Ausland

Dragan Djilas: Wie kann die serbische Opposition unter solchen Umständen gewinnen?

Der Oppositionspolitiker Dragan Djilas über die sinkende Popularität der EU in seinem Land, warum der Kosovo nie wieder Teil Serbiens werden kann und wieso sich niemand dafür interessiert, dass Präsident Vučić eine israelische Hackergruppe engagiert hat, um ihn schlecht aussehen zu lassen.

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In Dragan Djilas Büro steht ein Flipper-Tisch. Daneben lehnt eine lebensgroße Djilas-Pappfigur, ein Überbleibsel des letzten Wahlkampfes.

Djilas und seine Partei „Freiheit und Gerechtigkeit (SSP)“ sind Teil des größten Oppositionsbündnisses in Serbien. Bei den Wahlen im April 2022 erreichte es 13 Prozent der Stimmen und wurde zweitgrößte Kraft im Parlament. Damit liegt das Bündnis aber immer noch weit hinter den beiden Regierungsparteien, die gemeinsam auf mehr als 50 Prozent kamen.

Oppositionelle in Serbien spielen nach anderen Regeln als die Regierung, meint Djilas. Es sei wie ein ungleiches Fußballmatch, bei dem ein Team mit verbundenen Augen antritt.

Es ist Anfang Juni und sehr heiß in Belgrad. Djilas trinkt Kaffee Latte mit Eiswürfeln aus einem To-Go-Becher mit Strohhalm. Wer ihn zum Interview trifft spaziert einfach in sein Büro, vorbei an der Sekretärin, die keine Fragen stellt. Djilas spricht offen und schimpft viel, um sich hinterher dafür zu entschuldigen. Seit Jahren fahren die regierungsnahen Medien eine Kampagne gegen ihn. Unlängst wurde bekannt, dass Präsident Vučić für Fake-Inhalte eigens eine israelische Firma angeheuert haben soll (Siehe Kasten).

Vor wenigen Monaten hat ein internationales Konsortium aufgedeckt, dass die serbische Regierung bei einer israelischen Geheimfirma eine Desinformationskampagne gegen Sie bestellt hat. Sie hätten 6,4 Millionen Euro auf Bankkonten in der Schweiz und auf Mauritius versteckt. Jetzt stellte sich heraus: Alles Fake. Wie hat das Land auf diese Enthüllung reagiert?

 

Djilas
Wen interessiert das schon? Es gab keine Reaktion. 80 Prozent der Menschen bekommen diese Information gar nicht. Ich war unzählige Male auf dem Cover der Zeitungen. Es ist schwierig, den Menschen zu erklären, dass nichts daran stimmt. Das ist das Problem in Serbien: Wir Oppositionelle kommen nicht mehr an die Bevölkerung heran. Es ist ein ungleiches Match. Als würde man Fußball mit verbundenen Augen spielen.

 

Sie waren auf der Straße, als im Oktober 2000 der serbische Machthaber und Kriegstreiber Slobodan Milošević gestürzt wurde. Zuletzt, so schätzen es Beobachter ein, hat Serben die zweitgrößten Proteste in seiner jüngeren Geschichte erlebt. Stimmen Sie dem zu?
Djilas
Ja, was die Zahlen betrifft, kommen wir an damals heran. Die Zweitgrößten sind es auf jeden Fall. Aber die Ereignisse sind überhaupt nicht miteinander vergleichbar. Vor 23 Jahren hat sich Milošević trotz Wahlniederlage an der Macht gehalten. Das konnten wir nicht akzeptieren und gingen auf die Straße. Damals gab es viel Unterstützung aus der demokratischen Welt. Bei den aktuellen Protesten geht es nicht um Wahlen, sondern um den hohen Grad an Gewalt in der serbischen Gesellschaft. Im Mai haben wir innerhalb von nur zwei Tagen zwei Amokläufe erlebt.

 

In einer Schule erschoss ein 13-Jähriger acht seiner Mitschülerinnen und Mitschüler. Der serbische Bildungsminister machte „westliche Werte“ dafür verantwortlich. Er musste zurücktreten.

 

Djilas
Westliche Werte? Das ist einfach lächerlich. Wenn das wahr wäre, dann müsste so etwas dauernd passieren. Präsident Vučić meinte später in einer Pressekonferenz, westliche Werte könnten es nicht gewesen sein, denn auch in Russland passiere das. Das ist die Politik von Vučić: Er versucht, es allen Seiten recht zu machen. Russland hat in Serbien eine Sonderstellung, weil es uns nie bombardiert hat. Gleichzeitig bleibt der Westen wichtig, wegen der Wirtschaftsbeziehungen. Wir führen EU-Beitrittsgespräche, aber belegen Russland nicht mit Sanktionen. Und nebenbei sind wir auch noch eng mit China.

