Albaniens Ministerpräsident Rama und seine Amtskollegin Meloni am 6. November in Rom.
Migration

Italien will Flüchtlingslager in Albanien bauen: Was steckt dahinter?

Ist Italiens neuer Migrationsdeal mit Albanien ein Vorbild für andere EU-Länder? Nein, glaubt der Migrationsforscher Gerald Knaus.

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Auch ein Urlaub kann politisch sein. Das aktuell beste Beispiel dafür ist Giorgia Meloni, die weit rechtsstehende Ministerpräsidenten Italiens. Von Apulien reiste sie diesen Sommer spontan auf die andere Seite der Adria nach Albanien und besuchte ihren Amtskollegen Edi Rama in seiner Ferienresidenz am Meer. Dass Rama Chef einer sozialistischen und Meloni  Chefin einer postfaschistischen Partei ist, war offenbar kein Hindernis.

Seit gestern ist bekannt, worüber Meloni und Rama im Sommer gesprochen haben: einen bilateralen Migrationsdeal, der Wellen in ganz Europa schlagen könnte. Italien will in Albanien Zentren zur Aufnahme von Geflüchteten errichten und prüfen, ob sie schutzbedürftig sind oder nicht. Vereinfacht gesagt: Albanien soll Italiens Asyl-Hotspot an der EU-Außengrenze werden.

Seit Jahren wird in der EU diskutiert, ob Asylverfahren in Drittstaaten durchgeführt werden sollen, beispielsweise in Ruanda oder Tunesien. Auch Albanien war immer wieder im Gespräch. Edi Rama hat solche Auffanglager bisher kategorisch abgelehnt. 2018 polterte er in einem Interview mit der BILD-Zeitung, Menschen seien „kein Giftmüll“ den man irgendwo abladen könne.

„Wir werden niemals solche EU-Flüchtlingslager akzeptieren“, so Rama damals. Dieses Zitat muss er seit gestern revidieren, denn für Italien, Albaniens wichtigsten Handelspartner, will Rama offenbar eine Ausnahme machen. Der Deal kam überraschend. Für Albaniens Öffentlichkeit sowieso, aber auch für die EU-Kommission, die nicht eingebunden war.

Der Deal kam überraschend. Für Albaniens Öffentlichkeit sowieso, aber auch für die EU-Kommission, die nicht eingebunden war.

Worum geht es?

Rama und Meloni haben am Montag ein Abkommen unterzeichnet. Bis zum Frühjahr 2024 sollen in Albanien zwei von Italien verwaltete Flüchtlingsaufnahmezentren für bis zu 3.000 Migranten entstehen. „In diesen beiden Zentren werden die Migranten so lange bleiben, wie es für die regulären Aufnahmeverfahren erforderlich ist, und sobald die Zentren voll funktionsfähig sind, kann ein jährlicher Zustrom von insgesamt 36.000 Personen in Richtung Albanien erfolgen“, prognostizierte Meloni. In der Praxis bedeutet das: Auf albanischem Territorium soll geprüft werden, ob Menschen Schutz in Italien bekommen oder nicht. 

Kommen dadurch weniger Menschen in Italien an?

Obwohl Meloni als Hardlinerin in Migrationsfragen gilt, sind die Zahlen der Ankömmlinge in Italien während ihrer Amtszeit stark gestiegen. Im Jahr 2023 kamen 145.000 Menschen in Italien an, im Vergleich zu rund 88.000 im gleichen Zeitraum 2022. Meloni ist unter Druck. Sie hat versprochen, entschieden gegen Migration vorzugehen und die Zahlen zu verringern. Der Deal mit Albanien sei dafür aber der falsche Weg, sagt der Migrationsforscher Gerald Knaus.

Camps in Albanien, ein touristisches Land an der Adria, werden Menschen ganz sicher nicht davon abhalten, sich auf den Weg nach Europa zu machen. Das Abkommen verschiebt Migrationsrouten bloß, anstatt sich mit einer einheitlichen europäischen Lösung zu beschäftigen.

Wo entstehen die Lager?

Einer der Orte, an dem Italiens Camps entstehen sollen, ist Shëngjin, ein kleines Küstenstädtchen im Norden Albaniens. Der Urlaubsort hat 2021 Schlagzeilen gemacht, weil Albanien sich bereiterklärte, dort nach der Machtübernahme der Taliban Tausende  Afghanen in Hotels unterzubringen. Abseits der im Winter leerstehenden Ferienwohnungen und Hotelanlagen gibt es allerdings keine großflächige Infrastruktur für die Aufnahme von Flüchtlingen, also beispielsweise Zeltstädte oder Container-Camps. Italien müsste diese Aufnahmelager in wenigen Monaten aus dem Boden stampfen und außerdem Experten-Personal entsenden, um schnelle Asylverfahren zu garantieren. Ob das wie angekündigt bis zum Frühjahr 2024 möglich sein wird, ist fraglich.

