„Bullshit“ und Kulturkampf: Wieso Konservative nach rechts schielen
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War das der Sommer, an den wir uns mit Wehmut und einer gewissen Verwunderung erinnern werden? Der letzte Sommer eines liberaldemokratischen Deutschlands, in dem trotz gelegentlichen Beharrens auf Zi******schnitzel und N****kuss ein gesellschaftlich getragener Grundanstand gegenüber Andersfarbigen, -gläubigen, -denkenden und -liebenden herrscht? Ist diese Berliner Republik und ihr relativ entspanntes Miteinander von Wokeness und Wirklichkeit bald Geschichte?
Konkret, und das ist die Frage, die man sich zurzeit im Regierungsviertel der Hauptstadt stellt: Wann kollabiert die schwarz-rote Koalition, die doch erst in diesem Mai ihren Dienst aufnahm und als das nun aber wirklich allerletzte Bollwerk gegen ein weiteres Erstarken der rechtspopulistischen AfD betrachtet wurde? Und was folgt auf dieses prognostizierte Scheitern in Deutschland und Europa? „Wenn Union und SPD in den ersten 100 Tagen nicht liefern, werden die Leute dieser Bundesregierung nicht vertrauen“, sagte CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann damals. Diesen 100-Tage-Test hat die Regierung Merz nicht bestanden.

Kanlzer Merz, Vizekanzler Klingbeil: 100-Tage-Test nicht bestanden
© AFP/APA/AF/ODD ANDERSEN
Kanlzer Merz, Vizekanzler Klingbeil: 100-Tage-Test nicht bestanden
Nur 27 Prozent der Bundesbürger äußern sich laut einer Umfrage von „Bild am Sonntag“ zufrieden mit der Arbeit der Koalition. 44 Prozent meinen, Merz würde es noch schlechter machen als der unbeliebte SPD-Kanzler Olaf Scholz. „Wirtschaft gibt Regierung nach 100 Tagen gelbe Karte“, meldet das ZDF. Die „Welt“ bilanziert: „Viel versprochen, wenig gehalten.“ „Wenig Zufriedenheit mit Schwarz-Rot“, heißt es auch in der ARD-„Tagesschau“. Die Arbeitslosigkeit ist wieder auf über drei Millionen gestiegen, und die Wirtschaft wächst nicht wie erhofft.
Wenn am 8. September die offizielle Sommerpause der Parlamentarier endet und die Bundestagsabgeordneten ins Herbstfinale starten, dann wird die schwarz-rote Koalition wohl noch tiefer in die Krise rauschen, die sich schon vor den Sommerferien abzeichnete.
Vieles spricht dafür, dass sich die Widersprüche zwischen Union und Sozialdemokratie letztlich bis zum Auseinanderbrechen des Bündnisses verschärfen, denn von der Bestellung von Verfassungsrichtern bis zur Zukunft der Rente sind die Koalitionäre in vielen Punkten grundsätzlich uneins. „Wie lange ist Schwarz-Rot noch handlungsfähig?“, fragt deshalb der „Spiegel“, und Merz’ Kanzleramtsminister antwortet kryptisch: „Die nächsten sechs Monate werden bestimmt sehr anspruchsvoll.“
„Das öffentliche Störfeuer der Koalitionäre erinnert jetzt schon an die vorherige Regierung“, schreibt die „Neue Zürcher Zeitung“ und resümiert: „Ein Hauch von Ampel liegt in der Luft.“ Zur Erinnerung: Die unselige Ampelkoalition aus SPD, Grünen und FDP starb vor nicht einmal einem Jahr, am 6. November 2024. Dann kamen Neuwahlen, Merz kassierte die Schuldenbremse, um sich mit der SPD auf einen Koalitionsvertrag einigen zu können – und stolperte, weil ihm zunächst Stimmen aus der Regierungsmehrheit fehlten, erst nach einem blamablen zweiten Wahlgang ins Amt. Kein Aufbruch, nirgends. Es folgte ein extremer Sommer mit ungewohnter Hitze, bis zu 38 Grad in den Betonschluchten von Berlin, dann wieder schockierende Kälte und heftige Schauer. Ein Sommer, in dem die Politik nur scheinbar ruhte, auch wenn sich die meisten ihrer Repräsentanten an diverse Küsten- und Bergorte verzogen hatten.
"Where did you get that tan?"
Als braungebranntester Teilnehmer der europäischen Begleitschutzdelegation für Wolodymyr Selenskyj bei US-Präsident Donald Trump fing sich Merz lobende Worte ein („Where did you get that tan?“ – Wo haben Sie diese Bräune her?), kurzfristig entstand sogar das Gefühl, mit einem Kanzler Merz würde sich Deutschland seiner Führungsverantwortung in Europa stellen.

