Titelgeschichte

Alternative "Medizin": Was hilft wirklich, was schadet?

Ölziehen, Osteopathie, Kinesiologie: Was wirklich wirkt – und was Gesundheit oder Geldbörse schädigt.

Drucken

Schriftgröße

Methodenkritik

Früher beforschte Edzard Ernst die Fließeigenschaften des Blutes. Wenn er jemandem davon erzählte, erntete er mit ein wenig Glück höfliches Interesse. Kein Mensch jedoch empfand den Drang, eine Meinung zu dem Fachgebiet zu äußern. Ganz anders, als der Mediziner begann, alternativmedizinische Verfahren systematisch zu untersuchen. Plötzlich fühlte sich fast jeder selbst zum Experten berufen, artikulierte vehement die eigene Ansicht und erklärte, warum die Wissenschafter falschlägen. Leicht irritierend findet Ernst diese Reaktion, denn für alle Methoden und Präparate im Gesundheitswesen gelten dieselben Regeln, ob Blinddarmoperation oder Akupunktur, Blutdrucksenker oder Globuli: Wirkung und Nutzen müssen nach dem genormten Prozedere der sogenannten evidenzbasierten Medizin studiert werden, um Patienten eine klare Empfehlung geben zu können. Es gibt für diesen Zweck ebenso einen Werkzeugkasten mit bewährten Instrumenten wie für eine komplizierte Operation, und da wie dort braucht es Expertise, um damit hantieren zu können – wodurch Medizin objektiv überprüfbar wird und die Notwendigkeit entfällt, sich auf eine Meinung zu verlassen, gleich welcher Seite.

Edzard Ernst hat mehr als zwei Jahrzehnte lang Forschungen zur Alternativmedizin betrieben. Er wuchs in Deutschland auf, ging als Kind zu einem homöopathisch orientierten Hausarzt und begann als Jungarzt an einem Münchner Spital für Naturheilwesen, das von einem Homöopathen geleitet wurde. 1993 wurde er auf den weltweit ersten Lehrstuhl für Komplementärmedizin im britischen Exeter berufen. Mit rund 20 Mitarbeitern erforschte er bis zu seiner Pensionierung 2012 nahezu alle Verfahren der Alternativmedizin – mit exakt denselben Methoden, die auch für alle anderen Sparten der Heilkunde gelten. Mehr als 1000 Fachartikel hat das Team in Exeter veröffentlicht und damit die global umfangreichste Studiendatenbank zum Thema aufgebaut.

Im Lauf der Jahre hat Ernst auch mehrere Sach- und Fachbücher veröffentlicht: speziell über Homöopathie ebenso wie zu den Regeln und Fallstricken des Studiendesigns. Nun legt er erstmals ein Buch vor, das er auf Deutsch verfasst hat: Es ist ein Destillat all seiner Forschungsarbeit und bewertet 40 alternativmedizinische Verfahren nach Kriterien der evidenzbasierten Medizin, aufgeteilt in die 20 besten sowie die 20 bedenklichsten Methoden. Übersichtlich und bewusst trocken gehalten listet er auf, für welche Verfahren bei welchen Krankheitsbildern es solide Studien mit positiven Resultaten gibt – und für welche selbst jahrzehntelange Forschung bisher weder Evidenz noch einen plausiblen Wirkmechanismus liefern konnte.

Die Auswahl dürfte nicht ganz leicht gefallen sein: Rund 400 Verfahren sind bekannt, die in den Bereich Komplementärmedizin fallen – von Homöopathie, Schröpfen und Tai-Chi bis hin zu Ohrkerzen, Geistheilung, Hypnose sowie einer Unzahl von Diäten, Vitamin- und Anti-Aging-Kuren. Ebenso breit ist das Spektrum in Bezug auf die Bedenklichkeit mancher Methoden: Einige, etwa Bach-Blüten, sind zwar wirkungs-, aber auch harmlos, andere können mit kruder Ideologie verbrämt und brandgefährlich sein: Dazu zählt die Germanische Neue Medizin des mittlerweile verstorbenen Ryke Geerd Hamer, die aber nach wie vor praktiziert wird und zahlreiche Krebspatienten zu Tode gebracht hat. Dazu zählen auch neuerdings populäre und zugleich völlig irrwitzige Erfindungen wie „Miracle Mineral Supplement“ – ein ätzendes Mittel, das auch gegen das Coronavirus propagiert wird.

