Migrationsforscher Perchinig: "Vermehrt gesteuerte Einwanderung"

Migrationsforscher Bernhard Perchinig über die Zukunft der Mobilität in Europa.

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Europas Staaten setzen auf ganz unterschiedliche Mittel, um die Wirtschaft wieder in Schwung zu bringen. Ohne grenzüberschreitende Mobilität wird das nicht gelingen - doch gerade sie droht in der Corona-Pandemie auf der Strecke zu bleiben. Lesen Sie die ganze Geschichte im aktuellen profil.

profil: Wie steht es um die europäische Reisefreiheit in der Pandemie? Perchinig: Ich rechne damit, dass die Grenzen auf dem Kontinent in den nächsten Monaten je nach Corona-Daten und Interessenslagen auf und zu gehen, Pendlermobilität und Entsendungen von Arbeitskräften zurückgehen und stattdessen die langfristige Migration zunimmt. Arbeitskräfte etwa aus Südosteuropa, die nicht nach Hause fahren können, werden sich vielleicht überlegen, mit ihren Familien herzuziehen.

profil: Chile will einen Immunitätspass einführen. Einige EU-Staaten wälzten ähnliche Pläne, verwarfen sie aber nach heftiger Kritik. Wo liegt das Problem? Perchinig: Man weiß noch nicht, ob und wie lange Menschen nach einer Covid 19-Infektion geschützt sind. Davon abgesehen setzt ein Immunitätspass falsche Anreize: Arbeitsmigranten, die typischerweise zwischen 20 und 40 sind, könnten versucht sein, sich absichtlich anzustecken. Auch Korruption und gefälschte Dokumente wären zu befürchten. Besser wäre aus meiner Sicht eine regional differenzierte Steuerung. So könnte jemand aus einer Gegend mit geringen Infektionsraten eine höhere Bewegungsfreiheit erhalten als jemand aus einem Hotspot. Der Einzelne profitiert, wenn das Virus in der Region unter Kontrolle ist. Das motiviert dazu, sich an die Regeln zur öffentlichen Bekämpfung der Pandemie zu halten.

profil: Wie soll das praktisch gehen? Perchinig: Deutschland und Frankreich haben begonnen, die Vorgaben auf dem Land lockerer zu gestalten als in Ballungszentren, wo es weniger Platz gibt und Social Distancing generell schwieriger ist. Für eine europaweite Umsetzung braucht es natürlich einheitliche Vorgaben, was "grüne" und "rote" Zonen sind, und eine europäische Tracing-App, zu der alle relevanten Behörden Zugang haben, damit im Fall einer Ansteckung grenzüberschreitende Kontakte zurückverfolgt werden können. Wir müssten also über eine Europäisierung des Gesundheitswesen reden.

profil: In diesem Modell zahlen Gesunde drauf, die das Pech haben, in einem coronageplagten Gebiet zu wohnen. Perchinig: Diesem Problem begegnet man heute schon mit Tests, die nicht älter als vier Tage sind. Wer nachweislich gesund ist, darf reisen. Die europäische Mobilität wird jedenfalls stärker an Gesundheitsdaten gekoppelt und sowohl durch Tests als auch Quarantäne teurer. Bis eine Impfung oder ein Medikament vorliegt, wird sich daran wenig ändern.

profil: Es gibt derzeit fast 600.000 Arbeitslose. Braucht Österreich überhaupt Pflegekräfte und Erntehelfer aus dem Ausland? Perchinig: Heimhilfen benötigen eine Ausbildung. Man kann Arbeitslose nicht von heute auf morgen umschulen. Selbst Erntehelfer müssen gewisse Fähigkeiten mitbringen. Kurz und mittelfristig wird die Dynamik in Europa eher dahin gehen, die Reisefreiheit - mit regionalen Differenzierungen und Contact-Tracing - wiederherzustellen. Migration aus Drittstaaten hingegen gerät vermutlich noch stärker unter Kontrolle. Nordafrikanische Länder, aber auch Pakistan, Afghanistan, Iran oder Irak bemühen sich um legale Wege nach Europa. Es gibt Pilotprojekte und Programme, teilweise eingebettet in die Entwicklungszusammenarbeit. Es wäre kurzsichtig, diese Brücken abzubrechen. Die Krise geht vorbei. Europa wird künftig vermehrt eine gemeinsam mit den Herkunftsländern gesteuerte Einwanderung brauchen.

Edith   Meinhart

Edith Meinhart

ist seit 1998 in der profil Innenpolitik. Schreibt über soziale Bewegungen, Migration, Bildung, Menschenrechte und sonst auch noch einiges