Unmutsverschuldung

Kuriose Altpapier-Artefakte des österreichischen Gerichtsalltags

Justiz. Die Sammlung Oswald lässt tief in den Gerichtsalltag blicken und bringt mitunter Kurioses zu Tage

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Was es braucht, um dem Justizapparat Beine zu machen? Unbefugte Untermieter. Am 22. Mai dieses Jahres langte in der Mailbox der "Hausaufsicht" des Landesgerichts für Strafsachen Wien die alarmierende Mitteilung eines Justizbediensteten ein: "Mir wurde soeben gemeldet, dass in der WC-Anlage gegenüber Zimmer 3508 eine Kakerlake gefunden wurde."

Gerade einmal zwei Stunden später leitete die Hausaufsicht das E-Mail intern weiter. "Bitte entsenden Sie so schnell als (sic!) möglich den Schädlingsbekämpfer, denn auch ich habe heute eines dieser Viecher in unmittelbarer Nähe des Altpapierhofes gesichtet." Der Kammerjäger ließ sich allem Anschein nach nicht lange bitten: Ein Ausdruck der E-Mail-Korrespondenz trägt den handschriftlichen Vermerk: "Mo. 26.5.14., 14.00-14.30, WC Zi. 3508, Altp.hof".

Das Dokument landete später ebenso im Altpapier wie zahllose andere. Artefakte des Gerichtsalltags, die kleine Geschichten erzählen. Eine Rechnung zu "Naildesign Zubehör" über 21,42 Euro zum Beispiel; eine Verpackung "Profissimo Universal Düngestäbchen"; Wochenmenükarten des hauseigenen Justizcafés (Donnerstag 31. Juli 2014: "Cevapcici mit Letscho"); lose Kalenderblätter; Post-its mit Stichwörtern ("Vollmacht eingegangen"; "Standblattbereinigung";"RAK kontaktieren"); Tageszeitungen (wobei auffällt, dass "Heute" im Grauen Haus öfter entsorgt wird als andere Medien); Zigarettenstummel; Cent-Münzen. Daneben, wie selbstverständlich, junge Fallakten randvoll mit personenbezogenen Daten, die teils völlig unversehrt entsorgt wurden. In zumindest einem Fall wurde eine laufende Polizeiaktion dadurch ernsthaft gefährdet. Eine - sehr kleine - Auswahl:

Ein mit 27. Mai 2014 datierter Strafantrag der Staatsanwaltschaft Wien gegen den (bis dahin) nicht identifizierten Untersuchungshäftling "01", arretiert bei einer Demo gegen eine "Identitären"-Kundgebung am 17. Mai in Wien. Der "aufgrund seines Dialektes" mutmaßliche Deutsche "über 21", sein Foto ist dem Strafantrag beigelegt, soll einen Polizeibeamten "mit Gewalt an einer Amtshandlung zu hindern versucht" haben, "indem er mit seinen Händen um sich schlug und sodann RvI (Anm. Revierinspektor) Peter S. in seine Genitalien zwickte, wobei es nur deshalb beim Versuch blieb, da RvI Peter S. trotz der Angriffe die Festnahme gelang."

Eine gerichtlich bewilligte Anordnung der Staatsanwaltschaft Wien vom 29. Juli 2014 (Adressat: das Landeskriminalamt Außenstelle-West) zur "Verlängerung" der Überwachung des Mobiltelefons eines mutmaßlichen Serieneinbrechers für den Zeitraum "31.7.2014, 00.00 Uhr bis 31.08.2014, 24.00 Uhr" Es ist längst nicht die einzige Anordnung dieser Art, die vollständig weggeworfen wurde. Und das zu einem Zeitpunkt, da die Observation noch lief.

E-Mail-Korrespondenz zwischen Gerichtspräsidium und Staatsanwälten vom August des Vorjahres bezüglich der Beschleunigung von "Marihuana"-Verfahren. "Den Vorstoß Richtung Schnellverfahren kann ich nur unterstützen", schreibt darin ein Staatsanwalt an Gerichtspräsident Friedrich Forsthuber. "Ich bin mir nicht sicher, ob ich das nicht vor längerem auch schon bei Christian Pilnacek angeregt habe, es ist mir jedenfalls nicht mehr in Erinnerung, dass er besonders begeistert gewesen wäre." Pilnacek ist als Leiter der Strafrechtssektion einer der wichtigsten Beamten im Justizministerium.

Eine mit 14. Mai 2014 datierte (und vom Landesgericht genehmigte) "Anordnung der Durchsuchung" einer Privatwohnung in Zusammenhang mit einem prominenten Betrugsfall. Damit verbunden:

Ein "Rechtshilfeersuchen in Strafsachen" an die Adresse der niederländischen Justiz vom 5. Juni 2014.

Teile eines Sachverständigengutachtens zu Ermittlungen gegen die Führungskraft eines teilstaatlichen Konzerns, datiert mit 30. Jänner 2014 - auch dies ein sehr interessanter Fall.

Eine von der StA vorgenommene "Zusammenfassung" eines Sachverständigengutachtens im Fall Mirko Kovats, "Stand 30. April 2014".

Montag vergangener Woche vermeldete das Bundeskriminalamt einen Schlag gegen die Organisierte Kriminalität. In zweijähriger Zusammenarbeit mit Behörden aus Großbritannien, Frankreich und Spanien wurde eine international tätige Gruppierung ausgehoben, die mit gefälschtem Viagra Millionen gedreht haben soll. Es hat nicht viel gefehlt -und "Operation Vigorali" hätte in einem Desaster geendet. Weil die Staatsanwaltschaft Wien eine an die fünf Bankenfachverbände adressierte "Anordnung der Auskunft über Bankkonten", datiert mit 5. August 2014 (vom LG genehmigt am 6. August), vollständig im Altpapier entsorgt hatte. In dem 25-seitigen Dokument werden die Namen von 17 Verdächtigen genannt; dazu die gesamte Geschichte des Falls und vorläufige Ermittlungsergebnisse einschließlich detaillierter Observationsberichte.

Nachdem der Finder Marcus Oswald - er hat nun selbst Ärger mit der Justiz -das Dokument am 25. August bei der Polizei abgegeben hatte, musste die gesamte Operation eiligst adaptiert werden. Der international akkordierte Zugriff am 1. September - allein in Wien wurden acht Personen verhaftet -war nach profil-Recherchen so nie geplant. In einem Fetzen Papier freilich manifestiert sich die feine Ironie dieser in der Rechtsgeschichte wohl beispiellosen Affäre. Es handelt sich um das Fragment eines E-Mails von "Falter"-Chefredakteur Florian Klenk an die Adresse Landesgericht und Justizministerium. Ausgehend vom Fall Strasser beklagt er den Umstand, dass es für Journalisten schwierig sei, an schriftliche Urteile erster Instanz zu kommen. Der Ausdruck des Mails wurde entsorgt. Zusammen mit zahllosen Urteilen.

Michael   Nikbakhsh

Michael Nikbakhsh

war bis Dezember 2022 stellvertretender Chefredakteur und Leiter des Wirtschaftsressorts.