Gemeinsam ist einem Teil der Methoden trotz aller Verschiedenheit, dass sie große Versprechungen machen und vorgeben, gegen verdächtig viele Erkrankungen wirksam zu sein – ohne je einen Beleg dafür erbracht zu haben. Bei einem anderen Teil all der vielgestaltigen Verfahren ist es hingegen gelungen, zumindest bei einigen definierten Symptombildern einen Nutzen unter Beweis zu stellen, der klassischen Therapien ebenbürtig ist oder diese sogar übertrifft. In diesen Fällen stellt sich letztlich die Frage, ob der Begriff Alternativmedizin überhaupt angebracht ist – ohnehin ein unglücklicher Terminus, da es schließlich auch keinen alternativen Organismus gibt, sondern nur einen, dem man wirkungslose oder aber wirksame Behandlung verabreichen kann.

Längst kursiert in Fachkreisen das Bonmot, wie man denn Alternativmedizin nennt, die einen Wirkungsnachweis erbracht hat. Antwort: Man nennt sie Medizin.

Die folgende Übersicht umfasst eine Auswahl von 20 Verfahren, deren positive Effekte entweder durch solide Forschung belegt sind oder bei denen der Nachweis solcher Effekte gescheitert ist – plus zwei weitere, zu denen die Datenlage widersprüchlich ist. Basis der profil-Bewertung sind sowohl die Bücher und Studien von Edzard Ernst als auch Medizindatenbanken, vor allem jene der Cochrane Collaboration, die medizinische Behandlungsansätze nach wissenschaftlichen Kriterien beurteilt.

Bestanden

Gar nicht so wenigen alternativen Verfahren bescheinigen Studien erwiesenen Nutzen – zumindest in Teilbereichen. Gemeinsam ist den Methoden: Sie geben keine übergroßen Versprechen ab.

Alexander-Technik

beruht auf dem Konzept des australischen Schauspielers Frederick Matthias Alexander, der seine Stimmprobleme auf körperliche Fehlhaltungen zurückführte. Verallgemeinert: Die Methode fußt auf der Annahme, dass langfristig eingelernte Bewegungs- und Verhaltensmuster gesundheitliche Probleme nach sich ziehen können, vor allem solche des Bewegungsapparates sowie Stress. Darauf abgestimmte Übungen sollen Fehlhaltungen korrigieren und Verspannungen, Schmerzen, Haltungsschäden und Stressfolgen entgegenwirken.

Bewertung: Wissenschaftliche Studien analysieren selten den Nutzen einer Methode in ihrer Gesamtheit, sondern deren Versprechen in Bezug auf einzelne Krankheiten oder Symptome. Im Fall der Alexander-Technik sind zum Beispiel positive Langzeiteffekte bei chronischen Rückenschmerzen gut belegt.

Entspannungsmethoden

sind ein Oberbegriff für Techniken, die darauf abzielen, ein Übermaß an Stress zu reduzieren. Die bekannteste Methode ist wohl das Autogene Training, das der deutsche Psychiater Johannes Heinrich Schultz vor etwa 100 Jahren entwickelte. Mittels mentaler Übungen, die man nach einer Ausbildung selbstständig durchführt, soll man in der Lage  sein, die Muskelspannung bewusst zu beeinflussen und dadurch Stress abzubauen. Ähnliche Ziele verfolgte der Arzt Edmund Jacobson, der in den 1920er-Jahren die Progressive Muskelrelaxation begründete, die helfen soll, mit Übungen Muskeln anzusteuen und den Muskeltonus zu senken. Dadurch soll die Ausschüttung von Stresshormonen verringert oder der Blutdruck gesenkt werden.

Bewertung: Es liegen wenige große klinische Studien zu Autogenem Training vor. Dass es eine effektive Strategie gegen Stress darstellt, ist aber nachgewiesen. Es kann auch die Psyche bei chronischen Erkrankungen positiv beeinflussen. Zur Progressiven Muskelentspannung gibt es eine Reihe von Studien. Neben der Reduktion von Stress im Alltag fanden sich gute Effekte gegen Begleiterscheinungen der Chemotherapie wie Übelkeit und bei der Prophylaxe von Migräne.

