Interview

Robert Brieger: Neutralitäts-Debatte "ist fast nicht zu vermeiden"

Robert Brieger, höchster Offizier in der EU, Ex-Generalstabschef des Bundesheeres mahnt mehr Ehrlichkeit vom Militär ein

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Es wäre ein Fehler, die Sanktionen gegen Russland jetzt zu relativieren. Das argumentiert Robert Brieger, höchster Offizier in der EU, Ex-Generalstabschef des Bundesheeres. Er mahnt mehr Ehrlichkeit vom Militär ein: Wenn man nur vom Katastrophenschutz rede, verliere man die Kernaufgabe des Heeres aus den Augen.

Herr General, wir werden gleich länger über Krisen sprechen. Blicken Sie aber zumindest langfristig optimistisch in die Zukunft?
Brieger
Wir versuchen als Profis, die Dinge realistisch zu betrachten. Insgesamt ist das geopolitische und militärstrategische Lagebild besorgniserregend. In den letzten zehn bis 15 Jahren haben sich die Krisen und Bedrohungen stark vermehrt.
Das klingt nicht optimistisch.
Brieger
Ja. Ein realistischer, verantwortungsvoller Ansatz ist für alle Entscheidungsträger empfehlenswert.
Sie sagten zuletzt, dass der Krieg in der Ukraine wohl noch ein Jahr dauern wird. Müssen Sie diese Prognose nach der jüngsten Gegenoffensive der Ukraine revidieren?
Brieger
Russland hat noch nicht alle Karten ausgespielt, eine Fortsetzung des Krieges über die nächsten Monate bleibt also sehr wahrscheinlich. Aber die Ukraine hat mit ihren Gegenangriffen bemerkenswerte Erfolge erzielt. Wegen der massiven westlichen Unterstützung und wohl auch aufgrund sehr präziser nachrichtendienstlicher Informationen.
Wie entscheidend wird denn der Winter für den Krieg?
Brieger
Der Winter ist bei kriegerischen Auseinandersetzungen häufig eine Zeit, in der Bewegungen zum Stillstand kommen. Es wird für die Ukraine um die Durchhaltefähigkeit gehen.
Der Winter wird die russische Seite aber nicht schwächen?
Brieger
Ich meine eher, dass die westlichen Sanktionen die russische Seite langfristig schwächen. Die Ausrüstung der Streitkräfte hängt ja doch teilweise von westlicher Hochtechnologie ab, und der Besitz von Bodenschätzen und die Erschließung neuer Lieferanten im Fernen Osten können das nicht kompensieren.

Robert Brieger, 65

Der General leitet seit vergangenem Mai den Militärausschuss der Europäischen Union und ist damit der höchstrangige Offizier in der EU. In seiner Funktion berät er unter anderem Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Zuvor war Brieger vier Jahre lang Generalstabschef in Österreich unter dem ehemaligen Verteidigungsminister Mario Kunasek (FPÖ) und seiner Nachfolgerin Klaudia Tanner (ÖVP).

Sind also die politischen Zwischenrufe, dass man die Sanktionen hinterfragen müsse, fehl am Platz?
Brieger
Diese Zwischenrufe nutzen nur dem russischen Narrativ. Die Sanktionen sind darauf angelegt, langfristig Wirkung zu entfalten. Natürlich sind auch Opfer in Europa damit verbunden, keine Frage. Aber die Sanktionen jetzt zu relativieren, wäre eine Fehlentscheidung.
Waffenlieferungen sind für die ukrainische Armee essenziell, die Ausbildung wird es demnach auch sein. Es gibt Pläne für eine EU-Ausbildungsmission für ukrainische Soldaten.
Brieger
Diese Pläne sind weit gediehen. Wir sind in Kontakt mit den ukrainischen Streitkräften, die Mission wird voraussichtlich in einem osteuropäischen Mitgliedstaat stattfinden.
Ausgerechnet Österreich war aber der EU-Staat, der am skeptischsten reagiert hat. Verteidigungsministerin Klaudia Tanner ist unsicher, ob die Mission rechtlich umsetzbar ist. Konnten Sie sie überzeugen?
Brieger
Ich weiß, dass die Frau Bundesminister Bedenken angemeldet hat. Aber ich stütze mich hier auf den juristischen Dienst der EU: Demnach ist eine solche Mission innerhalb des Territoriums der EU gestattet, sofern das Ziel - nämlich die Unterstützung der Ukraine-außerhalb der EU liegt. Ich hoffe, dass auch Österreich sich dieser Auffassung anschließen kann.
Kann sich die EU überhaupt selbst verteidigen?
Brieger
Die EU war lange ein Wirtschaftsbündnis, politisch haben sich die Mitglieder gemeinsamen Werten verpflichtet. Die verteidigungspolitische Dimension kam erst später dazu. Die klassische Aufgabenteilung, dass die NATO Europa verteidigt und die EU für Krisenmanagement außerhalb der Union zuständig ist, ist zwar noch gültig, aber das entbindet die europäischen Mitgliedstaaten nicht davon, mehr für die Verteidigung zu tun. Eine zu starke Abhängigkeit von der NATO bringt auch Nachteile.

