Sie haben die Flucht über das Meer überöebt
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Migration: Der gefährliche Ruf des Meeres

Während alle Aufmerksamkeit auf Flüchtlingsboote in der Ägäis gerichtet ist, findet der größere Teil der Migration nach Europa im Westen des Kontinents statt: zu den Kanarischen Inseln. Es ist eine Strecke, die eigentlich als geschlossen galt-und es ist der mit Abstand riskanteste Weg nach Europa.

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Dieser Artikel erschien im profil Nr. 52 / 2020 vom 20.12.2020.

 

Als Mouhamed Diop an jenem Oktoberabend in seinem Heimatort M'bour an der senegalesischen Atlantikküste auf ein Fischerboot stieg, drängten sich 130 Menschen dicht an dicht. Sitzen ging gerade noch, liegen sei unmöglich gewesen, erzählt er. Er habe keinen der anderen gekannt. Umgerechnet 370 Euro habe die Überfahrt gekostet, die ihm ein besseres Leben ermöglichen sollte. Wenn er denn sein Ziel je erreichen würde: Gran Canaria, eine der Kanarischen Inseln, vor der westafrikanischen Küste gelegen, die südlichste Außengrenze der EU-und 1600 Kilometer weit von seiner Heimat entfernt.

Am fünften Tag gingen Essen und Wasser aus. Bald auch das Benzin. 15 Tage sollten Mouhamed Diop und die anderen Geflüchteten schließlich auf dem Atlantik treiben, auf einem der vielen Boote, die in diesen Tagen als vermisst gelten, und eines der wenigen, die es doch noch zu den Kanarischen Inseln schaffen.

In der Nacht des 2. November sieht Mouhamed Diop ein Flugzeug über sich kreisen, erzählt er drei Wochen später in Puerto Rico, einem Hafenort an der Südküste Gran Canarias. Wenig später taucht ein orangefarbenes Rettungsschiff auf. Es gehört zu "Salvamento Marítimo", einer Seenotrettungsorganisation, die der spanischen Schifffahrtsbehörde untersteht. Für einige kommt die Rettung zu spät. Drei Personen sind während der Überfahrt gestorben, erzählt Mouhamed Diop.

Die Kanarischen Inseln verzeichnen derzeit den höchsten Anstieg von Flüchtlingszahlen seit 14 Jahren. Waren es im August 2020 bloß durchschnittlich 26 Personen pro Tag, so gingen im November laut einer Statistik der Spanischen Kommission für Flüchtlingshilfe (CEAR),einer Hilfsorganisation, die Rechtsberatung für Asylwerber anbietet, über 250 Menschen auf einer der Inseln an Land. Das sind rund zehn Mal mehr Ankommende als noch im Vorjahr. Sie stammen aus Marokko, Senegal, Mali, Mauretanien, der Elfenbeinküste oder Guinea. Sie fliehen vor Kriegen oder Armut, manche vor Verfolgung, viele auf der Suche nach einem besseren Leben. Eine Chance auf Asyl hat kaum jemand von ihnen.

Nicht nur die Geflüchteten leiden unter der Situation. Auch die Einheimischen, die vorwiegend vom Tourismus leben, sehen ihre Existenzgrundlage bedroht. Werden noch Urlauber kommen, wenn hier Tausende Migranten in Camps untergebracht werden? Die Bewohner von Gran Canaria haben Angst, ihre Insel könnte zu einem "zweiten Lesbos" werden; Die Insel in der östlichen Ägäis, auf der im Sommer bis zu 20.000 Migranten festsaßen, dient als abschreckendes Beispiel. Doch diese Menschen wollen ebenso wenig auf den Kanaren bleiben wie jene, die aus der Türkei auf Lesbos übersetzen. Ihr eigentliches Ziel ist das europäische Festland. Vornehmliches Ziel der europäischen Migrationspolitik ist es, sie genau davon abzuhalten. So entsteht zwischen Geflüchteten und Inselbewohnern eine unfreiwillige Leidensgemeinschaft.