Lymphdrainage

soll mittels sanft massierender Bewegungen den Abfluss von Lymphflüssigkeit fördern und dadurch den Lymphkreislauf positiv beeinflussen. Dieser dient dazu, Nähr- wie auch Schadstoffe durch den Körper zu transportieren. Das vom dänischen Ehepaar Emil und Estrid Vodder in den 1930er-Jahren entwickelte Verfahren wird häufig von Physiotherapeuten angeboten und verspricht eine ganze Reihe von Effekten: Abwehr von Infekten, Hilfe bei chronischen Leiden, Migräne und Gelenksbeschwerden, bei Schmerzen und Entzündungen.

Bewertung: Obwohl die Methode auf plausiblen anatomischen Annahmen beruht, sind die allerwenigsten der behaupteten Effekte wissenschaftlich nachgewiesen. In Studien gut belegt sind jedoch entstauende Wirkungen bei Ödemen, also Schwellungen infolge von Flüssigkeitsansammlungen im Gewebe. Da die Methode als unbedenklich gilt und von Patienten als angenehm empfunden wird, fällt die Gesamtbewertung, etwa durch die Cochrane Collaboration, positiv aus.

Phytotherapie

umfasst das weite Feld der Pflanzenheilkunde. Tausende potenziell als Arzneien wirkende pflanzliche Substanzen sind bekannt, solide Studien liegen allerdings nur zu einem kleinen Teil davon vor. Die umfangreichsten Daten gibt es zu Johanniskraut, dessen Effekte in gut 50 klinischen Studien erforscht wurden. Wirkstoffe in Johanniskraut sind beispielsweise Hypericin und Hyperforin. Die Pflanze soll antidepressiv, antimikrobiell, entzündungs- und schmerzlindernd wirken. Eine ähnliche Vielfalt nützlicher Eigenschaften wird dem Knoblauch nachgesagt. Vor allem soll er das Herz schützen, Thrombosen und Diabetes vorbeugen.

Bewertung: Sicher ist, dass viele Pflanzen wirksame Substanzen enthalten – im positiven wie auch negativen Sinn. Für Johanniskraut ist eine Wirksamkeit gegen milde und mittelschwere Depressionen gut belegt, in diesem Bereich sind die Pflanzenextrakte sogar vielfach pharmakologischen Präparaten überlegen. Jedenfalls übersteigt der Nutzen den Placebo-Effekt. Allerdings: Johanniskraut kann zu unerwünschten Wechselwirkungen mit Medikamenten führen. Für Knoblauch gilt eine kardiovaskuläre Schutzfunktion als erwiesen. Die Pflanze entfaltet nur kleine Effekte, die aber in Summe positiv für das Herz-Kreislauf-System sind. Auch hier sind Wechselwirkungen mit Medikamenten möglich. Solide Hinweise gibt es weiters für den Einsatz von Ingwer, um Übelkeit bei Chemotherapie zu mildern.

Sicher ist, dass viele Pflanzen wirksame Substanzen enthalten - im positiven wie auch negativen Sinne. Einige wirken als Arzneimittel.

Ölziehen

klingt wie Hokuspokus, scheint aber eine solide faktische Basis zu besitzen. Das Prinzip dieser angeblich alten ayurvedischen Praxis: Man nimmt einen Esslöffel Öl, etwa Sesam-, Sonnenblumen- oder Olivenöl, und spült damit Mund und Zähne mindestens drei Minuten lang gründlich durch. Die Prozedur soll man täglich morgens durchführen.

Bewertung: Versprochen wird eine Menge positiver Effekte, von denen nur wenige durch wissenschaftliche Evidenz belegt sind. Lokal im Mund hat das Ritual aber tatsächlich hygienischen Sinn: Nachgewiesen sind eine Reduktion der Bakteriendichte und eine Verminderung von Zahnbelag. Außerdem gibt es Indizien für Therapie und Prophylaxe von Zahnfleischentzündungen.

