„Das Justizsystem funktioniert nicht mehr“

„Das Justizsystem der Türkei funktioniert nicht mehr“

Veysel Ok, Verteidiger des Journalisten Deniz Yücel, über lebenslange Haftstrafen in der Türkei.

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Interview: Otmar Lahodynsky

profil: Ihr Mandant, der „Welt“-Korrespondent Deniz Yücel, erhielt am Tag seiner Freilassung aus der Haft die Anklageschrift zugestellt. Was wird ihm vorgeworfen? Ok: Nach einem Jahr, das er im Gefängnis verbrachte, haben wir endlich die Anklageschrift bekommen. Bis dahin wussten wir nicht, warum Deniz überhaupt inhaftiert worden war. Jetzt steht fest: Es sind nur Artikel, die er für deutsche Zeitungen verfasst hat – über verschiedene Ereignisse in der Türkei, etwa das Kurdenproblem und diverse politische Ereignisse. Und deswegen wird ihm Unterstützung für eine Terrororganisation vorgeworfen. Das ist absurd! profil: Es drohen ihm bis zu 18 Jahre Gefängnis. Ok: Ja, obwohl er nur als Journalist gearbeitet hat. Wir haben deswegen beim Europäischen Menschenrechtsgerichtshof Beschwerde erhoben. Ihr haben sich zwölf internationale Organisationen und auch die deutsche Regierung angeschlossen. Immer noch sitzen mehr als 100 andere Journalisten wegen von ihnen verfasster Artikel in Haft.

profil: Wann rechnen Sie mit einem Gerichtsverfahren gegen Deniz Yücel? Wird es auch in seiner Abwesenheit stattfinden? Ok: Das wissen wir zurzeit noch nicht. Ein Prozess könnte aber noch vor dem Sommer beginnen. profil: Drei andere prominente Journalisten – die Brüder Mehmet und Ahmet Altan und Frau Nazli Ilicak – wurden am Tag der Freilassung Yücels zu lebenslanger Haft verurteilt. Ok: Ich habe sie als Anwalt vertreten und Klagen beim Verfassungsgerichtshof in Ankara und beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg eingebracht. Auch hier sind Artikel und TV-Auftritte die einzigen Beweise für angebliche Straftaten. profil: Den Altan-Brüdern und Ilicak wird Mitwirkung am Militärputsch-Versuch vom 15. Juni 2016 vorgeworfen, etwa durch „unterschwellige Botschaften“. Ok: Das ist ein aberwitziger Vorwurf. Er stützt sich auf den Auftritt der drei Journalisten in einer Talkshow im Fernsehen am Tag vor dem Putschversuch. Mehmet Altan erklärte dort, dass Präsident Erdoğan nicht ewig regieren werde. Daraus leitete das Gericht den Vorwurf ab, mein Mandant müsse vom Militärcoup gewusst haben. Und es gab sonst nur Zeitungsartikel als Beweismaterial, verfasst vor fünf, zehn oder 20 Jahren.

Es gab in der Geschichte der Türkei noch nie eine so krasse Einschränkung der Meinungsfreiheit wie heute.

profil: Und das reicht für lebenslange Haftstrafen? Ok: In der Türkei reicht dies derzeit offenbar schon für die Anklage, diese Journalisten hätten am Militärcoup mitgewirkt. Das ist unglaublich. Ahmet Altan ist seit 40 Jahren Journalist und Schriftsteller. Er hat immer kritisch über Regierungen in der Türkei geschrieben, über das Kurdenproblem oder die Verfolgung der Armenier. Er ist ein liberaler Intellektueller. profil: Warf man den Angeklagten auch Mitgliedschaft in der islamistischen Gülen-Bewegung vor? Ok: Nicht Mitgliedschaft, aber Unterstützung. profil: Dem inhaftierten Journalisten Ahmet Sik, der schon vor Jahren ein kritisches Buch über die Netzwerke der Gülen-Bewegung geschrieben hat, wird ebenfalls Unterstützung von Gülen vorgeworfen. Ok: Daran erkennt man die Absurdität dieser Anklage. Aber auch er sitzt schon seit über einem Jahr im Gefängnis. Es sind die gleichen Vorwürfe wie bei Deniz Yücel. Es gab in der Geschichte der Türkei noch nie eine so krasse Einschränkung der Meinungsfreiheit wie heute. Die Regierung stützt sich seit dem gescheiterten Putschversuch auf Notstandsverordnungen.

