Philosoph Konrad Paul Liessmann

Liessmann: "Jetzt können wir uns nicht entgehen"

Der Philosoph Konrad Paul Liessmann über Krisenhilfe durch Stoiker, die kreative Macht der Einsamkeit und das Ende der Zerstreuungskultur.

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Interview: Angelika Hager

profil: Bei welcher philosophischen Richtung findet man im gegenwärtigen Ausnahmezustand Trost? Liessmann: "Der Trost der Philosophie" heißt tatsächlich ein Werk von Boethius, der in der Spätantike als Berater des Gotenkönigs Theoderich in Ungnade gefallen war und im Kerker, wo er auf seine Hinrichtung wartete, den fiktiven Dialog eines Menschen in Not mit der Philosophie, die als Frau erscheint, verfasste. Interessanterweise suchte Boethius, der schon Christ war, in seinen letzten Stunden nicht in der Religion Trost, sondern in der Philosophie.

profil: Und was genau hat die Philosophie in dieser Extremsituation als Schmerzlinderung anzubieten? Liessmann: Die Philosophie erklärt Boethius, dass er gerade jetzt erkennen könne, wie schnell sich die Wertigkeiten wandeln, und dass vergängliche Dinge wie Macht, Ruhm, Besitz, aber auch Gesundheit kein Garant für das Glück sein können. Das ist ganz im Sinne der antiken Stoiker. Die Philosophen der Stunde sind sicher die Stoiker mit ihrem Konzept, Dinge, die man nicht halten kann, loszulassen und die Freiheit im Inneren, im Denken und nicht in der physischen Bewegungsfreiheit zu sehen. Wir werden jetzt alle die Erfahrung machen, dass sich Stärke nicht durch die Summe der äußeren Güter und sozialen Beziehungen manifestiert, sondern durch den inneren Reichtum.

Einige enge Beziehungen, auf die die Menschen in der Isolation zurückgeworfen sind, werden sicher in die Brüche gehen

profil: Aber gerade jetzt, wo sich jeder in Isolation befindet und maximal auf den Partner- oder Familienverband beschränkt ist, wären äußere soziale Beziehungen doch besonders wichtig! Liessmann: Ich meinte damit sinnlich gelebte soziale Beziehungen, das, was die "Seitenblicke"-Gesellschaft auszeichnete: sehen und gesehen werden, Partys, Events, Kongresse. Es ist erfreulich, dass vieles auf einer virtuellen Ebene ausgetragen werden kann, aber diese Art von Kompensation wird nicht lange anhalten. Einige enge Beziehungen, auf die die Menschen in der Isolation zurückgeworfen sind, werden sicher in die Brüche gehen. In Extremsituationen treten soziale Konturen stark hervor, die im herkömmlichen Alltag überspielt werden. Und da kommen wir wieder zu den Philosophen der Stunde, den Stoikern. Sie lehrten, dass man sich bei allen Beziehungen - egal ob Partnerschaft oder Freundschaft - darüber im Klaren sein muss, dass sie dann gefährdet sein können, wenn wir keinen souveränen Umgang damit pflegen. Ein Beispiel: Ich kann niemanden dazu zwingen, mit mir zu telefonieren, wenn derjenige das nicht möchte.

profil: Häusliche Gewalt wird in der Krise zunehmen. Eine ganz andere zerstörerische Macht besitzt der beziehungsfreie Raum, die Einsamkeit. Liessmann: Es gibt viele Menschen, die - freiwillig oder gezwungen - allein leben und jetzt in einem Ausmaß sich selbst ausgesetzt sind, wie wir es in der modernen Welt noch nicht erlebt haben.

Denken muss man letztlich immer allein

profil: Eine Definition der Philosophie lautet: "Zwiesprache mit sich selbst". Von Diogenes, der sich in seinem Fass in freiwillige Isolation begab, bis zu Michel de Montaigne und seinem wunderschönen Essay "Über die Einsamkeit" scheint der Rückzug eine Voraussetzung für gutes Denken zu sein. Liessmann: Ich warne davor, Philosophen und ihre Beziehung zur Einsamkeit zu romantisieren. Viele Denker gründeten Schulen und suchten den Dialog und die Kontroverse. Andere sahen die Einsamkeit aber tatsächlich als existenzielle Voraussetzung für radikale Selbsterforschung - ich denke dabei auch an Friedrich Nietzsche. Zurückgezogenheit ist generell wichtig für konzentrierte Reflexion. Denken muss man letztlich immer allein. Ein Philosoph, der uns dazu viel zu sagen hat, ist Søren Kierkegaard.

profil: Weil er das Buch "Der Begriff Angst" schrieb? Liessmann: In diesem Fall empfehle ich aus seinem Werk "Entweder - Oder" die wunderbare kleine Abhandlung "Die Wechselwirtschaft". Darin zeigt Kierkegaard, wie man sich zerstreuen kann, wenn es keine Möglichkeit zur Zerstreuung mehr gibt. In einer ähnlichen Situation befinden wir uns gerade. Kierkegaard mokierte sich schon im frühen 19. Jahrhundert über jene Menschen, die ständig vor sich selbst fliehen, dauernd reisen und sich wie besessen in jede Art von Vergnügung stürzen, nur um sich nicht selbst begegnen zu müssen. Solche Menschen, so Kierkegaard, der ein scharfer Beobachter war, begreifen nicht, dass sie sich selbst bei all diesen Fluchtversuchen immer mitnehmen.