Das vermeintlich bessere Leben beginnt für Mouhamed Diop in einem Fischerort in Arguineguín an der Nordküste von Gran Canaria. Eigentlich für maximal 400 Personen ausgelegt, sollen die Ankommenden im Camp innerhalb von 72 Stunden auf Covid-19 getestet, registriert und anschließend identifiziert werden. Anfang November sind hier über 2000 Menschen untergebracht, fünf Mal mehr als vorgesehen. Manche werden auf dem Hafenstreifen bis zu 14 Tage festgehalten. Es ist unklar, warum, für wie lange und wie es für die Menschen dort weitergeht. So beschreibt es auch eine Beobachterin der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch. Sie erzählt gegenüber profil, dass alle Befragten ein Dokument bekommen, das ihre Ausweisung anordnet, jedoch keine Information in ihrer Landessprache über das Recht auf Asyl.

Mouhamed Diop sagt, dass manche Geflüchtete mit dem Bus abgeholt wurden, während er zwölf Tage auf dem Hafenstreifen bleiben musste. Warum, das weiß er nicht. Er habe auch keine Möglichkeit gehabt, sich zu waschen. Es kam immer wieder zu Streit unter den Migranten. Weil es keine Betten mehr in den überfüllten Zelten gab, schlief Diop nachts auf dem Asphalt. Jetzt sitzt der 20-Jährige in einem schattigen Park und hält sich an seinem Smartphone fest, obwohl es schon seit der Überfahrt nicht mehr funktioniert. Erst angekommen in Puerto Rico, sei er in der Lage gewesen, seiner Familie ein Lebenszeichen zu schicken. Im Hintergrund ragen Hotelburgen aus Beton in den Himmel. Manche Besitzer von Touristenanlagen haben in ihren Gebäuden Platz freigemacht, um Migranten unterzubringen. Auch Mouhamed Diop wohnt jetzt in einem Hotel. Das Rote Kreuz koordiniert und bezahlt den Aufenthalt. Eigentlich eine Win-win-Situation, denn auch die Angestellten im Touristenort Puerto Rico bangen in diesem Jahr um ihren Arbeitsplatz. Die Besucher bleiben seit der Corona-Pandemie aus-hier wie auch in Diops Heimat Senegal.

Zu Hause in M'bour, einer Stadt mit rund 200.000 Einwohnern, verdiente Mouhamed Diop seinen Lebensunterhalt als Fischer. Hauptabnehmer waren Hotels. Er streift die Ärmel seines weißen Pullovers nach oben, ein Fisch ist auf seinem Oberarm tätowiert. Seit er 13 Jahre alt ist, war der Fischfang sein Job. "Ich bin weggegangen, weil es keine Arbeit mehr gab. Das Geld reichte nicht mehr für die Familie." Er stützt die Ellenbogen auf die Knie, seine Augen über der Atemschutzmaske blinzeln: "Wir haben viele Probleme im Senegal."

Dass es vor den Küsten Senegals nicht mehr genug Fisch gibt, sei einer der Gründe, warum viele junge Senegalesen ihr Land verlassen, kritisierte Greenpeace Anfang des Jahres. In den vergangenen Jahren hat die Regierung in Dakar Fischerei-Lizenzen an europäische und chinesische Fischfangunternehmen vergeben. Das bedeute, dass die EU Migranten in ihre Herkunftsländer abschiebt, wo sie ihnen gleichzeitig einen wichtigen Bereich ihrer Lebens-und Einkommensgrundlage entzieht-vertraglich zugesichert von den jeweiligen Regierungen. Das neue Fischereiabkommen zwischen Dakar und EU soll 45 europäischen Schiffen in den nächsten fünf Jahren ermöglichen, mindestens 10.000 Tonnen Thunfisch und 1750 Tonnen Schwarzen Seehecht jährlich zu fangen.

"Diese Unternehmen halten sich nicht an die Vorgaben und schützen weder die Fischereibestände noch die Biosphäre des Meeres",behauptet Alassane Dicko, Koordinator des Netzwerks Afrique-Europe-Interacte. Die senegalesischen Fischer seien Opfer dieses unfairen Wettbewerbs: "Die Einnahmen sind knapp",sagt Dicko, die Fischbestände seien in den letzten 20 Jahren stark zurückgegangen, weil die großen Fischfangflotten aus der EU, China sowie anderen Seemächten den Meeresboden von Mauretanien bis zum Golf von Guinea kontinuierlich abfischten-besonders in den Gewässern vor Senegal. Das erschwere das alltägliche Überleben der Fischer, so der Aktivist.

