Genozid-Vorwürfe gegen Israel: Im Zweifel für den Angeklagten
Anfang der 1940er-Jahre sitzt der polnische Jude Raphael Lemkin in seinem Exil in den USA und sucht nach einem Wort. Es soll die Gräuel beschreiben, die das Nazi-Regime seinem Volk antut. Seit Jahrzehnten befasst sich der Jurist mit den schlimmsten Verbrechen, die Menschen aneinander begehen. Als junger Mann studierte er den Massenmord an den Armeniern durch das Osmanische Reich, 20 Jahre später ist er selbst betroffen. Die Nationalsozialisten ermorden fast seine gesamte Familie, nur der Bruder und die Schwägerin überleben.
Der Begriff, den Lemkin um das Jahr 1941 herum prägte, besteht bis heute: „Genozid“, auf Deutsch Völkermord, beschreibt alle gezielten Angriffe auf eine Bevölkerungsgruppe mit dem Ziel, diese zu vernichten. Die Definition, die Lemkin in sein 1944 erschienenes Buch „Axis Rule in Occupied Europe“ schreibt, gilt im Großen und Ganzen noch immer. Nach einigen Änderungen floss sie im Jahr 1948 in die Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes der Vereinten Nationen ein.
KONVENTION ÜBER DIE VERHÜTUNG UND BESTRAFUNG DES VÖLKERMORDES
In dieser Konvention bedeutet Völkermord eine der folgenden Handlungen, die in der Absicht begangen wird, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören:
a) Tötung von Mitgliedern der Gruppe;
b) Zufügung von schwerem körperlichem oder seelischem Schaden an Mitgliedern der Gruppe;
c) vorsätzliche Unterwerfung der Gruppe unter Lebensbedingungen mit dem Ziel, ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen;
d) Verhängung von Maßnahmen, die auf die Geburtenverhinderung innerhalb der Gruppe gerichtet sind;
e) gewaltsame Überführung von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe.
Fast 80 Jahre später geistert der monströse Begriff im Zusammenhang mit dem Vorgehen der israelischen Regierung in Gaza durch die Medien. Er beschäftigt Historiker und Juristen, sorgt für erbitterten Streit und ist Gegenstand einer Klage gegen Israel vor dem Internationalen Gerichtshof.
Nach dem barbarischen Angriff der Terrororganisation Hamas am 7. Oktober 2023 überwog die Ansicht, Israels Krieg im Gazastreifen sei gerechtfertigt. Doch je brutaler das Vorgehen der israelischen Streitkräfte wurde, desto lauter wurden die Zweifel daran. Mittlerweile bezeichnen zahlreiche Völkerstrafrechtler und Historiker das Vorgehen der israelischen Regierung gar als Genozid.
Ausgerechnet Israel.
Ins Leben gerufen wurde die Völkermordkonvention als Reaktion auf den Holocaust, und nun soll Israel schuldig sein – jenes Land, das als Folge des schlimmsten Genozids der Geschichte gegründet wurde? Es ist ein Tabu, im Zusammenhang mit dem Vorgehen der israelischen Regierung in Gaza von einem Völkermord zu sprechen. Ein Tabu, das immer mehr Expertinnen und Experten brechen.
Heikle Argumente
„Man kann überzeugend argumentieren, dass Israels Reaktion den Straftatbestand des Genozids erfüllt“, sagte etwa William Schabas, einer der weltweit führenden Genozid-Experten, Ende 2024 zum „Spiegel“. „Es gibt kein Auschwitz in Gaza. Aber es ist dennoch Genozid“, schrieben die israelischen Historiker Daniel Blatman und Amos Goldberg wenig später in der Tageszeitung „Haaretz“. Von Völkermord spricht auch die Präsidentin der Internationalen Vereinigung der Genozidforscher Melanie O’Brien. Und der Holocaust-Forscher Raz Segal nennt das Vorgehen der israelischen Regierung gar einen „Genozid wie aus dem Lehrbuch“.
In der „New York Times“ schilderte der israelische Historiker und Völkermordforscher Omer Bartov kürzlich detailliert, wieso er das Vorgehen Israels für einen Genozid am palästinensischen Volk hält. Die systematische Zerstörung von Wohnraum und Infrastruktur, darunter Krankenhäuser und Schulen, Wasseraufbereitungsanlagen und landwirtschaftliche Flächen, zielte darauf ab, Palästinensern das Leben in dem Gebiet zu verunmöglichen.