Kocher an der OeNB-Spitze: Neuer Stil, alte Vorbehalte

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Bei Notenbankern muss man jedes Wort auf die Waagschale legen. Alles, was man sagt, wiegt schwer. Es könnte sich hinter dem Gesagten zum Beispiel ein Hinweis auf die nächste Zinsentscheidung verbergen, und schon hyperventilieren die Finanzmärkte. Martin Kochers erstes Wort als neuer Gouverneur der Österreichischen Nationalbank (OeNB) war das Du-Wort. Das hat er seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern gleich an seinem ersten Arbeitstag angeboten.
Kocher muss sich mit seiner Belegschaft gutstellen. Die legt nämlich auch jedes seiner Worte auf die Waagschale. Bei einem Townhall-Meeting, das eher an „Frühstück bei mir“ erinnern sollte, wie profil berichtet wird, läutete Kocher den neuen Ton in der OeNB ein. Neben dem Du-Wort soll es auch eine neue Strategie geben: Die Notenbank soll digitaler, moderner werden. Sich wirtschaftspolitisch stärker aufstellen. Was das konkret heißt? Das soll jetzt einmal erarbeitet werden.
Neben dem Du-Wort verkündete Kocher auch gleich, dass die Prämienauszahlungen an die Mitarbeiter gekürzt und künftig an weniger Personen ausbezahlt werden. Das vierköpfige Direktorium bekommt keine Prämien, sondern ein fixes Gehalt. Dass bei den Direktorengehältern nicht von Kürzungen die Rede ist, stößt ein paar sauer auf. Kocher verdient mehr als der Bundeskanzler. Dass sich auch neuerdings drei von vier Direktoren einen eigenen Pressesprecher beziehungsweise eine neue Assistenz leisten, kommt bei den grundsätzlich skeptischen Notenbankern ebenfalls nicht gut an. „Die Notenbank muss mit einer Stimme nach außen sprechen. Alles, was wir kommunizieren, hat Auswirkungen – bei der EZB in Frankfurt bis hinauf in die Spitzenpolitik“, erzählt ein Mitarbeiter.
Und Kocher wurde eben als Spitzenpolitiker – er war unter Schwarz-Grün Wirtschaftsminister – von seinen Ministerkolleginnen auf Vorschlag des Präsidiums zum Gouverneur der OeNB ernannt. Das sorgt hier noch immer für Skepsis. Einerseits ist und war die Besetzung der Notenbank-Spitzen immer ein Politikum. Andererseits lebt die Institution von ihrer Unabhängigkeit und sollte sich erst gar nicht in die Nähe parteipolitischer Begehrlichkeiten begeben. „In den EZB-Gremien interessiert sich niemand für die SPÖ oder die ÖVP. Und kein Ökonom würde sich dort jemals die Blöße geben, auch nur die kleinste politische Schlagseite durchscheinen zu lassen“, sagt eine Notenbankerin. Kocher müsse jetzt genau das zeigen – frei von jeglicher politischen Schlagseite.
profil traf den neuen Gouverneur am 12. September in seinem neuen Büro. Drei Tageszeitungen waren schon beim Antrittsinterview, am Tag darauf gibt es weitere Pressetermine.
Wie war denn Ihre erste Zinssitzung in Frankfurt?
Martin Kocher
Sehr interessant und intensiv. Es wird sehr umfangreich über Annahmen, über Risiken, über die Einschätzung von Daten und Prognosen diskutiert. Aber angesichts der Tatsache, dass wir trotz hoher Unsicherheit relativ stabile Entwicklungen der europäischen Prognosen gesehen haben, sahen wir keine Notwendigkeit für eine Veränderung des Leitzinses, weil das Inflationsziel für die Eurozone (von zwei Prozent, Anm.) erreicht ist.
Nicht in Österreich, wir hatten zuletzt 4,1 Prozent.
Kocher
Es gibt eine gewisse Divergenz bei verschiedenen Ländern, die aber zum Gutteil auf Einmaleffekte zurückzuführen ist, weil eben Energiehilfen zu unterschiedlichen Zeitpunkten ausgelaufen sind, weil die Länder zu unterschiedlichen Zeitpunkten die -Bepreisungen eingeführt haben oder Erhöhungen bei der Bepreisung vorgenommen haben. In der OeNB-Prognose erwarten wir, dass die Inflationsrate 2026 in Österreich auf 2,4 Prozent zurückgeht. Trotzdem ist es wichtig, dieses Differential zu schließen, weil es uns Wettbewerbsfähigkeit kostet.
Und was sollte man dagegen tun?