Wenn Europa als messbare Größe weltpolitisch wahrgenommen werden will, wird es bestimmte Interessen vertreten müssen.

Robert Brieger

Das heißt, die Verteidigungsfähigkeit gibt es derzeit nicht, oder nur mit der NATO.
Brieger
Genau. Letztlich beruht die Abschreckungsfähigkeit Europas darauf, dass wir auf amerikanische Ressourcen zurückgreifen können. Das ist aber kein Automatismus für alle Zeiten, ich erinnere an einen US-Präsidenten, der den NATO-Austritt zumindest in den Raum gestellt hat-Donald Trump. Wenn Europa als messbare Größe weltpolitisch wahrgenommen werden will, wird es bestimmte Interessen vertreten müssen, auch unabhängig von der atlantischen Partnerschaft.
Als Generalstabschef nannten sie europäische Streitkräfte als Fernziel. Bleiben Sie dabei, auch wenn bald 23 EU-Staaten der NATO angehören werden?
Brieger
Wie integrativ die nächsten Schritte gesetzt werden, ist sehr stark von der politischen Entwicklung der nächsten Jahre und Jahrzehnte abhängig. Aber ja: Ich glaube, dass dieses Fernziel, das übrigens auch der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell mehrfach erwähnt hat, durchaus im Auge behalten werden sollte.
Meinen Sie mit integrativ, dass noch mehr kooperiert wird?
Brieger
Durchaus, und dass auch die Entscheidungsprozesse kurz und straff gehalten werden sollten. Ich weiß, das ist ein schwieriges Thema, es geht immer um den Konsens von 27.
Straff-aber nach wie vor einstimmig?
Brieger
Das ist eine politische Entscheidung, aber es wird wohl in dieser Dimension zu denken sein. Als militärischer Berater kann ich nur sagen, dass es wünschenswert ist, dass bestimmte Entscheidungen schnell getroffen werden. Dass es politisch eines Konsenses bedarf und vielleicht auch einer Abkehr von Partikularinteressen, das ist mir völlig klar.
Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz will gemeinsam mit europäischen Nachbarn ein neues Luftverteidigungssystem aufbauen. Wäre das einer dieser integrativen Schritte?
Brieger
Die gemeinsame Luftverteidigung ist zunächst einmal eine politische Initiative, die Details werden noch auszuarbeiten sein. Aber alles, was zu einer Vereinheitlichung der europäischen Verteidigungsanstrengungen führt, ist der Sache dienlich. Die EU hat ja zusammengenommen eines der größten Verteidigungsbudgets dieses Planeten, ohne aber einen Wirkungsgrad wie einzelne Staaten, etwa die USA oder China, zu erzielen.
Österreich braucht bis 2035 eine Nachfolge für die Eurofighter. Könnte man eine europäische Lösung oder Zusammenarbeit andenken-beim Ankauf oder in anderer Form?
Brieger
Ich weiß noch aus meiner Zeit als Generalstabschef, dass solche Ideen zumindest diskutiert wurden. Dann wurde es eine politische Frage, ob es mit der Neutralität vereinbar ist. Das müssen die zuständigen Instanzen entscheiden. Aber es wäre natürlich kostengünstig, weil es eine Lastenteilung mit sich bringt.
Und es wäre nicht unmöglich?
Brieger
Ich hielte es für möglich-technisch auf jeden Fall.
Es könnte so weit gehen, dass Österreich viel stärker bei der aktiven Luftraumüberwachung kooperiert?
Brieger
Vorausgesetzt, der politische Wille ist gegeben: yes.

Wir haben zu stark versucht, uns einer gewissen naiven Friedenssehnsucht anzunähern, und haben dadurch militärische Begriffe aufgeweicht.

