NEOS Lab - REDE AN EUROPA mit Ivan Krastev (10. April 2019)
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Leben wir in Europa tatsächlich noch in Frieden, Herr Krastev?

Der Politologe Ivan Krastev über Putins Pläne in Europa, warum unsere Gesellschaften am Rande des Nervenzusammenbruchs sind und Trumps Beitrag zum Weltfrieden.

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Kaum jemand erklärt Russland, den Krieg und Europa besser als Ivan Krastev. Der Bulgare ist einer der bekanntesten Politologen des Kontinents und berät regelmäßig Regierungen, EU-Institutionen und große Unternehmen in geopolitischen Fragen. profil traf ihn in seinem Wiener Lieblingscafé „Pierre“ zum Gespräch: über Putins Krieg, Europas Panik und wie wir aus diesem Unfrieden wieder herauskommen.

Können Sie noch ruhig schlafen, bei allem, was auf der Welt so passiert?

Ivan Krastev

Es gibt schon ein enormes Maß an Besorgnis, und die ist sehr real. In gewisser Weise ist sie zum Teil unserer neuen Identität geworden. Ausgelöst wurden die Sorgen bereits in der Covid-Krise. Plötzlich geschahen Dinge, die zuvor unmöglich schienen. Wenn Sie eine Umweltschützerin sind, haben Sie sich vielleicht gewünscht, dass alle Flugzeuge am Boden bleiben. Vermutlich hätten Sie es nie für möglich gehalten, aber genau das passiert jetzt, immer wieder. Wenn Sie ein Rechtspopulist sind und von geschlossenen Grenzen geträumt haben, nun ja, sogar das war (während Corona, Anm.) plötzlich im Rahmen des Möglichen. So gesehen hat sich infolge dieser Krise unser Vorstellungsvermögen verändert.

Würden Sie sagen, dass wir hier in Europa noch in Frieden leben?

Krastev

Die Grenze zwischen Krieg und Frieden ist in Europa die mit Abstand am schlechtesten bewachte Grenze. Mein Kollege Mark Leonard hat ein Buch mit dem Titel „Unpeace“ geschrieben – ein alter englischer Begriff, der kaum noch verwendet wird, aber sehr treffend beschreibt, worüber wir sprechen. Nach dem Ende des Kalten Krieges kam es zu einer Explosion von Bürgerkriegen. Die großen Kriege sind nicht mehr Kriege zwischen Staaten, sondern innerstaatliche Kriege. Das sahen wir in Afrika, in Jugoslawien und anderswo. „Unpeace“ ist geprägt von massiver Instabilität, die nicht zwingend aus einer Auseinandersetzung zwischen Staaten herrührt. Woran erkennt man heute, dass man angegriffen wird? Wenn plötzlich Informationssysteme paralysiert sind – ist das der Beginn eines Krieges? Wenn plötzlich der Zugang zu Wasser unterbrochen wird – ist das ein Kriegsakt? Wäre Tolstoi noch am Leben, würde er vielleicht nicht „Krieg und Frieden“, sondern „Krieg und Unfrieden“ schreiben.

Es vergeht kaum eine Woche ohne Drohnen, die ganze Flughäfen in Europa lahmlegen, Tiefseekabel, die durchtrennt werden, gestörte GPS-Signale, Kampfjets, die fremde Lufträume verletzen. Die EU vermutet Russland hinter diesen Provokationen. Was bezweckt der Kreml damit?

Krastev

Der Zeitraum bis kommenden März wird in gewisser Weise kritisch dafür sein, wann und wie der Krieg in der Ukraine endet. Und vieles hängt eng mit der Bereitschaft Russlands zur Eskalation zusammen – um bestimmte Entscheidungen auf europäischer Seite zu verhindern. Erstens: der Eingriff in eingefrorene russische Vermögenswerte. Die EU muss entscheiden, ob sie die eingefrorenen russischen Vermögen nutzt, um die Ukraine im Krieg gegen Russland zu unterstützen. Das ist ein Schlüsselbeschluss – es geht um mehr als 140 Milliarden Euro. Damit ließen sich in der Ukraine fast zwei Jahre finanzielle und soziale Stabilität sichern sowie die Kriegsführung aufrechterhalten. Für Russland ist das heikel, weil die russische Wirtschaft Schwierigkeiten bekommt. Es steht auch die US-Entscheidung über weitreichende ballistische Raketen für die Ukraine an. Das hätte enorme Auswirkungen, etwa auf Russlands Öl-Infrastruktur, die jetzt schon ins Visier gerät. Russlands Botschaft an Europa folgt der klassischen Erpressungslogik: Tut das nicht – sonst sind wir bereit, noch weiter zu gehen.

Und deshalb schickt Moskau Drohnen?

Krastev

Diese Drohnenangriffe sind weniger ein Test militärischer Reaktionsfähigkeit, sie zielen darauf, Panik in den europäischen Gesellschaften auszulösen. Was auch immer die europäischen Regierungen tun, hat innenpolitische Konsequenzen: Reagieren sie nicht, wirkt Europa extrem verwundbar; schießen sie Flugzeuge ab, erscheint das als erhöhtes Kriegsrisiko. Das ist der Kern der Drohnentaktik: Sie zielt auf die politische Imagination europäischer Gesellschaften und erzeugt lähmende Ängste.

Marina Delcheva

Marina Delcheva

leitet das Wirtschafts-Ressort. Davor war sie bei der "Wiener Zeitung".