Wie groß ist der Leidensdruck, dass Menschen wie Mouhamed Diop immer gefährlichere Routen in Richtung europäische Außengrenzen nehmen? Nach Schätzungen sind allein zwischen dem 20. Oktober und 15. November 631 Personen während der Atlantik-Passage verschwunden.

"Das Meer ist so intensiv, so unermesslich",sagt Manuel Capa. Er arbeitet seit neun Jahren für die Rettungsorganisation Salvamento Marítimo, die Diop gerettet hat. Der 49-Jährige sagt von sich selbst, er werde ruhig, wenn es einen Notfall gibt. "Kalt" sei er geworden. Capas Bart ist ergraut, über den Augenbrauen zeigen sich kleine Falten, wie sie Menschen haben, die viel in die Sonne schauen müssen.

Innerhalb der letzten vier Wochen hat Capa 65 Boote aus dem Atlantik gerettet. Allein am vergangenen Wochenende über 300 Menschen in nur 14 Stunden, sagt er. Die erschöpften Migranten setzt er am Hafen von Arguineguín ab, wo die Bedingungen immer schlechter würden: "Die Menschen liegen langsam schon übereinander."

Wenn auf Capas Funkgerät die Meldung eingeht, ein "Cayuco" sei gesichtet worden, weiß er, dass die Geflüchteten aus Subsahara-Afrika kommen. "Cayuco",das hat er längst gelernt, werden die bunt bemalten Fischerboote aus Senegal genannt. Capa schlägt seinen Terminkalender auf. Auf der letzten Seite hat er die Entfernungen notiert:

Dakhla in West-Sahara: 472 km. Drei Tage Nouadhibou in Mauretanien: 791 km. Fünf Tage St. Louis in Senegal: 1541 km, mindestens sieben Tage.

M'bour, wo Mouhamed Diops Boot abgelegt hat, liegt so weit entfernt, dass Capa es nicht einmal in seiner Liste notiert hat.

"Sie müssen eine neue Route benutzen",sagt Capa. Und diese verlaufe immer südlicher. Die Schuld daran, dass Flüchtlingsboote auf immer gefährlichere Routen ausweichen, sieht er bei der europäischen Migrationspolitik. Im Norden Marokkos, wo Europa in Sichtweite liegt, patrouilliere die Europäische Grenzschutzagentur Frontex gemeinsam mit der spanischen Küstenwache mit Militärschiffen, die nicht wie Capa das Ziel haben, die Geflüchteten zu retten, sondern irreguläre Migration zu verhindern. Sie hätten keinen Plan für den Fall gehabt, wenn die Geflüchteten auf immer südlichere Fluchtwege ausweichen, kritisiert Capa. "Dadurch werden die Routen viel länger, gefährlicher und demütigender."

Manuel Capa nimmt sein wasserfestes Handy und öffnet die App "VesselFinder".Auf seinem Bildschirm leuchten viele bunte Dreiecke auf, die sich langsam entlang der afrikanischen Küste bewegen, wie ein Computerspiel. Die Dreiecke sind Schiffe, die sich auf dem Meer bewegen. Die Boote der Geflüchteten erfasst das Programm jedoch nicht. Manuel Capa beschreibt die tödliche Gefahr, die hier lauert: Der Nordwind treibe die Boote nach Westen auf den offenen Atlantik hinaus. "Vielleicht werden in drei, vier Jahren Überreste davon in Südamerika oder in der Karibik an Land gespült. Und wir würden wahrscheinlich Monate später davon hören. Das ist ein Tod, der in der Vergessenheit zu verschwinden scheint",sagt Capa. Der Atlantik sei riesig, keiner könne ihn überwachen.

Jedes Land ist dafür verantwortlich, Schiffbrüchige in seiner sogenannten Seenotrettungszone zu bergen. In Spanien ist diese Fläche drei Mal so groß wie das gesamte Land. Der südlichste Bereich der sogenannten spanischen SAR-Zone ist etwa 800 Kilometer von Gran Canaria entfernt. Aus der Luft und von der See ist das Gebiet nur schwer zu überwachen. Verstärkung können sich die nationalen Regierungen von der EU-Grenzschutzagentur Frontex holen. Seit November 2020 sind acht Frontex-Mitarbeiter auf Gran Canaria stationiert, um die Küstenwache in der Registrierung und Identifizierung der Ankommenden zu unterstützen. Ein Hilferuf der spanischen Regierung.