Robert Brieger

"Wir Militärs haben es nicht vermocht, in der Zivilgesellschaft anzukommen und unsere Bedürfnisse in einer klaren Sprache zu artikulieren",sagten Sie als Generalstabschef. Rächt sich das jetzt?
Brieger
Ja, es rächt sich. Wir haben zu stark versucht, uns einer gewissen naiven Friedenssehnsucht anzunähern, und haben dadurch militärische Begriffe aufgeweicht. Begriffe wie Krieg, Verteidigung waren von vornherein toxisch, wenngleich wir tagtäglich erfahren, dass es eben Situationen geben kann, die einem Land oder einem Bündnis derartige Maßnahmen auferlegen. Wir haben hier Nachholbedarf, insbesondere in Österreich.
Inwiefern?
Brieger
Um ein Beispiel zu nennen: Wir haben ein Kampfflugzeug ein Luftraumüberwachungs-Flugzeug genannt. All das ist für militärische Experten eher seltsam. Aber ich muss hier die Verantwortung an die Fachleute zurückgeben: Wir haben im Versuch, möglichst sympathisch und integrativ in die Gesellschaft zu wirken, die Kernaufgabe ein wenig aus den Augen verloren. Wir müssen unser Narrativ neu definieren und besser vermitteln.
Ist die Politik bei diesem Wir mitgemeint? Auch für sie war es einfacher, einen neuen Hubschrauber-Kauf mit dem Katastrophenschutz zu argumentieren, nicht mit dem Militär.
Brieger
Wir müssen auch der Politik gegenüber offen die Probleme ansprechen. Wir sind angehalten, unsere Anschaffungen für die militärische Verteidigung zu tätigen. Es ist am ehrlichsten, diese Dinge beim Namen zu nennen.
Gehen wir aus militärischer Sicht vom Best-Case-Szenario aus: Das Heer bekommt langfristig 1,5 Prozent des BIP, am Rüstungsmarkt gibt es das passende Gerät. Ab wann könnte sich Österreich verteidigen?
Brieger
Als ich noch Generalstabschef war, haben wir entsprechende Pläne entwickelt. Mit 1,5 Prozent des BIP wäre eine begrenzte Fähigkeit innerhalb der nächsten zehn Jahre erreichbar. Aber vorwiegend gegen nichtkonventionelle Angriffe beziehungsweise hybride Bedrohungen. Für eine Verteidigung wie jetzt in der Ukraine reichen 1,5 Prozent nicht. Dafür bräuchte es die allseits bekannte Marke von zwei Prozent.
Und verpflichtende Milizübungen, wie Sie es ja schon einmal gefordert haben?
Brieger
Ich möchte mich nicht zu sehr in innenpolitische Diskussionen einmischen. Ich habe aber in meiner Haltung keine Änderung vorgenommen. Reserven und Milizverbände sind dann einsatzbereit, wenn sie regelmäßig üben.
Die Schweiz diskutiert breit darüber, wie sie ihre Neutralität neu definieren soll. In Österreich gibt es die Debatte nicht. Finden Sie das schade?
Brieger
Es hat ja eine solche Debatte gegeben, ausgelöst durch einen Brief von verschiedenen Persönlichkeiten an den Bundespräsidenten. Der Bundeskanzler hat vorweg die Debatte für beendet erklärt. Mittelfristig wird es wieder zu Diskussionen kommen, das ist in der derzeitigen Lage fast nicht zu vermeiden. Ich möchte zu dieser Diskussion nichts beitragen. Ich glaube nur, sie wird auch ohne meine Wortspenden weitergehen
Gibt es eine geopolitische Krise, die nicht so viel Aufmerksamkeit bekommt, wie sie es sollte?
Brieger
Es gibt mehrere, ich erinnere nur an den Taiwan-Konflikt. China verfolgt hier langfristig Ambitionen. Ob nun die Absicht besteht, die Bindung des Westens in anderen Weltgegenden auszunutzen, vermag ich nicht zu beurteilen. Aber die Gefahr, dass eine Eskalation stattfindet, ist latent vorhanden. Und ich erinnere an die vielen Krisenherde in Afrika, wo immer mehr nichtdemokratische Akteure an Einfluss gewinnen. Also insgesamt ist das alles doch eher besorgniserregend.
Und welchen Schluss kann man daraus ziehen?
Brieger
Ich zitiere eine alte Weisheit: Si vis pacem para bellum-Wenn du Frieden willst, bereite den Krieg vor. Wenn man eine freiheitlich demokratische Gemeinschaft schätzt, dann sollte man über eine starke europäische Komponente verfügen, um sie notfalls schützen zu können.
Iris Bonavida

Iris Bonavida

ist seit September 2022 als Innenpolitik-Redakteurin bei profil. Davor war sie bei der Tageszeitung "Die Presse" tätig.