Triggerpunkt-Therapie

ist eine relativ junge Methode, die in den 1940er-Jahren von der Ärztin Janet Travell beschrieben wurde. Verhärtungen in Muskeln und Faszien (Gewebeteilen), die Schmerzen in verschiedenen Körperregionen verursachen, sollen durch gezielte Manipulation aufgelöst werden – durch Hände oder Instrumente, zu denen auch Nadeln zählen. Die betroffenen Muskeln sollen dadurch besser durchblutet und elastischer, ausstrahlende Schmerzen unterbunden werden. Triggerpunkt- und Faszientherapien gehören zu jenen Bereichen, in denen seit geraumer Zeit ernsthafte wissenschaftliche Forschung stattfindet.

Bewertung: Noch ist die wissenschaftliche Beweislage relativ dünn und nicht ganz einheitlich, es gibt aber ermutigende Hinweise auf eine Wirkung in manchen Bereichen: So ist belegt, dass das Nadeln von Triggerpunkten Schmerzen in Nacken, Rücken und Schultern reduzieren kann. Auch Häufigkeit und Intensität von Spannungskopfschmerz lassen sich positiv beeinflussen.

Pilates

ist ein Trainingsprogramm zur Verbesserung von Koordination, Kondition und Körperhaltung, das auf den Deutsch-Amerikaner Joseph Pilates zurückgeht. Pilates zielt darauf ab, mittels moderaten Krafttrainings, Stretching, Atem- und weiterer Übungen Bewegungsmängel und Fehlbelastungen des Körpers auszugleichen und damit ein Gegenprogramm zu negativen Routinen des Alltags zu entwerfen.

Bewertung: Es handelt sich um eine plausible Methode, der günstige Effekte attestiert werden, zum Beispiel gegen Fehlhaltungen, Rücken- und Lendenwirbelsäulenprobleme. Es liegen einige klinische Studien vor, die Pilates als sinnvolles Bewegungsprogramm zur Verbesserung von Muskelkraft, genereller Fitness, Balance und Schlafqualität einstufen – auch bei Senioren. Einige Arbeiten sprechen für Unterstützung bei Gewichtsreduktion und für kardio-respiratorische Effekte.

Fischöl & Glucosamin

gilt als gesund, seit Studien postulierten, dadurch ließe sich kardiovaskulären Risiken vorbeugen. Ursache dafür sollen mehrfach ungesättigte Omega-3-Fettsäuren sein, die in Fischen wie Makrele und Hering, aber auch in Nüssen, Spinat, Brokkoli, Soja, Rettich und anderem Gemüse enthalten sind. Eine weitere natürlich vorkommende Substanz ist Glucosamin, die Bestandteil unserer Knorpel und des Bindegewebes ist. Die Einnahme von Glucosamin – oft in Kombination mit der ebenfalls körpereigenen Substanz Chondroitin – soll Arthrose vorbeugen und deren Symptome lindern. Glucosamin wie auch Fischöl steht als Nahrungsergänzung zur Verfügung, Letzteres lässt sich auch in Form von Fisch konsumieren.

Bewertung: Die Datenlage zu Omega-3-Fettsäuren ist nicht einheitlich. Die Hoffnung, dass sich das Risiko für Demenz oder Herzinfarkt reduzieren lässt, ist vorerst nicht belegt. Gesichert dürften folgende Effekte sein: Senkung des Blutdrucks, Stabilisierung bestimmter Formen von Herzrhythmusstörungen, Ausgleich erhöhter Triglyceridwerte, Behandlung von Schuppenflechte. Studien zu Glucosamin klingen vielversprechend: Eine Schmerzreduktion bei Arthrose scheint gesichert. Im Vorjahr stellte eine große Studie vorbeugende Effekte gegen krebs- und herzkreislaufbedingte Sterblichkeit in den Raum, ein kausaler Zusammenhang ist aber ungewiss.

Feldenkrais

beruht auf den Überlegungen von Moshe Feldenkrais und fällt in die Kategorie der moderaten Bewegungs- und Körperschulungsmethoden. Wie auch bei anderen Verfahren ist das Ziel, nachteilige Bewegungsabläufe und Körperhaltungen allmählich abzutrainieren und höhere Fitness für den Alltag zu erwerben. Das Programm kommt etwa zusätzlich zu orthopädischen oder neurologischen Behandlungen in Betracht.

Bewertung: Die Methode ist relativ gut untersucht, eine große Zusammenschau von 20 Studien gelangte zum Resultat, es liege solide Evidenz vor, dass Feldenkrais das Gleichgewichtsgefühl verbessern kann. Das ist speziell für Senioren von Bedeutung, da Gleichgewichtsstörungen eine häufige Ursache für Stürze sind. Mittlerweile gibt es auch Hinweise auf positive Effekte bei Rückenschmerzen und Parkinson.