 

Auch der jugoslawische Präsident Tito wollte es sich mit keiner Seite verscherzen...
Djilas
Ja, aber es gibt einen großen Unterschied zwischen damals und heute. Jugoslawien war ein großes Land und Tito hat die Möglichkeiten des Kalten Krieges genutzt. Heute geht das nicht mehr. Serbien gehört zu den wenigen Ländern in Europa, das die Außenpolitik der EU gegen Russland nicht mitträgt. Und Vučić hat keine Konsequenzen zu fürchten.

 

Im Inland kommt das gut an. Umfragen zeigen, dass die Mehrheit der Serbinnen und Serben Russland als ihren wichtigsten, strategischen Partner sehen.

 

Djilas
Das liegt auch daran, dass wir in den letzten zehn Jahren eine starke Kampagne gegen den Westen hatten, geschürt von der Regierung. Heute steht die EU in Umfragen auf einem historischen Tief. Vor zehn Jahren war dieser Wert noch viel höher. Dabei müssen wir mit dem Westen zusammenarbeiten. Serbien liegt in Europa, nicht in Asien. Aber der Einfluss von China nimmt zu. Wir haben hohe Kredite von Peking bezogen und können sie nicht zurückzahlen. Sie wissen ja, wie die Chinesen so etwas lösen. Dafür muss man nur in afrikanische Staaten blicken. Sie holen sich Unternehmen, Straßen, Elektrizitätswerke oder Rohstoffe als Rückzahlungsoption.

 

Glauben Sie, dass Vučić der EU wirklich beitreten will?

 

Djilas
Das ist die Eine-Million-Dollar-Frage. Im Inland inszeniert er sich als starker Mann, der es mit allen aufnehmen kann. Im Ausland spielt er das Unschuldslamm. Die Wahrheit ist: In den letzten zehn Jahren hat er vieles akzeptiert, was der Westen im Zusammenhang mit dem Kosovo gefordert hat. Die serbische Polizei ist aus dem Norden abgezogen. Serbische Richter wurden Teil des Justizsystems des Kosovo.

 

Wollen Sie damit sagen, dass Vučić den Kosovo aufgegeben hat?

 

Djilas
Ich will damit sagen, dass er innenpolitisch den starken Mann spielt, aber in den EU-Verhandlungen zum Kosovo ganz anders agiert. Ich gehöre nicht zu jenen, die glauben, dass der Kosovo je wieder Teil Serbiens sein kann. Das ist unmöglich. Aber ein Problem gibt es sehr wohl: Ethnische Serben, die im Kosovo leben, verlassen den Kosovo jeden Tag. Jede Krise und jeder Vorfall bestärkten diesen Prozess. Wenn das so weitergeht, werden eines Tages keine Serben mehr im Kosovo leben. 23 Jahre nach dem Krieg sprechen wir immer noch über Deeskalation. Kommt schon, Leute! Was habt ihr das letzte Vierteljahrhundert gemacht?

 

Im Norden des Kosovo, wo es immer wieder zu Spannungen kommt, leben mehrheitlich Serben. Wie groß ist Vučićs Einfluss dort?

 

Djilas
Er kontrolliert alles. Zu hundert Prozent.

 

Also auch die serbische Partei, die im Norden den Ton angibt?

 

Djilas
Selbstverständlich! Alle müssen diese Partei wählen und die Opposition hat keine Chance. Wenn ich den Norden besuche, dauerte es nicht lange, bis jemand auftaucht und mich verprügeln will. Aber jetzt mal ehrlich: Ich bin der Meinung, dass Albaner und Serben miteinander reden können.

 

Derzeit ist es so: Vučić und der kosovarische Ministerpräsident Albin Kurti weigern sich, bei Verhandlungen auch nur im selben Raum zu sitzen.  
Djilas
Ich erzähle ihnen eine andere Geschichte. Meine Tochter lebt in London. Einmal rief sie mich aus dem Krankenhaus aus and und sagte: Papa, da ist ein Arzt aus Prishtina, der dich grüßen lässt, ein Albaner. Er erinnerte sich an meinen Namen, weil ich in den Neunzigerjahren gegen den Krieg und gegen Milošević protestiert hatte. Er hat sich mit meiner Tochter in London auf Serbisch unterhalten. Albaner und Serben können überall auf der Welt miteinander reden. Nur in unserer Region können sie es nicht.

Nein, Sie werden keinen Politiker in Serbien finden, der den Kosovo anerkennen würde.

Dragan Djilas, Oppositionspolitiker

Würden Sie die Unabhängigkeit des Kosovo anerkennen?

 

Djilas
Nein, Sie werden keinen Politiker in Serbien finden, der den Kosovo anerkennen würde. Und überhaupt: Das verlangt auch niemand von uns. Es gibt sogar fünf EU-Länder, die den Kosovo nicht anerkennen.

 

Zurück zu den Protesten. Wird die Opposition von diesem Momentum profitieren?