Kocher
Wichtig sind strukturelle Verbesserungen wie die Abschaffung von territorialen Lieferbeschränkungen, Zurückhaltung bei öffentlichen Gebühren oder überlegtere Indexierungen von Preisen. Die Sozialpartner können die Inflation über die Lohnabschlüsse beeinflussen.
Volle Inflationsabgeltung bei den Lohnabschlüssen – ja oder nein?
Kocher
Die Sozialpartner wissen selbst am besten, in welchen Bereichen die Situation sehr schwierig ist. In manchen Bereichen gibt es nach wie vor einen akuten Fachkräftemangel. Die Debatte über Kollektivvertragsabschlüsse sollte jedenfalls sehr differenziert geführt werden.
Die Vorgängerregierung, deren Teil Sie waren, hat ein massives Budgetloch hinterlassen. Haben Sie Fehler gemacht?
Kocher
Ich stehe nicht an, zu sagen, dass manche der Maßnahmen gerade im Bereich der Energiehilfen inflationstreibend waren, im Nachhinein betrachtet. Damals waren die Prognosen andere, es wurde ein großer wirtschaftlicher Einbruch erwartet. Wir haben befürchtet, dass vielleicht kein Erdgas mehr fließt und dass es Produktionsausfälle gibt.
Haben Sie irgendwann zumindest unter vier Augen Ihrem Finanzministerkollegen gesagt: Wir sollten nicht zu viel ausgeben, das fliegt uns um die Ohren.
Kocher
Also wir haben natürlich in der Regierung und auch mit Expertinnen und Experten immer wieder diskutiert über die Wirkungen von bestimmten Maßnahmen. Vor allem sind ja die Einnahmen aufgrund der Konjunktur eingebrochen. Aber ich glaube, ich war einer der Ersten in Europa, der damals gesagt hat, als die Energiepreise so stark gestiegen sind, dass wir damit an Wohlstand verlieren. Und dass es darum geht, diesen Verlust zu verteilen. Vielleicht hätte man noch viel stärker darauf hinweisen sollen.

PK "KONTROLLPLAN LOHN- UND SOZIALDUMPINGBEKÄMPFUNG - ARBEITSMARKTENTWICKLUNG": BRUNNER/KOCHER
© APA/EVA MANHART
PK "KONTROLLPLAN LOHN- UND SOZIALDUMPINGBEKÄMPFUNG - ARBEITSMARKTENTWICKLUNG": BRUNNER/KOCHER
Der Wirtschaftsminister
Martin Kocher (l.) war unter Schwarz-Grün Wirtschafts- und Arbeitsminister. Hier ist er auf dem Weg zu einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Ex-Finanzminister Magnus Brunner (ÖVP).
Martin Kocher wurde 2021 nach dem Abgang von Christine Aschbacher Arbeitsminister. 2022 übernahm er von Margarete Schramböck auch das Wirtschaftsressort. Ex-Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP) hatte den damaligen Chef des Instituts für Höhere Studien (IHS) als unabhängigen Experten in die Regierung geholt. Kochers Expertise als Wirtschaftswissenschafter war in der Koalition unbestritten. Und er war auch nie Parteimitglied der ÖVP. Allerdings scherte er nicht oder zumindest nicht öffentlich gegen die Parteilinie aus. Als Minister verteidigte er die sehr üppigen Anti-Teuerungsmaßnahmen der Regierung. Martin Kocher wurde 2021 nach dem Abgang von Christine Aschbacher Arbeitsminister. 2022 übernahm er von Margarete Schramböck auch das Wirtschaftsressort. Ex-Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP) hatte den damaligen Chef des Instituts für Höhere Studien (IHS) als unabhängigen Experten in die Regierung geholt. Kochers Expertise als Wirtschaftswissenschafter war in der Koalition unbestritten. Und er war auch nie Parteimitglied der ÖVP. Allerdings scherte er nicht oder zumindest nicht öffentlich gegen die Parteilinie aus. Als Minister verteidigte er die sehr üppigen Anti-Teuerungsmaßnahmen der Regierung. Als Ökonom sieht er sie heute differenzierter. Seine größte Reform im Wirtschaftsressort hätte die Einführung des degressiven Arbeitslosengeldes werden sollen: also zu Beginn der Arbeitslosigkeit höhere Bezüge, die mit der Zeit sinken, um so die Bereitschaft, einen Job anzunehmen, zu erhöhen. Das war ganz im Sinne von Wirtschaftskammer und Arbeitgebern, scheiterte aber am Widerstand der Grünen. Andere Maßnahmen wie die Reform der Rot-Weiß-Rot-Karte zog er rasch durch.