Yoga

ist als altes und sehr vielschichtiges Gedankengebäude bekannt, das sowohl körperliche Ertüchtigung als auch mentale, lebensphilosophische und spirituelle Aspekte einschließt. Typisch sind Dehn- und Atemübungen, Meditation und Ernährungsregeln. Die bei uns verbreitete Form des Hatha-Yoga kommt weitgehend ohne esoterischen Überbau aus und fokussiert meist auf Gelenkigkeit und Dehnbarkeit der Muskeln sowie allgemein entspannende Wirkung und körperliches Wohlbefinden.

Bewertung: Zu Yoga existiert eine Vielzahl klinischer Studien. Auch wenn es für eine Menge gesundheitlicher Versprechen keine nachgewiesene Wirkung gibt, liegen gute Belege für einige Vorteile vor. Dazu zählen eine Linderung von Depressionen und Stress, eine Verbesserung der Schlafqualität und sogar eine höhere Lebensqualität bei Krebspatienten. Obwohl auch negative Effekte wie Muskelverletzungen durch Dehnen dokumentiert sind, fällt die Datenlage heute insgesamt zugunsten von Yoga aus.

Unentschieden

Bei manchen Verfahren ist die Datenlage zu uneinheitlich oder zu widersprüchlich, um ein klares Urteil fällen zu können. Zwei bekannte Beispiele für diese Kategorie.

Akupunktur

ist mit Sicherheit eine der populärsten alternativmedizinischen Behandlungsmethoden. Erste schriftliche Aufzeichnungen zur Akupunktur entstanden etwa 100 v. Chr., das Konzept ist aber viel älter. Das Setzen von Nadeln an bestimmten Punkten entlang von Energiebahnen, den Meridianen, soll zum Beispiel Schmerzen lindern, Allergien und viele weitere Beschwerden bekämpfen.

Bewertung: Es gibt eine Menge an wissenschaftlichen Studien, darunter auch viele von mangelhafter Qualität. Solide Arbeiten gibt es etwa zur Therapie von Schmerzen der Lendenwirbelsäule. In klinischen Studien wurden dabei Akupunktur, Scheinakupunktur und konventionelle Behandlungen verglichen. „Scheinakupunktur“ bedeutet, dass Nadeln nicht an den korrekten Punkten gesetzt werden oder die Haut nicht hinlänglich durchdringen und stellt eine Placebokontrolle dar. Ähnliche Untersuchungen wurden zur Behandlung sowie Prophylaxe von Migräne durchgeführt. Das Ergebnis lautete im Wesentlichen: In allen Fällen konnten positive Effekte der Akupunktur nachgewiesen werden, die häufig signifikant waren und den Nutzen medikamentöser Therapien mitunter überstiegen, ohne aber deren übliche Nebenwirkungen zu zeigen. Allerdings: Fast immer schnitt Scheinakupunktur ebenso gut oder nur unwesentlich schlechter ab, sodass sich nicht beurteilen lässt, ob die Akupunktur tatsächlich auf wirksamen Prinzipien beruht – oder vielmehr der Placebo-Effekt ausschlaggebend ist. Denkbar wäre auch, dass es keine große Rolle spielt, wo man die Nadeln platziert. Diese Fragen sind nicht abschließend geklärt.

„Niedrige wissenschaftliche Beweislage für die Wirksamkeit einiger Teilbereiche“

Cochrane Collaboration über den Nutzen von Osteopathie

Osteopathie

wurde im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts vom Amerikaner Andrew Taylor Still entwickelt und geht davon aus, dass eine Vielzahl von Krankheiten auf Problemen des Muskel- und Skelettapparates beruhen. Mittels meist sanfter manueller Manipulation sollen Wirbel, Knochen, Muskeln oder Organe gleichsam zurechtgerückt werden. Es gibt heute verschiedene Denkschulen, die mehr oder weniger naturwissenschaftlich orientiert sind. In Europa handelt es sich eindeutig um Alternativmedizin, die von Physiotherapeuten oder auch Ärzten praktiziert wird.