 

Djilas
Nicht wir, sondern die gesamte Gesellschaft profitiert davon. Die Menschen haben verstanden, dass sie nicht einfach weiter passiv zuschauen können. Serbien ist eine Autokratie. Der Druck, Vučićs Fortschrittspartei „SNS“ beizutreten, ist groß, wenn man Karriere machen oder einen Job finden will. Sogar Menschen, die ihre private Firma gegründet und nichts mit Politik am Hut haben wollen, verstehen irgendwann: Es geht nicht ohne die Partei. Denn irgendwann klopfen sie an deine Tür. Aber zu ihrer Frage: Ich glaube, die Ablehnung der Demonstranten gegen Vučić ist größer als der Zuspruch zur Opposition.

 

Bei den Parlamentswahlen in Ungarn haben sich im April 2022 alle Oppositionsparteien gegen den amtierenden Ministerpräsidenten Viktor Orbán zusammengetan. Auch rechte Kräfte. Würden Sie mit den rechten Parteien in Serbien gemeinsame Sache machen?

 

Djilas
Nein, der Krieg in der Ukraine hat das unmöglich gemacht. Die rechten, pro-russischen Parteien haben eine völlig andere Position als wir. Mit so jemandem können wir nicht zusammenarbeiten. Ja, wir wollen die Regierung loswerden, aber die Zukunft Serbiens stellen wir uns ganz anders vor als sie.

 

Werden Sie die nächsten Wahlen boykottieren oder antreten?

 

Djilas
Wir haben die Wahl schon einmal boykottiert und uns mehr davon erwartet. Die EU-Kommission und das EU-Parlament haben die Art und Weise, wie Wahlen in Serbien ablaufen, oft kritisiert. Wir haben Briefe an Botschaften, Abgeordnete und EU-Institutionen geschickt und gefragt: Könnt ihr bitte etwas tun?

 

Sie wollen damit sagen, dass Wahlen in Serbien nicht fair ablaufen?

 

Djilas
Es fängt mit den Medien an. Können Sie sich vorstellen, dass der Präsident eines Landes im Durchschnitt über 300 Mal im Jahr im Fernsehen spricht? Und das länger als eine Stunde? Wir, die Opposition, haben so eine Möglichkeit nicht. Wie können wir unter solchen Bedingungen gewinnen? 

 

 

Wann haben Sie Vučić zum letzten Mal gegenübergesessen?

 

Djilas
Letztes Jahr, nach der Parlamentswahl im April. Wir haben uns ganz normal unterhalten. Ich habe ihm gesagt, dass es an der Zeit ist, mit der Polarisierung der Bevölkerung aufzuhören und mit den Attacken auf die Opposition im Parlament.

 

Erkennt er die Kritik an seinem autokratischen Kurs an?

 

Djilas
Nein, er sagt, dass seine Vorgänger gleich waren. Das stimmt aber nicht. Genau das ist das Problem an Autokraten: Sie verstehen die eigenen Leute nicht mehr. Sie leben in ihrer Blase. Und wenn es Proteste gegen sie gibt, dann fangen sie an, die Demonstranten zu verhöhnen.

 

Will Vučić auf unbestimmte Zeit regieren, wie der türkische Machthaber Erdogan?

 

Djilas
Ich weiß nicht, was er will. Aber ich weiß, dass sein Regime dem Ende zugeht.

 

Durch Wahlen oder durch Proteste?

 

Djilas
Ich denke Beides.

Zur Person

Dragan Djilas, 56, ist ein serbischer Politiker und Geschäftsmann. Mit TV-Lizenzen und dem Verkauf von Werbeflächen in Medien baute er sich ein Vermögen auf. Als Mitglied und späterer Vorsitzender der Demokratischen Partei war er kurzzeitig serbischer Minister für Investitionen und von 2008 bis 2013 Bürgermeister in Belgrad. Nach einer politischen Auszeit gründete er 2019 die „Partei der Freiheit und Gerechtigkeit“, die bei der Wahl im April 2022 auf einer Liste mit weiteren Mitte-links und EU-freundlichen Parteien antrat. Diese zog als zweitstärkste Kraft ins Parlament ein. Im März 2023 deckte das internationale Recherchekonsortium „Forbidden Stories“ auf, dass die serbische Regierung bei der israelischen Geheimfirma „Team Jorge“ eine Desinformationskampagne gegen Djilas bestellt hatte. „Team Jorge“ hat sich auf Manipulation von Wahlen und Kampagnen gegen politische Gegner spezialisiert und bietet entsprechende Serviceleistungen an. Es ist ein Millionengeschäft.

Franziska Tschinderle

Franziska Tschinderle

schreibt seit 2021 im Außenpolitik-Ressort. Studium Zeitgeschichte und Journalismus in Wien. Schwerpunkt Südosteuropa / Balkan.