Wer kommt in die Camps?

Nur Geflüchtete, die auf See von der italienischen Küstenwache gerettet werden, sollen nach Albanien kommen. Derzeit gibt es zwei Hauptrouten von Nordafrika nach Italien, erklärt der Migrationsforscher Gerald Knaus: „Jene, die über Tunesien kommen, überwiegend Westafrikaner, stranden meist auf der Insel Lampedusa. Wer die Schlepperrouten über Libyen nimmt, wird häufig auf See von der Küstenwache aufgegriffen. Es handelt sich überwiegend um Menschen aus Ägypten, Bangladesch oder Pakistan.“ Ein Großteil von ihnen – Knaus schätzt 80 Prozent – bekomme keinen Schutz in Italien. „Viele tauchen unter, arbeiten in der Landwirtschaft oder machen sich auf dem Landweg auf in ein anderes EU-Mitgliedsland“, so Knaus. Das sei auch der Haken an dem Abkommen mit Albanien. Die große Frage lautet: Was soll mit den Menschen passieren, die abgewiesen werden?

Die große Frage lautet: Was soll mit den Menschen passieren, die abgewiesen werden?

Gerald Knaus, Migrationsexperte

Ein Revival der Balkanroute?

„Die Personen werden so lange in Albanien verbleiben, wie es für die Bearbeitung ihres Asylantrags erforderlich ist, und möglicherweise zurückgeschickt“, kündigte Meloni an. Für Letzteres, also Abschiebungen in die Herkunftsländer, fehlen den Balkanländern allerdings die bilateralen Abkommen. „Albanien würde, ebenso wie Italien oder Deutschland, an diesen Rückführungen scheitern“, sagt Gerald Knaus. Aus seiner Sicht bleiben damit nur zwei Szenarien: „Hält Albanien abgelehnten Asylwerber fest, dann werden die Camps schon bald voll sein. Viel wahrscheinlicher ist dann jedoch, dass die Menschen den Weg über die Balkanroute in Richtung Norden nehmen.“ Albanien lag, anders als Bosnien-Herzegowina oder Serbien, an der Peripherie der Balkanroute. Durch den Deal mit Italien könnte es zum neuen Transitland für Geflüchtete werden.

Albanien würde, ebenso wie Italien oder Deutschland, an den Rückführungen scheitern

Gerald Knaus, Migrationsexperte

Wer profitiert am Ende?

Gelöst werde mit den italienischen Auffanglagern in Albanien nichts, resümiert Gerald Knaus. Kurzfristig könnten aber sowohl die albanische als auch die italienische Regierung vom Deal profitieren. Giorgia Meloni innenpolitisch und Edi Rama außenpolitisch.

Meloni folgt der Strategie „Aus den Augen, aus dem Sinn“, in dem sie die Migrationsströme nach Albanien umlenkt. Sie kann zeigen, dass sie auf eigene Faust vermeintliche Lösungen findet, ohne sich von der EU abhängig zu machen.

Rama konnte den Deal durchbringen, weil er de facto im Alleingang regiert. Die Opposition ist zersplittert und schwach, die albanische Gesellschaft aufgrund der eigenen Migrationsgeschichte traditionell offen gegenüber Flüchtlingen aus aller Welt. Bereits die Aufnahme der Geflüchteten aus Afghanistan im Jahr 2021 hat Ramas Regierung viele Vorteile verschafft, darunter Wirtschaftsdeals mit den USA und positive Schlagzeilen. 

Rama, dessen Land seit 2022 Beitrittsgespräche mit Brüssel führt, konnte den EU-Mitgliedsländern den Spiegel vorhalten und sich als Verfechter einer humanen Flüchtlingspolitik inszenieren. Den Italien-Deal könnte Rama in Zukunft als Faustpfand nutzen, um in den EU-Verhandlungen Zugeständnisse zu erpressen. Wer Migration managt, der hat in Berlin, Paris und Wien ein Wort mitzureden. Meloni hat bereits versprochen, das kleine Balkanland im Beitrittsprozess zu unterstützen. Der bilaterale Deal untergräbt allerdings die Glaubwürdigkeit Brüssels in der Region, die aus diversen Gründen bereits stark leidet. Die Kriterien, wer Teil der EU wird und wer nicht, haben rein formal nichts mit der Aufnahme von Geflüchteten zu tun, sondern mit Rechtsstaat, Wettbewerbsfähigkeit und demokratischen Standards. Das zeigt nicht zuletzt das Beispiel Türkei. 

Franziska Tschinderle

Franziska Tschinderle

schreibt seit 2021 im Außenpolitik-Ressort. Studium Zeitgeschichte und Journalismus in Wien. Schwerpunkt Südosteuropa / Balkan.