Die beste Zerstreuung kommt laut Kierkegaard nicht von außen, sondern von innen

profil: Die Chance zur Selbsterkenntnis wird durch die vielen virtuellen Zerstreuungsmöglichkeiten möglicherweise blockiert. Liessmann: Auch der virtuelle Raum hat seine Grenzen. Die beste Zerstreuung kommt laut Kierkegaard nicht von außen, sondern von innen. Er schildert einen Gefangenen im Kerker, der neben vielem anderen auch an tödlicher Langeweile leidet. In seine Zelle hat sich eine Spinne verirrt. Er beginnt, diese Spinne zu beobachten, wobei ihr Verhalten für ihn zu einem großen Abenteuer wird, spannender als jeder Krimi. Wir haben bis jetzt in der Erlebnisgesellschaft mit dem großen Angebot einer florierenden Ablenkungsindustrie gelebt. Aber jetzt können wir uns nicht entgehen.

profil: Statt Spinnenbeobachtung also Kierkegaard und Stoiker lesen? Liessmann: Nicht statt Spinnenbeobachtung. Denn der Witz bei Kierkegaard besteht ja darin, den Reiz der unscheinbaren Dinge, denen wir jetzt in unseren vier Wänden auf Wochen ausgesetzt sein werden, zu erkennen. Und wenn es ums Lesen geht: Montaigne bitte nicht vergessen! Von den Stoikern empfehle ich das "Handbüchlein der Moral" von Epiktet, das mit dem grandiosen Satz beginnt: "Das eine steht in unserer Macht, das andere nicht." Und natürlich Seneca. Von den Stoikern lernen wir, dass wir unser Herz nicht an Dinge hängen sollten, die uns jederzeit genommen werden können. Das ist eine harte Schule.

profil: Wird die Gesellschaft nach Corona eine bessere werden? Ein Essay des Zukunftsforschers Matthias Horx, in dem er diese Behauptung aufstellt, wurde zigfach in den sozialen Medien geteilt. Liessmann: Da hege ich meine Zweifel.

profil: Weil der Mensch so schnell in Verdrängungsbereitschaft verfällt? Liessmann: Ja. Und es ist generell verfrüht, sich jetzt einen fundamentalen Wandel zu erhoffen. Und da die Familie dieser Viren der Wissenschaft bekannt ist, können wir hoffen, dass die Medizin das Problem in absehbarer Zeit in den Griff bekommen wird. Ob das jetzt ein halbes oder drei Jahre dauern wird: Beides ist für eine nachhaltige gesellschaftspolitische Wandlung kein entscheidender Zeitraum.

Krisen provozieren immer beides: das Beste und das Böseste im Menschen

profil: Aber hat die neue Welle von Solidarität und Nachbarschaftshilfe nicht auch etwas sehr Tröstliches? Liessmann: Ja. Und bei aller Liebe zur Philosophie liegt wohl genau darin der eigentliche Trost. Krisen provozieren immer beides: das Beste und das Böseste im Menschen. Neben Empathie und Hilfsbereitschaft gibt es Schwarzmärkte und Internetbetrug. Politische Profiteure benutzen die virale Bedrohung, um die Demokratie prinzipiell auszuhebeln, wie wir nicht nur in in Ungarn sehen. Auch die Andeutung des österreichischen Gesundheitsministers, den Ausnahmezustand und die Rücknahme bestimmter Freiheiten für die Bewältigung der Klimakrise beizubehalten, gehört zu den mehr als bedenklichen Aspekten dieser Entwicklung. Da sollten alle Alarmglocken schrillen.

profil: Würde Imanuel Kant nicht durchdrehen angesichts all dieser Freiheitsbeschränkungen des Individuums? Liessmann: Nein, denn diese Bestimmungen sind zum Schutz aller. Da greift der kategorische Imperativ, der besagt, dass es keine Ausnahmen gibt. Für Kant wäre das in Ordnung, weil alle sich einer vernünftigen Maxime unterwerfen. Und für Kant, der allein lebte und aus Königsberg nicht hinausgekommen ist, lag die wahre Freiheit immer schon im Denken, nicht in der physischen Mobilität.

KONRAD PAUL LIESSMANN, 66, gilt als Popstar unter Österreichs Philosophen. Er leitete den Lehrgang "Philosophische Praxis" an der Universität Wien und bekleidet dort bis heute eine Professur für Methoden der Vermittlung von Philosophie und Ethik. Liessmann ist Autor zahlreicher Bücher, zuletzt (gemeinsam mit Michael Köhlmeier)"Der werfe den ersten Stein: Mythologisch-philosophische Verdammungen" und Essays zur Kunst des Schreibens: "Das alles sind bösartige Übertreibungen und Unterstellungen".

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Angelika   Hager

Angelika Hager

leitet das Gesellschafts-Ressort