Vor einigen Wochen besuchte die EU-Kommissarin für Inneres Ylva Johansson gemeinsam mit dem spanischen Innenminister Fernando Grande-Marlaska Arguineguín, wo Diop und andere Geflüchtete im Camp festgehalten wurden. Grande-Marlaska kündigte an, dass der Hafenstreifen bald wieder ausschließlich der Ankunft von regulären Schiffen dienen solle.

An einem Morgen Mitte November geht die Schranke auf der Straße zum Hafen immer wieder auf und zu. Mitarbeiter von Hilfsorganisationen, die Polizei und eine Gruppe von Anwälten passieren den Parkplatz zum Camp, der von einer meterhohen Wand zum Meer abgeschirmt wird. Eine Frau mit kurzen rötlichen Haaren und schnellem Schritt schiebt sich durch die Menschenmenge, vorbei an Kamerateams, die versuchen, sie abzupassen. Dann erreicht sie die gelbe Absperrung, dahinter haben Journalistinnen keinen Zutritt. "Warum wurden die Geflüchteten hierhergebracht?",fragt eine Anwältin. Eigentlich sollten einige schon lange den Pier verlassen haben. "Das ist wegen der Regierung",sagt Onalia Bueno, die Frau mit dem schnellen Schritt. Sie ist die Bürgermeisterin der Gemeinde, und sie ist sauer: auf die EU und die Regierung in Madrid.

"Die Minister haben sich bereits verpflichtet, dieses Lager abzubauen. Tage vergehen, und es ist immer noch da. Jeden Tag kommen Boote an",sagt Onalia Bueno und behauptet, wenn sie mehr Einfluss hätte, gäbe es dieses überfüllte Camp nicht: "Dieses Lager existiert nur deshalb schon seit Monaten, weil die spanische Regierung keine angemessenen Einrichtungen zur Unterbringung dieser Migranten bereitgestellt hat."Sie beschuldigt die europäische Politik und die Regierung in Madrid, nicht vorgesorgt zu haben.

Auf das Festland werden die Migranten nicht gebracht, heißt es aus Madrid. Niemand soll denken, dass der Weg automatisch von der Insel an der europäischen Außengrenze auf das europäische Festland führe. Die Bewohner Arguineguíns sind besorgt, sagt Bueno und beschreibt einen täglichen Spagat zwischen humanitärer Krise und chronischer Krise vor Ort: "Das Einzige, was ich von der Europäischen Union erwarte, ist, dass sie Spanien dazu drängt, dieses Migrationsproblem, das wir auf den Kanarischen Inseln haben, zu lösen. Der Tourismus ist für uns die wichtigste Einnahmequelle."

Einige Tage später verkündet die Bürgermeisterin, dass die Hotels und Apartments der Gemeinde keine Migranten mehr aufnehmen werden, die nach Ende Dezember an den Küsten der Insel ankommen. Auch der Hotelverband hatte die Räumung der Hotels gefordert. Die Geflüchteten sollen in staatlichen Einrichtungen untergebracht werden, damit der Tourismus wieder florieren könne.

Eines der Gebäude, das in diesen Tagen als staatliches Lager genutzt werden soll, liegt auf einem Militärgelände am Rand der Hauptstadt Las Palmas. Das Gelände ist mit Stacheldraht umzäunt. Es riecht nach der nahe gelegenen städtischen Kläranlage. Kakteen und Disteln überziehen die Hügel, im Tal stehen Zelte in Militärfarben. Rund 800 Personen sollen hier in Zelten mit Etagenbetten untergebracht werden. Aber wohin mit den über 7000 weiteren Personen, die allein im November angekommen sind?

Während die ersten Migranten in das Lager umgesiedelt werden, versucht die spanische Außenministerin Arancha González Laya, die Situation auf der anderen Seite des Atlantiks zu regeln. Am 22. November besucht sie ihre senegalesische Amtskollegin Aïssata Tall Sall in der Hauptstadt Dakar und unterzeichnet ein Rückführungsabkommen. Die Ministerinnen kündigen an, die Präsenz des Militärs und der Nationalpolizei vor den Küsten Senegals zu verstärken. Die spanische Regierung wird zur Unterstützung ein Flugzeug und ein Überwachungsschiff nach Dakar schicken. Gleichzeitig verspricht sie Anreize für legale Migrationswege.