Bewertung: Zumindest der Ursprungsform nach Still fehlt eine plausible anatomische Grundlage. Klinische Studien prüften den Nutzen bei einigen Beschwerdebildern. Bei fast allen davon war das Fazit negativ, beispielsweise bei Asthma und Säuglingskoliken. Einzig bei Rückenschmerzen und Migräne fanden sich Hinweise auf eine Reduktion von Symptomen. Allerdings widersprachen andere Studien dieser Einschätzung, sodass die Datenlage nicht eindeutig ist. Zu einem Teilkonzept, der craniosakralen Therapie, ist die Studienlage indes so dünn, dass sich gar keine belastbare Aussage treffen lässt. Insgesamt folgerte Cochrane Österreich zur Wirksamkeit von Osteopathie: „Niedrige wissenschaftliche Beweislage für die Wirksamkeit einiger Teilbereiche.“

Durchgefallen

Die folgenden alternativmedizinischen Methoden sind extrem verschieden, was Prinzip, Plausibilität und Schadenspotenzial betrifft. Gemeinsam ist ihnen: Fantastischen Verheißungen steht eine dürre Beweislage gegenüber.

Kinesiologie und Iridologie

sind wie auch Haaranalyse oder Auspendeln parawissenschaftliche Diagnosemethoden. Die Angewandte Kinesiologie wurde in den 1960er-Jahren entwickelt und beruht auf Muskeltests: Eine durch Druck auf den gestreckten Arm ermittelte Schwäche soll Rückschlüsse auf Blockaden und eine gestörte Balance im Körper erlauben – und  Allergien, Entzündungen, Unverträglichkeiten oder Schmerzen anzeigen. Bei der Iridologie, der Augendiagnostik, erdacht von Ignaz von Peczely, soll die Iris Krankheiten verraten: Sie soll Organzonen spiegeln, wodurch Fehlfunktionen erkennbar seien.

Bewertung: Beide Diagnoseansätze widersprechen anatomischen und physiologischen Fakten und sind mit medizinischen Erkenntnissen nicht in Einklang zu bringen. Die wenigen soliden Studien, die dazu durchgeführt wurden – etwa bei der Diagnose von Krebs –, konnten keinerlei Hinweis auf einen Nutzen erbringen. Die Gefahr besteht darin, dass womöglich tatsächliche Krankheiten übersehen werden.

Bach-Blüten

beruhen auf dem in den 1920er-Jahren erdachten Konzept des britischen Arztes Edward Bach und sind teils an Homöopathie angelehnt. Bach verstand Krankheit als Störung des inneren Gleichgewichts und definierte 38 „disharmonische Seelenzustände“, denen er Pflanzen und Blüten zuordnete. Diese bildeten die Grundlage für seine Essenzen: Blüten werden in Wasser gelegt und mit Alkohol versetzt. Chemisch ist außer Wasser und Alkohol nichts in den Tropfen enthalten. Warum sollen sie dann wirken? Weiß man nicht, außer man glaubt an „feinstoffliche Schwingungen“. Heute werden verschiedenste Essenzen mit Bezeichnungen wie „Innere Stärke“ angeboten – und auch ganze Premium-Sets um rund 300 Euro.

Bewertung: Ein nachvollziehbarer Wirkmechanismus für Bach-Blüten fehlt. Es wurden klinische Studien durchgeführt, etwa zur Frage der Reduzierung von Stress. Dabei wurde kein Effekt über Placebo hinaus festgestellt. Auch sonst fehlt jeder Wirkungsnachweis. Bach-Blüten können keinen Schaden anrichten (außer für die Geldbörse), ein Risiko besteht jedoch, wenn Krankheiten im Glauben an deren Effektivität unbehandelt bleiben.

Anthroposophische Medizin

beruht auf den Vorstellungen des Österreichers Rudolf Steiner (1861–1925), der ein Gedankengebäude voller okkulter Mystik entwickelte, das Züge eines esoterischen und rassistischen Kults trägt. In dem Konzept spielen frühere Leben, Karma, Übersinnliches und unterschiedliche Wesensformen des Körpers ebenso eine Rolle wie biodynamische Landwirtschaft. Die anthroposophische Medizin umfasst mehr als 1000 Präparate. Die Arzneien sind mineralischer, metallischer, pflanzlicher oder tierischer Herkunft und meist hoch verdünnt. Ein Beispiel ist Mistelextrakt, der auch zur Krebstherapie angeboten wird.

