„Nur in seinen Träumen hat er geweint und geschrien“
Zum 80. Jahrestag der Befreiung gedachten auch Angehörige ukrainischer Opfer des KZ Mauthausen ihrer Vorfahren. Auch der aktuelle Angriffskrieg Russlands spielte eine Rolle.
Svitlana Petrovska sitzt auf einer Mauer vor dem ehemaligen Konzentrationslager Mauthausen und spricht über ihren Vater. Leicht fällt ihr das nicht, denn der Vater war hier interniert, im größten Konzentrationslager auf dem Gebiet Österreichs, und seine Erlebnisse verfolgten ihn sein Leben lang. Gesprochen habe der Vater nicht über die Zeit in Mauthausen, sagt Petrovska, nur in seinen Träumen habe er geweint und geschrien.
Die Sonne scheint, die Vögel zwitschern, hinter Petrovska erstreckt sich eine Landschaft aus Wäldern und Bergen, ganz hinten am Horizont schneebedeckte Alpengipfel. Der Kontrast zwischen dem malerischen Panorama und dem Grauen, das sich hier ereignete, könnte kaum größer sein.
Nur die Todesstiege hat er erwähnt und dass er Steine geschleppt habe.
Svitlana Petrovska, Tochter eines Überlebenden
Es ist Sonntag, der 11. Mai, und auf dem weitläufigen Gelände über dem Donautal findet eine große Gedenkfeier für die Opfer des KZ Mauthausen statt. Mehr als 20.000 Menschen sind gekommen, um an jene zu erinnern, die hier von 1938 bis zur Befreiung durch US-Truppen am 5. Mai 1945 interniert waren.
KZ-BEFREIUNGSFEIER IN MAUTHAUSEN: SPANISCHES KÖNIGSPAAR LETIZIA / FELIPE VI/VAN DER BELLEN
Rund 20.000 Menschen aus aller Welt, darunter Ehrengäste wie Spaniens König Felipe VI. und Königin Letizia sowie Bundespräsident Alexander Van der Bellen, nahmen an der Gedenkfeier teil.
Vor dem Denkmal für die ukrainischen Opfer hat die ukrainische Botschaft Plakatständer mit Fotos ehemaliger Häftlinge arrangiert. Auf einem von ihnen ist Petrovskas Vater zu sehen, ein Mann mittleren Alters mit freundlichem Gesicht. Vasyl Ovdiienko (1902 bis 1982), steht auf dem Schild, sowjetischer Kriegsgefangener, geboren im Oblast Sumy. „Das ist er“, sagt Petrovska. Die 90 Jahre alte Ukrainerin ist aus ihrem Berliner Exil angereist, um ihres Vaters zu gedenken.
Als sowjetischer Kriegsgefangener wurde Ovdiienko ins Kriegsgefangenenlager Pongau und später nach Mauthausen deportiert. „Er erzählte kaum von damals“, sagt Petrovska, „nur die Todesstiege hat er erwähnt und dass er Steine geschleppt habe.“
Die „Todesstiege“ verband das KZ mit dem Steinbruch „Wiener Graben“ unten am Hang des Berges. Häftlinge waren gezwungen, Granitblöcke über die 186 Stufen zu schleppen. „Vernichtung durch Arbeit“, so lautete die Parole der SS für das KZ Mauthausen. Der Alltag war geprägt von Schwerstarbeit, von körperlicher und psychischer Folter, willkürlichen Schlägen und Exekutionen.
„Das braune Volk amüsierte sich“
Rund 200.000 Menschen wurden in Mauthausen und seinen mehr als 40 Nebenlagern von 1938 bis 1945 gefangen gehalten, die Hälfte überlebte die Torturen nicht. Zur systematischen Ermordung bestimmter Häftlingsgruppen wurde 1941 unter dem Krankentrakt eine Gaskammer errichtet.
An einem einzigen Tag wurden vor den Augen Heinrich Himmlers 1000 niederländische Juden aus einer Höhe von über 50 Metern hinuntergeworfen.