Zur Person
Martin Kocher (52) ist seit dem 1. September 2025 Gouverneur der Österreichischen Nationalbank (OeNB). Er ist Volkswirt und Professor für Verhaltensökonomie. Ab 2021 war er in der schwarz-grünen Regierung unter Ex-Kanzler Sebastian Kurz zunächst Arbeitsminister und übernahm 2022 das Wirtschaftsressort. Davor war leitete er fünf Jahre lang das Institut für Höhere Studien (IHS). Der gebürtige Salzburger ist Läufer. 2021 lief er den Wien-Marathon in 3 Stunden und 21 Minuten.
Robert Holzmann stand für eine eher restriktive Geldpolitik, und auch sein Führungsstil wurde im Haus so wahrgenommen. Wie legen Sie die neue Rolle an?
Kocher
Das neue Direktorium hat sich ganz klar zum Ziel gesetzt, dass wir die OeNB in ihren Kernkompetenzen stärken wollen. Gleichzeitig ist es wahrscheinlich das jüngste Direktorium aller Zeiten. Damit geht natürlich einher, dass sich auch kulturell einiges ändert. Wir arbeiten gerade intensiv an der neuen Strategie. Die wird planmäßig Ende des Jahres abgeschlossen sein.
Für Wirbel sorgte im Vorjahr Ihr Sozialbericht. Dort hatten zwei Wissenschafter des Hauses Vermögenssteuern sinngemäß als probates Mittel zur Vermögensverteilung beschrieben und sollen vom Ex-Gouverneur unter Druck gesetzt worden sein, sich dazu nicht öffentlich zu äußern. Wird unter Ihnen alles veröffentlicht?
Kocher
Ich komme ja aus der Wissenschaft. Wissenschaftsfreiheit ist ein sehr hohes Gut. Und solange die wissenschaftlichen Ergebnisse methodisch einwandfrei sind, gibt es aus meiner Sicht überhaupt keinen Grund, Einfluss zu nehmen. Und das werde ich auch nicht machen.
Die OeNB wird heuer über eine Milliarde Euro Verlust verbuchen. Anders als bei Geschäftsbanken ist das noch kein Beinbruch und schränkt auch die Handlungsfähigkeit der Notenbank nicht ein. Außer, dass die Republik auf eine dringend notwendige Dividende verzichten muss. Die Verluste kamen zustande, weil einerseits Geschäftsbanken in den letzten Jahren zu relativ guten Zinsen Geld bei der Notenbank parken konnten. Andererseits hat die OeNB in der Niedrigzinsphase im großen Stil Staatsanleihen gekauft, die heute sehr wenig Ertrag abwerfen. Damit übersteigen die Ausgaben die Einnahmen. Der Staat konnte sich dadurch allerdings sehr günstig verschulden.
Die Geschäftsbanken haben von den höheren Zinsen, die sie bei Ihnen bekommen haben, profitiert. Jetzt müssen sie unter der neuen Regierung einen Solidarbeitrag zur Budgetsanierung leisten. Können Sie die Kritik der Banken an der Bankenabgabe verstehen?
Kocher
Die Entscheidung liegt bei der Regierung und ist keine geldpolitische Entscheidung. Ich persönlich halte nicht besonders viel von Ad-hoc-Steuern. Wenn es in gewissen Bereichen in gewissen Zeiten hohe Gewinne gibt, gibt es meistens im gleichen Bereich zu anderen Zeiten auch schwierige Geschäftssituationen. Vor zehn Jahren, als die Zinsen sehr niedrig waren, haben die Banken beispielsweise wenig Gewinn erwirtschaftet.
Staatstragend
Martin Kocher ist das neue Gesicht und die neue Stimme der OeNB. Dort herrscht neuerdings das Du-Wort. Bis Jahresende will er zusammen mit seinem Team eine neue Strategie für die Notenbank erarbeiten.
Als im Vorjahr bekannt wurde, dass das OeNB-Präsidium den damaligen Wirtschaftsminister Kocher der Regierung als Wunschkandidaten für den Gouverneursposten vorschlägt, machten innerhalb der OeNB zwei Briefe mit äußerst kritischer Tonalität die Runde: „Wir fordern daher einen mehrstufigen, für die Öffentlichkeit transparenten Auswahlprozess für alle Generalrats- und Direktoriumsmitglieder, der internationalen Standards entspricht“, steht in einem Schreiben der grünen-nahen Betriebsratsliste „OeNB 2030er:innen“. Und weiter: „Mit dem bedenklichen Parteieneinfluss in der OeNB wollen und dürfen wir uns nicht abfinden.“ Die OeNB-Frauen forderten wiederum die gebührende Beachtung beider Geschlechter bei der bevorstehenden Besetzung von gleich vier Direktorenposten und einen transparenteren Bestellvorgang. Bei der EZB musste sich Präsidentin Christine Lagarde einem Hearing vor dem EU-Parlament stellen. In Österreich entschied die Bundesregierung über die vier Vorschläge von OeNB-Präsident Harald Mahrer und Vizepräsidentin Ingrid Reischl – Mahrer ist Präsident der Wirtschaftskammer, Reischl Generalsekretärin beim Gewerkschaftsbund. Am 6. August 2024 bestellte der Ministerrat Kocher mit 1. September 2025 zum Gouverneur. Edeltraud Stiftinger wurde Vize-Gouverneurin, Josef Meichenitsch und Thomas Steiner zogen ins Direktorium ein. Kocher war zu diesem Zeitpunkt im Ausland. Das hatte Symbolcharakter, weil er während seiner Bestellung physisch gar nicht anwesend war, änderte aber nichts am Bestellvorgang.