Bisher stützt sich Spanien vor allem auf ein Rückführungsabkommen mit Senegals Nachbarn Mauretanien. Darin ist geregelt, dass Spanien auch nichtmauretanische Staatsbürger nach Mauretanien abschieben kann. Der letzte Abschiebeflug verließ die Kanarischen Inseln Anfang November. An Bord befanden sich 18 Personen aus Senegal, erzählt ein Richter, der die Migranten im Internierungsgefängnis auf Gran Canaria betreut.

Was passiert, wenn diese Menschen in Mauretanien abgesetzt werden, könne er nicht beantworten. Nicht das Beste, vermutet er. "Eine abschreckende Wirkung werden die Abschiebungen auf die Menschen in den Herkunftsländern nicht haben",sagt er, dafür sei der Migrationsdruck in den Herkunftsländern zu groß. Die Arbeit, die getan werden müsse, sollte besser dort ansetzen.

So bleiben grundlegende Fragen unbeantwortet: Was wäre gewesen, wenn europäische Unternehmen nicht die senegalesischen Gewässer überfischt hätten? Wenn es genug Fisch gegeben hätte? Hätten junge Erwachsene wie Mouhamed Diop dann die Atlantik-Passage doch nicht als ihre letzte Möglichkeit gesehen?

Nicht nur die Geflüchteten leiden unter der Situation. Auch die Einheimischen, die vorwiegend vom Tourismus leben, sehen ihre Existenzgrundlage bedroht. Werden noch Urlauber kommen, wenn hier Tausende Migranten in Camps untergebracht werden? Die Bewohner von Gran Canaria haben Angst, ihre Insel könnte zu einem "zweiten Lesbos" werden; Die Insel in der östlichen Ägäis, auf der im Sommer bis zu 20.000 Migranten festsaßen, dient als abschreckendes Beispiel. Doch diese Menschen wollen ebenso wenig auf den Kanaren bleiben wie jene, die aus der Türkei auf Lesbos übersetzen. Ihr eigentliches Ziel ist das europäische Festland. Vornehmliches Ziel der europäischen Migrationspolitik ist es, sie genau davon abzuhalten. So entsteht zwischen Geflüchteten und Inselbewohnern eine unfreiwillige Leidensgemeinschaft.

Das vermeintlich bessere Leben beginnt für Mouhamed Diop in einem Fischerort in Arguineguín an der Nordküste von Gran Canaria. Eigentlich für maximal 400 Personen ausgelegt, sollen die Ankommenden im Camp innerhalb von 72 Stunden auf Covid-19 getestet, registriert und anschließend identifiziert werden. Anfang November sind hier über 2000 Menschen untergebracht, fünf Mal mehr als vorgesehen. Manche werden auf dem Hafenstreifen bis zu 14 Tage festgehalten. Es ist unklar, warum, für wie lange und wie es für die Menschen dort weitergeht. So beschreibt es auch eine Beobachterin der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch. Sie erzählt gegenüber profil, dass alle Befragten ein Dokument bekommen, das ihre Ausweisung anordnet, jedoch keine Information in ihrer Landessprache über das Recht auf Asyl.

Mouhamed Diop sagt, dass manche Geflüchtete mit dem Bus abgeholt wurden, während er zwölf Tage auf dem Hafenstreifen bleiben musste. Warum, das weiß er nicht. Er habe auch keine Möglichkeit gehabt, sich zu waschen. Es kam immer wieder zu Streit unter den Migranten. Weil es keine Betten mehr in den überfüllten Zelten gab, schlief Diop nachts auf dem Asphalt. Jetzt sitzt der 20-Jährige in einem schattigen Park und hält sich an seinem Smartphone fest, obwohl es schon seit der Überfahrt nicht mehr funktioniert. Erst angekommen in Puerto Rico, sei er in der Lage gewesen, seiner Familie ein Lebenszeichen zu schicken. Im Hintergrund ragen Hotelburgen aus Beton in den Himmel. Manche Besitzer von Touristenanlagen haben in ihren Gebäuden Platz freigemacht, um Migranten unterzubringen. Auch Mouhamed Diop wohnt jetzt in einem Hotel. Das Rote Kreuz koordiniert und bezahlt den Aufenthalt. Eigentlich eine Win-win-Situation, denn auch die Angestellten im Touristenort Puerto Rico bangen in diesem Jahr um ihren Arbeitsplatz. Die Besucher bleiben seit der Corona-Pandemie aus - hier wie auch in Diops Heimat Senegal.