profil: Der türkische Verfassungsgerichtshof forderte im Jänner die Freilassung von Mehmet Altan und Sahin Alpay, weil die Pressefreiheit und deren Rechte durch die lange Untersuchungshaft verletzt wurden. Ein niederrangiges Strafgericht in Istanbul hat diesen Beschluss des Verfassungsgerichtshofs einfach nicht umgesetzt. Die Höchstrichter hätten ihre Kompetenzen überschritten, hieß es. Ok: Im türkischen Rechtssystem müssen Entscheidungen des Verfassungsgerichts von allen Gerichten befolgt werden. Es handelt sich also um einen klaren Rechtsbruch. profil: Ist die Türkei überhaupt noch ein Rechtsstaat mit einer unabhängigen Justiz? Ok: Sie müsste es sein. Denn wenn die Türkei Mitglied im Europarat ist, müsste sie auch die Menschenrechtskonvention einhalten – und wenn sie das nicht tut, eigentlich aus dem Europarat austreten.

Man kann für eine Meinungsäußerung viele Jahre oder gar lebenslang ins Gefängnis kommen.

profil: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg hat bisher noch keine einzige aktuelle Beschwerde von verhafteten türkischen Journalisten abschließend behandelt. Warum wird dort so schleppend agiert? Ok: Es hieß, man wolle die Urteile des türkischen Verfassungsgerichtshofes abwarten. Seit einem Monat gibt es ein Urteil zur Freilassung zweier Häftlinge. Der Ball liegt nun also beim Menschenrechtsgerichtshof. Aber wir warten immer noch vergeblich auf ein Urteil aus Straßburg. Der Gerichtshof ist die letzte Bastion für die Verteidigung der Meinungs- und Pressefreiheit. Daher hat uns das langsame Agieren sehr enttäuscht. Der EGMR wusste, dass es Verurteilungen geben wird. Trotzdem hat er bisher keine Entscheidung getroffen. Das wird schlimme Folgen für die Journalisten in der Türkei haben. profil: Aus Straßburg heißt es immer, dass zuerst der Instanzenweg in der Türkei abgewartet werden müsse. Ok: Ja, aber es gibt ein Urteil des türkischen Verfassungsgerichtshofs, das von türkischen Gerichten nicht beachtet wird. Das heißt, das Justizsystem der Türkei ist blockiert und funktioniert nicht mehr. Man kann für eine Meinungsäußerung viele Jahre oder gar lebenslang ins Gefängnis kommen.

profil: Viele Häftlinge warten seit mehr als einem Jahr auf eine Anklageschrift. Es gibt Berichte, dass die Justizbehörden nun – um Zeit zu sparen – einfach Teile einer Anklageschrift für andere übernehmen. Ok: In vielen Anklageschriften haben wir ein solches „Copy-Paste“-Verfahren bemerkt. Zum Beispiel tauchte in der Anklageschrift für Herrn Altan der Name des ebenfalls angeklagten Journalisten Sahin Alpay auf. In der Anklageschrift für Ahmet Altan, für den 52 Jahre Haft gefordert werden, fand ich den Namen von Can Dündar (ehemaliger Chefredakteur der Zeitung „Cumhuriyet“, der nun in Deutschland lebt, Anm.). Die Justizbehörden vergessen manchmal sogar, Namen aus anderen Verfahren zu löschen. profil: Sollte die EU stärker für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in der Türkei eintreten? Ok: Ersparen Sie mir bitte eine Antwort zur EU. Aber es gibt auch innerhalb der EU Probleme mit der Justiz, etwa in Ungarn oder Polen.