Verstehen Sie den Vorwurf der politischen Einflussnahme rund um Ihre Bestellung?
Kocher
Die Bestellung war völlig regelkonform, und das Prozedere ist gesetzlich verankert. Man kann darüber diskutieren, ob die Regeln andere sein sollten. Ich war in dieser Zeit, als der Ministerratsbeschluss gefasst wurde, außerhalb von Europa. Mein Stimmrecht hat also dabei im Ministerrat keine Rolle gespielt. Ich habe meine Bewerbung auch bewusst erst dann öffentlich gemacht, als die Bewerbungsfrist zu Ende war, um keine anderen Bewerberinnen und Bewerber möglicherweise abzuschrecken. Ich habe versucht, das so transparent und so offen wie möglich zu machen.
In vielen anderen EU-Ländern ist es Usus, dass sich Bewerberinnen und Bewerber einem Hearing etwa vor den Finanzausschüssen von Parlamenten stellen müssen. Wäre das eine gangbare Art, um geeignete Kandidaten nicht von vornherein politisch zu kompromittieren?
Kocher
Das legt der Gesetzgeber fest. Ich hätte kein Problem mit einem öffentlichen Hearing gehabt.
Kochers neue Strategie beinhaltet unter anderem das Schlagwort Digitalisierung. Die EZB arbeitet, wie viele andere große Notenbanken, gerade an der Umsetzung des digitalen Euro. In Österreich wurde aus der Debatte um dessen Einführung eine Bargelddebatte oder besser gesagt eine über dessen Abschaffung.
Braucht der Euro wirklich eine digitale Währung?
Kocher
Die Entscheidung darüber liegt beim EU-Finanzministerrat und dem EU-Parlament. Solange diese Entscheidungen nicht gefällt sind, wird es auch keine Einführung geben. Wir haben im bargeldlosen Zahlungsverkehr eine hohe Abhängigkeit von den USA, weil es keine europäischen Anbieter gibt. Hier ist es aus Souveränitätsgründen sinnvoll, eine europäische Alternative zu haben. Vor allem vor dem Hintergrund der Politik von US-Präsident Donald Trump. Der zweite Punkt ist: Durch die Forcierung von Stablecoins in den USA (das sind Kryptowährungen, deren Wert aber zum Beispiel an eine Währung gekoppelt ist, Anm.) gibt es eine private digitale Währung, die eine Alternative zum Geld ist, das durch Zentralbanken ausgegeben wird. Vor diesem Hintergrund ist eine öffentliche Alternative, die Vertrauen genießt, wichtig. Ein digitaler Euro wäre immer ganz genau einen Euro wert.
Fürchten Sie, dass das Bargeld abgeschafft wird?
Kocher
Es ist mir sehr wichtig, zu sagen: Das Bargeld bleibt selbstverständlich bestehen. Da sind sich alle einig.
Letzte Frage. Ihr wirtschaftlicher Ausblick war leicht optimistisch, was Inflation und Wirtschaftswachstum betrifft. Nun haben sich die Ökonomen zuletzt in ihren Prognosen auch mal geirrt. Wie zuversichtlich sind Sie, dass die OeNB ihren Ausblick nicht nach unten korrigieren muss?
Kocher
Wir können nur vom Status quo ausgehen. Ich hoffe sehr, und das zeigen auch die aktuellen Daten, dass wir in eine stabilere geopolitische und handelspolitische Lage kommen. Im Moment bin ich also vorsichtig optimistisch, dass wir aus der Rezession raus sind.
Kocher posiert für das Interview vor der neuen Leinwand im Gouverneursbüro. Er hat zwei Bilder mitgebracht und den Schreibtisch getauscht. Der ist jetzt ein Stehpult, das man hoch- und runterfahren kann. Vielleicht gibt ja die Schreibtischhöhe einen Hinweis auf den nächsten Zinsschritt – Notenbanker kommunizieren in Nuancen.

Marina Delcheva
leitet das Wirtschafts-Ressort. Davor war sie bei der "Wiener Zeitung".