Auch wenn die Politiker das unmittelbar nach dem 7. Oktober sagten? Da stand das Land unter Schock.
Reisinger Coracini
Das ist eine Frage der Beweiswürdigung. War die Aussage Ausdruck des Schocks nach den traumatischen Ereignissen oder ist von politisch Verantwortlichen nicht gerade in Extremsituationen gefordert, Emotionen nicht weiter zu schüren und stattdessen klare rechtliche Rahmenbedingungen aufzuzeigen? Inwieweit flossen manche Aussagen danach in Befehlsketten ein? Diese Einordnung werden die Richter vornehmen müssen.
Im Fall der Klage gegen Israel vor dem IGH müsste der Kläger – Südafrika – die Beweise einbringen?
Reisinger Coracini
Südafrika und jene Staaten, die sich dieser Klage anschließen.
Am IGH ist die Hürde für die Feststellung eines Genozids hoch: Die Völkermordabsicht muss die „einzige vernünftige Schlussfolgerung“ aus den Indizien sein. Israel könnte also sagen: Wenn wir wirklich versucht hätten, die Palästinenser als Volk auszulöschen, dann hätten wir keinen Waffenstillstand vereinbart, keine Hilfsgüter verteilt …
Reisinger Coracini
Ein solches Vorbringen müsste jedenfalls berücksichtigt werden, ja. Wurden Hilfslieferungen ermöglicht, wurden diese in einem ausreichenden Maß ermöglicht – oder handelte es sich dabei um vereinzelte Maßnahmen, die nur pro forma waren.
Südafrika muss also beweisen, dass die Indizien allein die Schlussfolgerung der Völkermordabsicht zulassen. Israel muss hingegen nur zeigen, dass die Indizien auch andere Schlussfolgerungen zulassen. Ist eine Verurteilung überhaupt denkbar?
Reisinger Coracini
Verurteilung ist der falsche Begriff. Es geht vor dem IGH um eine Feststellung der Verletzung der Völkermordkonvention, wenn ein Staat einen Völkermord begangen oder einen solchen nicht verhindert hat. Fakt ist, dass der Beweisstandard sehr hoch und schwierig zu erreichen ist.
Was wären die Konsequenzen eines Urteils zuungunsten Israels?
Reisinger Coracini
Israel müsste festgestellte völkerrechtswidrige Handlungen sofort beenden und Wiedergutmachung für materielle und immaterielle Schäden leisten. Im Grunde müsste der Stand vor der Völkerrechtsverletzung wiederhergestellt werden oder Schadenersatz geleistet werden. Zu denken wäre hier etwa an Wiederaufbau und die Rückkehr der Bevölkerung.
Wann ist mit einem Urteil zu rechnen?
Reisinger Coracini
Das ist derzeit nicht absehbar.
Myanmar wird vor dem IGH Genozid an den Rohingya vorgeworfen. Deutschland und andere Länder wollen, dass der IGH die hohe Beweisschwelle für die Absicht senkt. Das Verhalten müsse stärker berücksichtigt werden, zum Beispiel Zwangsvertreibungen und Gewalt gegen Kinder. In Gaza wurden Zehntausende Kinder getötet, die meisten Menschen wurden mehrfach vertrieben. Folgen die Richter der Forderung Deutschlands, müssten diese Kriterien dann auch für Israel gelten?
Reisinger Coracini
Das sollte man meinen, ja. Sollte der IGH von seiner bisherigen Rechtsprechung abweichen, wird er das in sämtlichen Fällen tun. Fordert Deutschland das bei Myanmar, dann müsste dieser Anspruch für alle Verfahren gelten. Ob dies der Fall ist, ist fraglich. Explizit geäußert wurde die Forderung nur für Myanmar.
Nicaragua klagt Deutschland vor dem IGH wegen „Begünstigung eines Völkermordes“. Es geht um Mittäterschaft wegen Deutschlands Waffenlieferungen an Israel. Welche Aussichten haben solche Klagen, wo es doch nicht einmal ein Urteil über den Völkermord gibt?
Reisinger Coracini: Das sind parallele Verfahren. Es ist anzunehmen, dass der IGH zuerst das Völkermordverfahren abschließt und sich dann, falls der Vorwurf bejaht werden sollte, dem anderen Fall widmet.
Was wäre die Konsequenz für Deutschland?
Reisinger Coracini
Dieselbe wie im Fall Israels. Völkerrechtswidrige Handlungen müssten sofort beendet und dürften nicht wieder begonnen werden. Möglicherweise wäre Wiedergutmachung zu leisten.
Was ist der Unterschied zwischen Genozid und „Acts of Genocide“?
Reisinger Coracini
Diese Terminologie ergibt sich aus der Völkermordkonvention. Acts bezieht sich auf die einzelnen Handlungen, die in der Völkermordkonvention beschrieben werden. Wenn diese genozidalen Handlungen begangen werden, allerdings ohne Vernichtungsabsicht, ist der Tatbestand des Völkermordes nicht erfüllt.
Was ist der Unterschied zwischen Genozid und ethnischer Säuberung?
Reisinger Coracini
Ethnische Säuberung ist kein juristischer Begriff. Gewöhnlich versteht man darunter die Vertreibung von Menschen, die einer Gruppe zugehörig sind, aus einem bestimmten Gebiet, aber das fällt nicht per se unter die Völkermordkonvention.
Genozide beginnen oft mit Vertreibung, wie während des Holocaust, in Namibia oder bei den Armeniern im Osmanischen Reich. Auch in Gaza werden Menschen vertrieben.