Zu Hause in M'bour, einer Stadt mit rund 200.000 Einwohnern, verdiente Mouhamed Diop seinen Lebensunterhalt als Fischer. Hauptabnehmer waren Hotels. Er streift die Ärmel seines weißen Pullovers nach oben, ein Fisch ist auf seinem Oberarm tätowiert. Seit er 13 Jahre alt ist, war der Fischfang sein Job. "Ich bin weggegangen, weil es keine Arbeit mehr gab. Das Geld reichte nicht mehr für die Familie." Er stützt die Ellenbogen auf die Knie, seine Augen über der Atemschutzmaske blinzeln: "Wir haben viele Probleme im Senegal."

Dass es vor den Küsten Senegals nicht mehr genug Fisch gibt, sei einer der Gründe, warum viele junge Senegalesen ihr Land verlassen, kritisierte Greenpeace Anfang des Jahres. In den vergangenen Jahren hat die Regierung in Dakar Fischerei-Lizenzen an europäische und chinesische Fischfangunternehmen vergeben. Das bedeute, dass die EU Migranten in ihre Herkunftsländer abschiebt, wo sie ihnen gleichzeitig einen wichtigen Bereich ihrer Lebens- und Einkommensgrundlage entzieht - vertraglich zugesichert von den jeweiligen Regierungen. Das neue Fischereiabkommen zwischen Dakar und EU soll 45 europäischen Schiffen in den nächsten fünf Jahren ermöglichen, mindestens 10.000 Tonnen Thunfisch und 1750 Tonnen Schwarzen Seehecht jährlich zu fangen.

"Diese Unternehmen halten sich nicht an die Vorgaben und schützen weder die Fischereibestände noch die Biosphäre des Meeres", behauptet Alassane Dicko, Koordinator des Netzwerks Afrique-Europe-Interacte. Die senegalesischen Fischer seien Opfer dieses unfairen Wettbewerbs: "Die Einnahmen sind knapp", sagt Dicko, die Fischbestände seien in den letzten 20 Jahren stark zurückgegangen, weil die großen Fischfangflotten aus der EU, China sowie anderen Seemächten den Meeresboden von Mauretanien bis zum Golf von Guinea kontinuierlich abfischten - besonders in den Gewässern vor Senegal. Das erschwere das alltägliche Überleben der Fischer, so der Aktivist.

Wie groß ist der Leidensdruck, dass Menschen wie Mouhamed Diop immer gefährlichere Routen in Richtung europäische Außengrenzen nehmen? Nach Schätzungen sind allein zwischen dem 20. Oktober und 15. November 631 Personen während der Atlantik-Passage verschwunden.

"Das Meer ist so intensiv, so unermesslich", sagt Manuel Capa. Er arbeitet seit neun Jahren für die Rettungsorganisation Salvamento Marítimo, die Diop gerettet hat. Der 49-Jährige sagt von sich selbst, er werde ruhig, wenn es einen Notfall gibt. "Kalt" sei er geworden. Capas Bart ist ergraut, über den Augenbrauen zeigen sich kleine Falten, wie sie Menschen haben, die viel in die Sonne schauen müssen.

Innerhalb der letzten vier Wochen hat Capa 65 Boote aus dem Atlantik gerettet. Allein am vergangenen Wochenende über 300 Menschen in nur 14 Stunden, sagt er. Die erschöpften Migranten setzt er am Hafen von Arguineguín ab, wo die Bedingungen immer schlechter würden: "Die Menschen liegen langsam schon übereinander."

Wenn auf Capas Funkgerät die Meldung eingeht, ein "Cayuco" sei gesichtet worden, weiß er, dass die Geflüchteten aus Subsahara-Afrika kommen. "Cayuco", das hat er längst gelernt, werden die bunt bemalten Fischerboote aus Senegal genannt. Capa schlägt seinen Terminkalender auf. Auf der letzten Seite hat er die Entfernungen notiert:

Dakhla in West-Sahara: 472 km. Drei Tage Nouadhibou in Mauretanien: 791 km. Fünf Tage St. Louis in Senegal: 1541 km, mindestens sieben Tage.