Merz mit dem Selenskyj und europäischen Amtskollegen bei Trump in Washington
© Getty Images/Win McNamee/Getty Images
Merz mit dem Selenskyj und europäischen Amtskollegen bei Trump in Washington
Doch während Merz schon von deutschen Soldaten in der Ukraine sprach, konnten sich Union und SPD noch nicht einmal auf die Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht verständigen. Die angestrebte deutsche „Kriegstauglichkeit“ bleibt Opfer deutscher Kompromissfähigkeit.

Merz bei Trump in Washington
© AFP/APA/AFP/SAUL LOEB
Merz bei Trump in Washington
Jenseits der Weltpolitik ist alles noch viel kleinteiliger: Bereits im Juni eröffnete die ehemalige Weinkönigin und jetzige Bundestagspräsidentin Julia Klöckner (CDU) die Saison der Kulturkampffestspiele.
Während Ungarns Autokrat Viktor Orbán den „Pride“-Marschierern in Budapest seine Verachtung zeigte und sich vor allem in Ostdeutschland rechtsextreme Gewalttaten gegen Homosexuelle und Transpersonen häufen, dekretierte die situationssensible Klöckner, dass der Reichstag anders als in den Jahren zuvor anlässlich der Berliner „Pride“ keinesfalls mit der Regenbogenfahne, dem Zeichen der LGBT-Bewegung, geschmückt werden dürfe. Bundeskanzler Merz schob, wohl damit die Botschaft richtig ankommt, den Spruch „Der Reichstag ist kein Zirkuszelt“ hinterher. Gleichzeitig untersagte Wolfram Weimer, der ehemalige „Welt“-Chefredakteur und amtierende Kulturstaatsminister, seinen 600 Mitarbeitern die Gendersprache, weil, so Weimer, die Binnen-Is und Gendersternchen „die Schönheit der deutschen Sprache“ beschädigen würden.

Political Parties Speak To Media Day After German Elections
© Getty Images/Maja Hitij/Getty Images
Political Parties Speak To Media Day After German Elections
Bundestagspräsidentin Klöckner und Abgeordneter Spahn (beide CDU)
Eröffnung der Kulturkampffestspiele: Keine Pide-Flagge für den Bundestag.
Und dann der Eklat um die Bestellung der angesehenen Berliner Anwältin Frauke Brosius-Gersdorf zur Bundesverfassungsrichterin. Brosius-Gersdorf war ursprünglich von den Fraktionsspitzen von Union, SPD und Grünen gemeinsam nominiert worden. Nach einer Kampagne rechter bis rechtsradikaler Medien, in der Brosius-Gersdorfs Haltung zu Abtreibung und Impfpflicht denunziert wurde, konnte (oder wollte) Unionsfraktionschef Jens Spahn die Zustimmung aller seiner Angeordneten nicht mehr garantieren.
Der Sozialstaat, den wir heute haben, ist mit dem, was wir volkswirtschaftlich leisten, nicht mehr finanzierbar.
Kanzler Friedrich Merz
Brosius-Gersdorfs geplante Bestellung wurde abgesagt, sie hat mittlerweile auf eine weitere Kandidatur verzichtet. SPD-Fraktionschef Matthias Miersch: „Scheitert auch die nächste Richterwahl, dann scheitert die ganze Regierung.“
Die Bullshit-Koalition
Hinter der Marionettenbühne, auf der das Stück um Gendern und Regenbogenfahnen gespielt wird, tobt die Schlacht um Deutschlands wirtschaftliche Performance und die Zukunft des Sozialstaats. Kulturkampf fürs Publikum, beinharte Verteilungsschlachten in der Kulisse. Merz proklamiert die Linie der Union: „Der Sozialstaat, den wir heute haben, ist mit dem, was wir volkswirtschaftlich leisten, nicht mehr finanzierbar.“ Die SPD versucht dagegenzuhalten und antwortet in Gestalt ihrer Co-Vorsitzenden und Sozialministerin Bärbel Bas: „Diese Debatte, dass wir uns die Sozialversicherungssysteme und den Sozialstaat nicht mehr leisten können, ist – und da entschuldige ich mich jetzt schon für den Ausdruck – Bullshit.“

