulerstraße. "Wahrscheinlich haben sich", grübelt Ehrlich über den überraschenden Namenswechsel nach, "die Anrainer irgendwann aufgeregt, weil sie nicht länger mit dem Roman in Verbindung gebracht werden wollten."

Josefine-Weg

Adressen und Hinweise.

Esterházykeller

Haarhof 1, 1010 Wien (Nähe Naglergasse)

Mo.-Fr., 11-23, Sa. u. So., 16-23 Uhr

www.esterhazykeller.at

Brunnenmarkt

Mo.-Fr., 6-19.30, Sa., 6-17 Uhr

www.wien.gv.at/ottakring/content/markt.htm

Club-Bar Josefine

Sonnenfelsgasse 9, 1010 Wien

Mo.-Fr., 11-4, Sa. u. Feiertag, 20-4 Uhr

www.josefine.at

Wienführungen Anna Ehrlich

www.wienfuehrung.com

Reise. Die Donaumonarchie, die vor 90 Jahren ihr Ende fand, brachte eine Vielzahl von Schriftstellern und Kaffeehausliteraten hervor, deren Romane und Erzählungen in die Weltliteratur eingegangen sind - darunter so prominente Namen wie Joseph Roth, Hugo von Hofmannsthal, Karl Kraus, Karl Emil Franzos, Ödön von Horváth, Stefan Zweig, Franz Werfel, Arthur Schnitzler, Alfred Polgar, Peter Altenberg und Felix Salten. Zudem sind viele Werke der bedeutendsten Nachkriegsautoren untrennbar mit dem habsburgischen Mythos verknüpft - etwa Robert Musils in Etappen veröffentlichter Romantorso "Der Mann ohne Eigenschaften" (1930-1952), Heimito von Doderers narratives Großprojekt "Die Strudlhofstiege" (1951) und Gregor von Rezzoris Stadtroman "Ein Hermelin in Tschernopol" (1958). profil begibt sich in einer mehrteiligen Serie auf Spurensuche nach den Schauplätzen zentraler literarischer Arbeiten jener Zeit.

Wolfgang   Paterno

Wolfgang Paterno

ist seit 2005 profil-Redakteur.