M'bour, wo Mouhamed Diops Boot abgelegt hat, liegt so weit entfernt, dass Capa es nicht einmal in seiner Liste notiert hat.

"Sie müssen eine neue Route benutzen", sagt Capa. Und diese verlaufe immer südlicher. Die Schuld daran, dass Flüchtlingsboote auf immer gefährlichere Routen ausweichen, sieht er bei der europäischen Migrationspolitik. Im Norden Marokkos, wo Europa in Sichtweite liegt, patrouilliere die Europäische Grenzschutzagentur Frontex gemeinsam mit der spanischen Küstenwache mit Militärschiffen, die nicht wie Capa das Ziel haben, die Geflüchteten zu retten, sondern irreguläre Migration zu verhindern. Sie hätten keinen Plan für den Fall gehabt, wenn die Geflüchteten auf immer südlichere Fluchtwege ausweichen, kritisiert Capa. "Dadurch werden die Routen viel länger, gefährlicher und demütigender."

Manuel Capa nimmt sein wasserfestes Handy und öffnet die App "VesselFinder". Auf seinem Bildschirm leuchten viele bunte Dreiecke auf, die sich langsam entlang der afrikanischen Küste bewegen, wie ein Computerspiel. Die Dreiecke sind Schiffe, die sich auf dem Meer bewegen. Die Boote der Geflüchteten erfasst das Programm jedoch nicht. Manuel Capa beschreibt die tödliche Gefahr, die hier lauert: Der Nordwind treibe die Boote nach Westen auf den offenen Atlantik hinaus. "Vielleicht werden in drei, vier Jahren Überreste davon in Südamerika oder in der Karibik an Land gespült. Und wir würden wahrscheinlich Monate später davon hören. Das ist ein Tod, der in der Vergessenheit zu verschwinden scheint", sagt Capa. Der Atlantik sei riesig, keiner könne ihn überwachen.

Jedes Land ist dafür verantwortlich, Schiffbrüchige in seiner sogenannten Seenotrettungszone zu bergen. In Spanien ist diese Fläche drei Mal so groß wie das gesamte Land. Der südlichste Bereich der sogenannten spanischen SAR-Zone ist etwa 800 Kilometer von Gran Canaria entfernt. Aus der Luft und von der See ist das Gebiet nur schwer zu überwachen. Verstärkung können sich die nationalen Regierungen von der EU-Grenzschutzagentur Frontex holen. Seit November 2020 sind acht Frontex-Mitarbeiter auf Gran Canaria stationiert, um die Küstenwache in der Registrierung und Identifizierung der Ankommenden zu unterstützen. Ein Hilferuf der spanischen Regierung.

Vor einigen Wochen besuchte die EU-Kommissarin für Inneres Ylva Johansson gemeinsam mit dem spanischen Innenminister Fernando Grande-Marlaska Arguineguín, wo Diop und andere Geflüchtete im Camp festgehalten wurden. Grande-Marlaska kündigte an, dass der Hafenstreifen bald wieder ausschließlich der Ankunft von regulären Schiffen dienen solle.

An einem Morgen Mitte November geht die Schranke auf der Straße zum Hafen immer wieder auf und zu. Mitarbeiter von Hilfsorganisationen, die Polizei und eine Gruppe von Anwälten passieren den Parkplatz zum Camp, der von einer meterhohen Wand zum Meer abgeschirmt wird. Eine Frau mit kurzen rötlichen Haaren und schnellem Schritt schiebt sich durch die Menschenmenge, vorbei an Kamerateams, die versuchen, sie abzupassen. Dann erreicht sie die gelbe Absperrung, dahinter haben Journalistinnen keinen Zutritt. "Warum wurden die Geflüchteten hierhergebracht?", fragt eine Anwältin. Eigentlich sollten einige schon lange den Pier verlassen haben. "Das ist wegen der Regierung", sagt Onalia Bueno, die Frau mit dem schnellen Schritt. Sie ist die Bürgermeisterin der Gemeinde, und sie ist sauer: auf die EU und die Regierung in Madrid.