Vizekanzler Klingbeil und Sozialministerin Bas (SPD)
© AFP/APA/AFP/ODD ANDERSEN
Vizekanzler Klingbeil und Sozialministerin Bas (SPD)
Zwar sollen sich Merz und Bas nach dem Koalitionsausschuss Anfang September ausgesprochen und die Bullshit-Konfrontation bei einem Bier begraben haben, doch auch wenn der Kanzler die Widersprüche in der Koalition versöhnen will und seit ein paar Tagen mit sämtlichen SPD-Ministern per Du ist, werden die Konflikte bleiben.
Die Gegensätze zwischen Union und SPD unüberbrückbar machen.
aus dem Strategiepapier der AfD
Schon droht das nächste Bullshit-Thema zwischen dem Finanzministerium von SPD-Chef Lars Klingbeil und dem Wirtschaftsministerium von Katherina Reiche (CDU). Sie will, dass die Deutschen künftig bis 70 arbeiten. Er hingegen muss den Rächer der Rentner geben. Selbst die Frage, welche Software der Bund zur Terrorismusbekämpfung einsetzt, spaltet die Koalitionäre. CSU-Innenminister Dobrindt will das Produkt der Firma „Palantir“ von Trump-Unterstützer Peter Thiel und Ex-„Springer“-Aufsichtsrat Alex Karp. SPD-Justizministerin Stefanie Hubig versucht ihn auszubremsen und verlangt eine „sorgfältige Prüfung“.
Auf allen Ebenen geschieht also ziemlich genau das, was die AfD-Bundestagsabgeordnete Beatrix von Storch in ihrem vor wenigen Wochen öffentlich gewordenen Strategiepapier skizziert hat. Von Storch, adeliger Herkunft, enge Freundin der prominenten Schlossherrin Gloria von Thurn und Taxis und habituell absolut anschlussfähig ans „bürgerliche Lager“, hat das AfD-Konzept für die Machtergreifung der Rechten geschrieben. Auf Seite neun steht da: „Die Gegensätze zwischen Union und SPD unüberbrückbar machen.“ Die Brücke zwischen den einstigen Volksparteien ist, wie viele reale Brücken in Deutschland, schon lange baufällig.
Traum von der Minderheitsregierung
Immer öfter wird von Unionsleuten das Wort „Minderheitsregierung“ geflüstert. Eine Minderheitsregierung würde mit wechselnden Mehrheiten arbeiten. Auch mit Stimmen der AfD, wie sie Friedrich Merz schon bei der Beschlussfassung des Migrationsgesetzes am Anfang dieses Jahres in Kauf nahm.
Die Stimmung ist derzeit nicht so gut.
CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann
Politische Beobachter, die sich jüngst mit CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann (O-Ton: „Die Stimmung ist derzeit nicht so gut“) getroffen haben, erzählen, ohne jegliche Absender identifizierbar zu nennen, dass in „Unionskreisen“ seit geraumer Zeit nach Fraktionskollegen gesucht würde, die den Mut aufbrächten, der AfD-Führung eine Zusammenarbeit anzutragen, wenn diese ihrerseits bereit wäre, sich von ihren radikalsten Protagonisten zu trennen. 27 unerträgliche Nationalisten und Rechtsextreme habe man in der 151-köpfigen AfD-Fraktion im Bundestag identifiziert. Würde man sich von denen trennen, sich innenpolitisch „storchisieren“ und außenpolitisch „melonisieren“, also pro NATO, pro EU, pro Ukraine, pro Israel positionieren, ja, dann könnte man vielleicht gar nicht so schlecht zusammenarbeiten.

© Alexander Schuhmann/Action Press/picturedesk.com
Keinerlei Berührungsängste
AfD-Chefin Alice Weidel (Mitte) mit Unternehmer Theo Müller (Müllermilch) und dessen Frau Beate Ebert.
Bei Kulturkampfthemen ist man eh nicht so weit voneinander entfernt. Und wirtschaftspolitisch ist der Flügel um AfD-Chefin Alice Weidel sowieso für die meisten CDU-Positionen zu haben. Dann bräuchte es keine Stimmen von links mehr zur Mehrheitsbeschaffung und keine „Brandmauer“ gegen rechts. Jedenfalls passen die geflüsterten Überlegungen mancher Unionisten zu den Ideen der AfD-Strategin von Storch. Dieser Sommer bot genug Möglichkeiten, sich privat zu vernetzen.
Beim Geburtstagsfest von „Müllermilch“-Milliardär Theo Müller, einem engen Freund von AfD-Chefin Weidel, konnten sich Rechtsradikale und CSU-Abgeordnete bei teurem Champagner beschnuppern und eventuelle Berührungsängste abbauen. Und beim Sommerfest der CDU Rheinland-Pfalz lächelte Regenbogenfahnenkämpferin Julia Klöckner auf dem Gelände des Software-Unternehmers Frank Gotthardt, 74, Ehrenvorsitzender im CDU-Wirtschaftsrat und Finanzier von „nius“, dem Medium, das maßgeblich an der Kampagne gegen Brosius-Gersdorf beteiligt war.
Wenn jetzt Bundestagswahlen wären, sähe es so aus: CDU/CSU 27 Prozent, AfD 25, SPD 14, Grüne 11, Linke 10. Bei den Kommunalwahlen im einst tiefroten Nordrhein-Westfalen droht die Sozialdemokratie am kommenden Sonntag in ihren letzten Hochburgen zertrümmert zu werden. Die immer noch Mitregierungspartei SPD nimmt sich als politischer Player mehr und mehr aus dem Rennen. Institute melden die AfD weit vorn. Auch in Sachsen-Anhalt, wo 2026 ein neuer Ministerpräsident gewählt werden soll, liegt die rechte Partei jetzt mit 39 Prozent vor der CDU mit 27. Der Sommer jedenfalls ist vorbei.