Reisinger Coracini
Die Vertreibung oder zwangsweise Überführung an sich ist keine strafbare Handlung im Sinne der Völkermordkonvention. Wenn sie mit Gewalt einhergeht und es zu Tötungen oder Körperverletzungen kommt, dann liegen allerdings relevante Handlungen vor und es wird auf den Nachweis der Vernichtungsabsicht ankommen. Auch die Überführung von Kindern von einer Gruppe in eine andere gehört dazu. Ansonsten können Vertreibung und Zwangsüberführung Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Kriegsverbrechen darstellen. Es gibt aufgrund der Schutzpflichten der Kriegsparteien aber auch Rechtfertigungen, warum Menschen zwangsweise überführt werden, z.B. als Schutzmaßnahme vor einer Bombardierung. Werden aber Menschen vertrieben, um eine geschützte Gruppe zu zerstören und es kommt zu Tötungen oder es sind auch Kinder dabei, dann könnte es sich um Völkermord handeln. Es geht um den Kontext.
Der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) hat im vergangenen November Haftbefehl gegen Israels Premier Benjamin Netanjahu und den damaligen Verteidigungsminister Joav Gallant erlassen – wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Wieso nicht wegen Völkermord?
Reisinger Coracini
Bei den bestehenden Haftbefehlen wollte der IStGH rasch handeln und ein Zeichen setzen, um zu zeigen, dass hier möglicherweise Völkerstraftaten geschehen. Der Ankläger hat Aspekte gewählt, die aufgrund der Beweislage einen begründeten Verdacht ergaben. Allen voran das Aushungern der Bevölkerung in Gaza, gezielte Angriffe und Verfolgung. Womöglich gibt es aber auch weitere Haftbefehle, die unter Verschluss sind.
Es kann sein, dass es Haftbefehle gegen Netanjahu und Gallant wegen Völkermordes gibt, und die beiden wissen nichts davon?
Reisinger Coracini
Das ist nicht auszuschließen. Die Ermittlungen gehen weiter. Und der Ankläger hat von der Vorverfahrenskammer die Vorgabe erhalten, dass er nicht mehr ankündigen darf, gegen wen Haftbefehl beantragt wurde.
Besteht die Gefahr, dass die Debatte über Völkermord von anderen schweren Kriegsverbrechen ablenkt?
Reisinger Coracini
Nicht unbedingt, denn die Handlungen überschneiden sich. Die Essenz der Debatte ist das Leid der Zivilbevölkerung, und der Völkermord gibt dem einen greifbaren Namen. Er gilt als das verwerflichste Verbrechen, das man sich vorstellen kann. Fälschlicherweise, denn eigentlich gibt es innerhalb der Völkerstraftaten keine Hierarchie: Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und das Verbrechen der Aggression stehen rechtlich auf einer Ebene. Letztlich ist es eine diffizile juristische Diskussion, inwieweit Tatbestandselemente von Völkerstraftaten erfüllt wurden. Diese Debatte lenkt eher davon ab, was vor Ort passiert. Wenn man etwas verhindern will, dann ist es irrelevant, wie das später in Gerichtsverfahren betitelt wird. Der „Vorteil“ der Völkermordkonvention ist, dass sie, anders als andere Verletzungen des Völkerrechts, in vielen Fällen den Weg zum IGH ermöglicht. Deshalb gibt es derzeit eine Häufung von Verfahren wegen Völkermord.
Wäre es klug, den Begriff Völkermord abzuschaffen und stattdessen alles unter „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ zusammenzufassen, wie manche Juristen fordern?
Reisinger Coracini
Den Begriff abzuschaffen, würde uns diese Debatten ersparen.
Und das wäre klug?
Reisinger Coracini
Theoretisch ja, praktisch nein. Das gesamte Völkerstrafrecht musste den Staaten abgerungen werden, weil oft staatliche Akteure involviert sind. Eine breit akzeptierte Konvention aufzugeben, wäre fatal. Die Völkermordkonvention war ein wichtiger Schritt, um den Holocaust rechtlich zu fassen. Man war sich darüber schnell einig, doch die Definition ist eng. Man wollte den Holocaust abbilden, die Planung zur Ausrottung der europäischen Juden. Das war ein Völkermord in einem nie da gewesenen industrialisierten Ausmaß. Die Frage ist, ob dieses Ausmaß immer erreicht werden muss, vor allem, weil die Konvention auch zur Verhinderung von Völkermord gedacht ist. Es kann passieren, dass wir uns in juristischen Spitzfindigkeiten aufreiben, statt zu sagen: Was hier passiert, das sollte nicht geschehen, das ist eine Völkerstraftat. Der Fokus sollte stärker auf die Opfer gerichtet sein.
Es braucht also die Genozidforschung, aber nicht den Straftatbestand?
Reisinger Coracini
Wir müssen uns der Grenzen des Straftatbestandes bewusst sein. Ein Schritt nach vorne könnte in der Besinnung auf den Ursprung des Tatbestands des Völkermordes und einer Aufwertung der "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" liegen. Verhandlungen zu einer umfassenden Konvention werden derzeit im Rahmen der Vereinten Nationen geführt.
Astrid Reisinger Coracini
ist Expertin für Völkerrecht und Völkerstrafrecht. Sie ist Senior Scientist am Fachbereich Völkerrecht, Europarecht und Grundlagen des Rechts an der Paris Lodron Universität Salzburg sowie Lehrbeauftragte am Juridicum in Wien.