"Die Minister haben sich bereits verpflichtet, dieses Lager abzubauen. Tage vergehen, und es ist immer noch da. Jeden Tag kommen Boote an",sagt Onalia Bueno und behauptet, wenn sie mehr Einfluss hätte, gäbe es dieses überfüllte Camp nicht: "Dieses Lager existiert nur deshalb schon seit Monaten, weil die spanische Regierung keine angemessenen Einrichtungen zur Unterbringung dieser Migranten bereitgestellt hat." Sie beschuldigt die europäische Politik und die Regierung in Madrid, nicht vorgesorgt zu haben.

Auf das Festland werden die Migranten nicht gebracht, heißt es aus Madrid. Niemand soll denken, dass der Weg automatisch von der Insel an der europäischen Außengrenze auf das europäische Festland führe. Die Bewohner Arguineguíns sind besorgt, sagt Bueno und beschreibt einen täglichen Spagat zwischen humanitärer Krise und chronischer Krise vor Ort: "Das Einzige, was ich von der Europäischen Union erwarte, ist, dass sie Spanien dazu drängt, dieses Migrationsproblem, das wir auf den Kanarischen Inseln haben, zu lösen. Der Tourismus ist für uns die wichtigste Einnahmequelle."

Einige Tage später verkündet die Bürgermeisterin, dass die Hotels und Apartments der Gemeinde keine Migranten mehr aufnehmen werden, die nach Ende Dezember an den Küsten der Insel ankommen. Auch der Hotelverband hatte die Räumung der Hotels gefordert. Die Geflüchteten sollen in staatlichen Einrichtungen untergebracht werden, damit der Tourismus wieder florieren könne.

Eines der Gebäude, das in diesen Tagen als staatliches Lager genutzt werden soll, liegt auf einem Militärgelände am Rand der Hauptstadt Las Palmas. Das Gelände ist mit Stacheldraht umzäunt. Es riecht nach der nahe gelegenen städtischen Kläranlage. Kakteen und Disteln überziehen die Hügel, im Tal stehen Zelte in Militärfarben. Rund 800 Personen sollen hier in Zelten mit Etagenbetten untergebracht werden. Aber wohin mit den über 7000 weiteren Personen, die allein im November angekommen sind?

Während die ersten Migranten in das Lager umgesiedelt werden, versucht die spanische Außenministerin Arancha González Laya, die Situation auf der anderen Seite des Atlantiks zu regeln. Am 22. November besucht sie ihre senegalesische Amtskollegin Aïssata Tall Sall in der Hauptstadt Dakar und unterzeichnet ein Rückführungsabkommen. Die Ministerinnen kündigen an, die Präsenz des Militärs und der Nationalpolizei vor den Küsten Senegals zu verstärken. Die spanische Regierung wird zur Unterstützung ein Flugzeug und ein Überwachungsschiff nach Dakar schicken. Gleichzeitig verspricht sie Anreize für legale Migrationswege.

Bisher stützt sich Spanien vor allem auf ein Rückführungsabkommen mit Senegals Nachbarn Mauretanien. Darin ist geregelt, dass Spanien auch nichtmauretanische Staatsbürger nach Mauretanien abschieben kann. Der letzte Abschiebeflug verließ die Kanarischen Inseln Anfang November. An Bord befanden sich 18 Personen aus Senegal, erzählt ein Richter, der die Migranten im Internierungsgefängnis auf Gran Canaria betreut.

Was passiert, wenn diese Menschen in Mauretanien abgesetzt werden, könne er nicht beantworten. Nicht das Beste, vermutet er. "Eine abschreckende Wirkung werden die Abschiebungen auf die Menschen in den Herkunftsländern nicht haben", sagt er, dafür sei der Migrationsdruck in den Herkunftsländern zu groß. Die Arbeit, die getan werden müsse, sollte besser dort ansetzen.

So bleiben grundlegende Fragen unbeantwortet: Was wäre gewesen, wenn europäische Unternehmen nicht die senegalesischen Gewässer überfischt hätten? Wenn es genug Fisch gegeben hätte? Hätten junge Erwachsene wie Mouhamed Diop dann die Atlantik-Passage doch nicht als ihre letzte Möglichkeit gesehen?