Bewertung: Die stark spirituellen Konzepte widersprechen der Naturwissenschaft und sind unbelegt. Studien existieren beispielsweise zur Misteltherapie bei Krebs. Große Übersichtsarbeiten konnten bisher keinen Wirkungsnachweis erbringen. Das gilt, unabhängig von Anthroposophie, auch für andere alternative Krebstherapien wie die Breuß-Krebskur, ketogene Diät oder das Präparat Ukrain, das vor einigen Jahren für Schlagzeilen sorgte: Bei keiner Methode wurde ein Nutzen seriös erforscht.

CEASE

wurde vom Holländer Tinus Smits entwickelt, steht für „Complete Elimination of Autistic Spectrum Expression“ und wird als „geeignet“ gegen Autismus beworben. Oft wird von Hunderten Heilungen gesprochen. Impfungen, Medikamente und Schadstoffe sollen „Abdrücke“ im Körper hinterlassen, was zu Autismus führe. Das Energiefeld der Patienten sei mit homöopathischen Präparaten und Nahrungsergänzung davon zu befreien.

Bewertung: Es gibt nicht den geringsten Hinweis auf eine Wirksamkeit, das Verfahren entbehrt jeder rationalen Grundlage. Zudem ist es hochproblematisch, weil es den längst widerlegten Mythos bedient, Impfungen würden Autismus verursachen. Es fällt in die Gruppe zahlreicher unsinniger Methoden, die Eltern autistischer Kinder umgarnen. Autismus ist ein komplexes Symptombild, dessen genaue Ursachen ungeklärt sind.

EDTA-Chelat-Therapie

behauptet, durch Verabreichung der Chemikalie Äthylendiamintetraessigsäure (EDTA) vermeintliche Schwermetallbelastungen beseitigen zu können, etwa durch Amalgam. Auch die Ausleitung von Umweltschadstoffen wird versprochen, schließlich seien wir permanent einer schleichenden Vergiftung ausgesetzt. Die Methode ist schon deshalb unplausibel, weil eine Wirkung gegen eine Fülle von Krankheiten versprochen wird – ob Allergien, Asthma, Krebs, Demenz, Alterung, Multiple Sklerose, Neurodermitis, Erektionsstörungen, Herzleiden.

Bewertung: Stiftet mehr Schaden als Nutzen, da Chemie in die Venen eingebracht wird und kein Wirksamkeitsnachweis existiert. Gut untersucht ist die Methode bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Mehrere klinische Studien, zuletzt 2020, befanden: unzureichende Evidenz, zudem bestehe das Risiko unerwünschter Effekte.

Entschlackung

ist ein Oberbegriff für eine Unzahl von Verfahren, die davon ausgehen, der Körper sei voller Gifte aus der Umwelt, Nahrung und Medizin, und daher Entgiftung für angezeigt halten. Bei der Colon-Hydro-Therapie etwa werden bis zu zehn Liter Wasser rektal in den Darm geleitet. Hinzu kommt eine Fülle weiterer Methoden, die in die Kategorie „Detox“ oder „Entschlackung“ fallen – und alle möglichen Leiden positiv beeinflussen sollen: Akne, Arthritis, Rheuma, Migräne, Allergien, Asthma.

Bewertung: Entschlacken muss man Hochöfen, nicht aber Menschen. Zwar sind wir unser Leben lang Umwelttoxinen ausgesetzt, doch dagegen besitzen wir wirksame Mittel: Leber, Niere, Lunge und Haut. Die Notwendigkeit zusätzlicher Entgiftung konnte noch nie schlüssig belegt werden. Eine Übersichtsstudie zu Detox-Verfahren unterstrich, dass der einzige Effekt darin bestehe, den Behandlern ein gutes Einkommen zu sichern.

MMS

sorgte zuletzt für Schlagzeilen, weil es als Wundermittel gegen das Coronavirus verkauft wurde. Das „Miracle Mineral Supplement“, erfunden von Jim Humble, ist in Wirklichkeit hochgiftig: Es besteht aus Salzsäure und Natriumchlorit, wird als Bleichmittel benutzt – und als Kur gegen praktisch jede existente Krankheit beworben, ob Krebs, Aids, Demenz oder Autismus. Man glaubt es kaum, aber es gibt tatsächlich Menschen, die verrückt genug sind, es zu schlucken oder den eigenen Kindern einen Einlauf damit zu verpassen, und es gibt Menschen, sogar Ärzte, die skrupellos genug sind, sich damit zu bereichern.