Simon Wiesenthal
Die geringsten Überlebenschancen hatten jüdische Häftlinge sowie Roma und Sinti, die in der rassistischen Hierarchie der SS ganz unten standen. „Juden in Mauthausen wurden selten erschossen“, berichtet der Holocaust-Überlebende Simon Wiesenthal in seinen 1995 erschienenen Mauthausen-Aufzeichnungen „Denn sie wussten, was sie tun“: „Für sie war der ‚Wiener Graben‘ bestimmt. An einem einzigen Tag, dem 31. März 1943, wurden vor den Augen Heinrich Himmlers (als „Reichsführer SS“ organisierte Himmler die Vernichtung europäischer Juden, Anm.) 1000 niederländische Juden aus einer Höhe von über 50 Metern hinuntergeworfen. Die SS nannte sie ‚Fallschirmspringer‘. Das braune Volk amüsierte sich!“
Auch Kriegsgefangene aus der Sowjetunion überlebten meist nicht lange. Gegen Kriegsende, als die Bedingungen im Lager ihren Tiefpunkt erreichen, versuchen rund 500 sowjetische Offiziere die Flucht aus dem Todesblock. Bei der folgenden, zynisch als „Mühlviertler Hasenjagd“ bezeichneten Menschenhatz jagen und ermorden SS-Männer, Gendarmen und ganz normale Bürger die Flüchtlinge gnadenlos. Nur elf überleben, dank dreier Bauernfamilien, die sie verstecken und versorgen.
Als US-Truppen das Lager am 5. Mai betreten, finden sie Leichenberge vor, die Überlebenden sind bis auf die Knochen abgemagert. Abertausende sind dermaßen geschwächt, dass sie trotz medizinischer Versorgung in den Wochen und Monaten nach der Befreiung sterben.
Zu ihnen gehörte Pavel Kovela, dessen Angehörige sich um den Plakatständer mit dem Foto Kovelas und seiner Familie versammelt haben. Der sowjetische Bataillonsführer geriet im Jahr 1941 in der Region Tscherkassy in der heutigen Ukraine in deutsche Kriegsgefangenschaft und schuftete in unterschiedlichen Arbeitskommandos, bevor er im Juli 1944 nach Mauthausen deportiert wurde.
Dann hat er gesagt: ‚Mein kleines Küken, ich bin dein Vater!'
Svitlana Petrovska, Tochter eines Überlebenden
Auf dem Foto aus dem Jahr 1940 ist der junge Mann mit seiner Ehefrau Lidia und den beiden kleinen Kindern abgebildet. 80 Jahre nach der Befreiung des KZ sind die Nachfahren des kleinen Buben von damals nach Mauthausen gekommen, um Kovela zu gedenken. Er starb, geschwächt von jahrelanger Folter durch die SS, noch im Mai 1945 an den Folgen der Lagerhaft.
Von Mauthausen in den Gulag
Vasyl Ovdiienkos Familie in Kyiv weiß lange nicht, was mit ihm geschehen ist. Ende Juni 1945 erreicht sie der Brief einer sowjetischen Ärztin, die ihn in einem Krankenhaus betreut: Vasyl lebt.
Am 3. September, einem Montag, ist die damals zehnjährige Svitlana allein zu Hause in Kyiv, als es an der Türe klopft. „Wer bist du?“, habe sie den fremden Mann gefragt. Er habe lange geschwiegen, erinnert sie sich fast 80 Jahre später. „Dann hat er gesagt: ‚Mein kleines Küken, ich bin dein Vater!‘“
Doch der Vater darf nicht bleiben. Eine Stunde habe er Zeit gehabt, seine Sachen zu packen, sagt Petrovska. Noch am selben Tag wird er in den Gulag deportiert.
Das Sowjet-Regime betrachtete Soldaten, die aus deutscher Kriegsgefangenschaft zurückkehrten, als Verräter, Zigtausende wurden zur Zwangsarbeit in Gulags gebracht. „Jeder stand unter Verdacht“, sagt Petrovska. Erst nach zwei Jahren sei der Vater heimgekehrt. Doch er fand keine Arbeit, und eine Rückkehr in ein normales Familienleben war ihm nicht möglich. „Zuerst der deutsche Faschismus, dann der russische, das war zu viel für ihn“, sagt Petrovska. Im Westen der Ukraine habe ihr Vater schließlich Arbeit in einer Kolchose gefunden.
Sie besucht den Vater ab und zu, sie sprechen über alles, nur nicht darüber, was in Österreich mit ihm geschehen ist. Die Tochter ist enttäuscht von ihm, weil er die Familie verlassen hat, erst später habe sie die Zusammenhänge verstanden. Petrovska studiert Geschichte, arbeitet als Lehrerin und heiratet einen Professor für Literatur. Sie liest viel, auch Verbotenes, Erzählungen von Überlebenden der Gulags, Bücher über die Konzentrationslager des NS-Regimes. Sie beginnt zu begreifen, was der Vater durchgemacht hat.
„Erst nach 30 Jahren kehrte mein Vater zurück“, sagt Petrovska, „er kam zum Sterben nach Hause.“ Die letzten Wochen verbringt er mit der Familie, seiner Frau, den beiden Töchtern und den Enkelkindern. Vor seinem Tod kniet Petrovska vor ihm nieder, fragt ein letztes Mal nach, bittet ihn zu erzählen, was geschehen ist. Er spricht von den ersten Kriegstagen in Kyiv, als sie noch als Familie zusammenlebten. Von der Angst und davon, dass sie kaum Waffen hatten. Er weint. Über Mauthausen kann er bis zuletzt nicht sprechen.
