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Expertin über Völkermordklage gegen Israel: „Beweisstandard ist hoch“

Israels Vorgehen in Gaza falle teils unter die Definition der Völkermordkonvention, sagt Astrid Reisinger Coracini. Im Gespräch mit profil erklärt die Expertin für Völkerstrafrecht, wieso es theoretisch besser wäre, den Begriff Genozid abzuschaffen.

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Immer mehr Expertinnen und Experten bezeichnen das Vorgehen der israelischen Regierung im Gazastreifen als Völkermord. Können Sie das nachvollziehen?

Reisinger Coracini

Die Völkermordkonvention beschreibt fünf sehr spezifische Tathandlungen. Diese überschneiden sich mit Definitionen von Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Um einen Völkermord zu verwirklichen, bedarf es eines besonderen Vorsatzelements: die Absicht, eine bestimmte „nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe ganz oder teilweise zu zerstören“. Letztlich wird ein Gericht auf der Grundlage von Beweisen feststellen, ob es sich in Gaza um Völkermord handelt.

Wie beurteilen Sie das?

Reisinger Coracini

Dazu müsste man die ganze Fülle der Beweise vor sich haben. Wir sehen in Gaza Handlungen, die grundsätzlich unter die Definition der Völkermordkonvention fallen. Das betrifft in besonderem Maß die Vorenthaltung lebensnotwendiger Güter. Auch Aussagen mancher Politiker deuten in diese Richtung.

War der Angriff der Hamas auf Israel Völkermord?

Reisinger Coracini

Die Massaker vom 7. Oktober stellen jedenfalls Handlungen dar, die unter die Völkermordkonvention fallen. Auch hier stellt sich die Frage der Völkermordabsicht, wobei es etwa in der ursprünglichen Charta der Hamas aus 1988 Passagen gibt, die zum heiligen Krieg und zur Vernichtung der Juden aufrufen. Wenn das die ideologische Grundlage der Täter ist, kann es als Beweis für die Völkermordabsicht herangezogen werden. Strafrechtlich könnten Hamaskämpfer etwa vor dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) verfolgt werden, die Hamas als nicht-staatlicher Akteur kann allerdings nicht vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) zur Verantwortung gezogen werden.

Die Absichtserklärung der Nazis, die Juden auszulöschen, findet sich im Wannseeprotokoll von 1942 in der „Endlösung der Judenfrage“. Eine solche Absichtserklärung hat Israel nie über die Palästinenser formuliert.

Reisinger Coracini

Die systematische Vernichtung des europäischen Judentums ergibt sich aus vielen Aussagen und Dokumenten. Beweistechnisch war das Protokoll der Wannseekonferenz, von dem eine Kopie erhalten blieb, aber eine ausgesprochen gute Ausgangsposition. Hier wurden sowohl die Absicht als auch die Mittel zur Zielerreichung, wie man effizient möglichst viele Menschen vernichten wollte, explizit dargelegt. Bei den Nürnberger Prozessen wurde dies unter dem Titel Verbrechen gegen die Menschlichkeit strafrechtlich geahndet, denn der Begriff des Völkermordes wurde erst nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffen.

Was könnte im Fall Israels als Beweis gelten?

Reisinger Coracini

Die Völkermordabsicht kann sich aus Dokumenten ergeben, aber auch direkt oder indirekt aus Äußerungen mutmaßlicher Täter. Aussagen von Politikern können besonders relevant werden, wenn sie Teil einer Befehlskette sind oder wenn sie eine Atmosphäre erzeugen, die Einzeltäter zu Gewalt verleitet. Eine Völkermordabsicht kann aber auch indirekt aus Handlungen und Handlungsmustern abgeleitet werden.

Ist es ein Indiz, wenn israelische Regierungsmitglieder und Militärs von „menschlichen Tieren“ sprechen, vom „Auslöschen Gazas“ und dem Aushungern der Bevölkerung?

Reisinger Coracini

Dehumanisierung und Missachtung der Menschenrechte sind immer ein Warnsignal und Indiz.

Siobhán Geets

Siobhán Geets

ist seit 2020 im Außenpolitik-Ressort.