Bewertung: Erübrigt sich wohl in diesem Fall. Längst sind Fälle von schweren Vergiftungen und Verätzungen aufgrund der Einnahme von MMS dokumentiert.

Kolloidales Silber

auch Silberwasser genannt, gibt es zum Schlucken, als Nasentropfen, Gel, Creme oder Pflaster. Die mit Silber versetzten Präparate erfahren in Pandemiezeiten ebenfalls Aufmerksamkeit, weil sie als wirksam gegen Bakterien und Viren, auch das Coronavirus, beworben werden. Kolloidales Silber ist ein schönes Beispiel dafür, dass altes Wissen keineswegs immer vorteilhaft ist und mitunter zu Recht am Schrotthaufen der Geschichte entsorgt wird. Vor Erfindung der Antibiotika wurde Silber tatsächlich zum Abtöten von Mikroben benutzt – zeigte aber unschöne Begleiterscheinungen. Auch die heutigen Präparate können die Haut blau verfärben und sich in Organen anreichern.

Bewertung: Stiftet mehr Schaden als Nutzen. In Medizindatenbanken finden sich keine seriösen Studien zu einer Wirksamkeit. Es gibt Arbeiten zu Nasensprays, die mangelhaft und ohne Aussagekraft sind. Experimente im Reagenzglas zeigen antimikrobielle Wirkung, die Daten lassen sich aber nicht auf den menschlichen Körper übertragen. In den USA ist es untersagt, diesen Mitteln therapeutischen Wert zuzuschreiben.

Chiropraktik

wurde im 19. Jahrhundert vom kanadisch-amerikanischen Geistheiler Daniel David Palmer erdacht, der eine Vielzahl von Erkrankungen auf Verschiebungen von Gelenken der Wirbelsäule zurückführte. Das „Einrenken“ und Manipulieren vermeintlich aus der Position geratener Körperteile ist heute eine verbreitete und oft auch von Ärzten praktizierte Methode.

Bewertung: Es existieren dazu relativ viele Analysen der Cochrane Collaboration. Die Bilanz fällt negativ aus: Zwar gibt es einzelne Hinweise auf einen Nutzen bei der Behandlung von Rückenproblemen, doch selbst hier ist die Datenlage dürftig. Dem gegenüber stehen Risiken der Therapie: Verletzungen von Arterien und daraus resultierende Schlaganfälle sind seltene, aber gravierende Ereignisse, die meist infolge einer Manipulation der Halswirbelsäule auftreten. Fazit: Ein Nutzen ist in wenigen Bereichen mäßig gut erwiesen, seltene schwere Schäden sind hingegen solide dokumentiert – in circa 500 Fällen.

Orthomolekulare Medizin / Zellularmedizin

fußt auf der Annahme, man müsse dem Körper hohe Dosen von Vitaminen und Mineralstoffen zuführen. Viele Menschen denken zudem, moderne Nahrung sei so nährstoffarm, dass es der Einnahme von Multivitaminpräparaten bedürfe. Orthomolekularmedizin wurde vom Chemiker Linus Pauling propagiert, der glaubte, mit hohen Dosen Vitamin C Krebs hintanhalten zu können. In den 1990er-Jahren entwickelte der Deutsche Matthias Rath seine eigene Version und pries Zellularmedizin gegen Aids und viele Erkrankungen.

Bewertung: Eine Fülle von Studien zeigt, dass kaum jemand unter Vitaminmängeln leidet – abgesehen von einzelnen diagnostizierten Fällen, in denen ein konkreter Mangel gezielt ausgeglichen werden muss. Die stetige Zufuhr von Multivitaminpräparaten ist jedoch nutzlos. Hingegen kann die Überdosierung bestimmter Substanzen Schäden verursachen. Das trifft zum Beispiel auf Vitamin E, Retinol, Selen und Folsäure zu.

Alwin   Schönberger

Alwin Schönberger

Ressortleitung Wissenschaft