Svitlana Petrovska tritt aus dem Schatten des Baumes, unter dem sie ihre Geschichte erzählt hat, es ist Zeit für die offizielle Kranzniederlegung auf dem ehemaligen Appellplatz. Der Zug der Delegationen, die vom Tal hinauf Richtung Festung strömen, scheint endlos. Die Nationalsozialisten haben Traumata in der ganzen Welt hinterlassen, Vertreter aus mehr als 40 Nationen sind angereist. Russland war wegen des Angriffskrieges in der Ukraine nicht eingeladen, Botschaftsvertreter legten ihre Kränze in der Früh vor Beginn der Feierlichkeiten nieder.
Doch im Zug der Delegationen sind auch ein paar russische Flaggen zu sehen, und gegen Mittag kommt es zu einer Auseinandersetzung zwischen Teilnehmern der Gedenkfeier.
Schließlich eilt Willi Mernyi herbei, der Vorsitzende des Mauthausen Komitees Österreich, und schlichtet den Streit mit dem Hinweis, man dürfe nicht allen Russen Kollektivschuld am Krieg in der Ukraine geben. Einige Flaggen seien an diesem Tag durchaus verboten, doch die russische gehöre nicht dazu. „Wer bin ich, jemandem das Gedenken zu verbieten?“, sagt Mernyi im Gespräch mit profil, „das ist hier nicht der Ort für Auseinandersetzungen wie diese.“
Ukraine fordert Denkmal in Wien
Für Ukrainerinnen und Ukrainer wie Svitlana Petrovska ist es an diesem Tag schwer, die aktuellen Verbrechen in ihrer Heimat von den Feierlichkeiten in Mauthausen zu trennen. Als Russland seinen Angriff auf die Ukraine startete, floh sie nach Deutschland zu ihrer Tochter. Die Entwurzelung macht der 90-Jährigen zu schaffen.
Lauten Protest vonseiten ukrainischer Gegendemonstranten gab es auch, als russische Aktivisten am vergangenen Samstag, dem 80. Jahrestag der Kapitulation Nazi-Deutschlands, durch Wien marschierten. Die Kundgebung endete auf dem Schwarzenbergplatz vor dem Heldendenkmal der Roten Armee.
Das sogenannte Russendenkmal ist immer wieder Schauplatz für politische Auseinandersetzungen. In der Roten Armee kämpften neben Russen auch Ukrainer, Kaukasier, Zentralasiaten und ethnische Minderheiten, doch sie finden auf dem Schwarzenbergplatz keine Erwähnung.
„Ukrainische Verbände waren maßgeblich an der Befreiung Wiens beteiligt“, sagt der ukrainische Botschafter Vasyl Khymynets im Gespräch mit profil, „das wurde lange unterschätzt.“ Etliche seiner Landsleute hätten bei der Schlacht um Wien ihr Leben gelassen. „Für uns ist es eine Kränkung, dass ihrer nicht gedacht wird“, sagt Khymynets, „und wir vor einem Denkmal stehen, das Stalin huldigt.“ Der Botschafter fordert eine eigene Gedenkstätte in Wien für die Gefallenen aus der Ukraine: „Im Sinne der Gedenkkultur, so wie hier in Mauthausen, wo wir seit dem Jahr 2000 unseren eigenen Platz haben.“
Der Gedenkzug neigt sich dem Ende zu, die Feierlichkeiten sind beim Buchstaben U angekommen, und die Delegation aus der Ukraine schreitet durch das Tor auf den Appellplatz, um ihren Kranz niederzulegen. Auf wackeligen Beinen steht Svitlana Petrovska im Zentrum jenes Ortes, der ihren Vater so viel gekostet hat. Tränen laufen über ihre Wangen, ein Soldat stützt sie.
„Nichts kann ausgelöscht werden“, zitierte kurz zuvor der Präsident des Comité International de Mauthausen Guy Dockendorf die Holocaust-Überlebende Simone Veil, „weder die Transporte, noch die Zwangsarbeit, die Gefangenschaft, die Baracken, die Krankheit, die Kälte, der Schlafentzug, der Hunger, die Demütigungen, die Erniedrigungen, die Schläge, die Schreie ... Nichts kann, nichts darf vergessen werden.“
Das gilt auch für das Leid Vasyl Ovdiienkos und für den Schmerz seiner Tochter Svitlana Petrovska. 80 Jahre nach Kriegsende trauert die 90-Jährige noch immer um ihren Vater, den Mauthausen nie verlassen hat.