Warum die Twitter-Sperre von Donald Trump ein Fehler ist

Die große Mehrheit bejubelt die Sperre von Donald Trumps Twitter-Account. Robert Treichler hingegen hat starke Bedenken.

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Was ist der Unterschied zwischen US-Präsident Donald Trump und den afghanischen Taliban? Wahrscheinlich fallen Ihnen auf Anhieb mehrere ein. Der eine ist ein demokratisch gewählter - und ebenso demokratisch abgewählter - Politiker, die anderen sind eine islamistische Terrorgruppe. Gegen den einen läuft ein Amtsenthebungsverfahren wegen des Verdachts der Anstiftung zum Aufruhr, gegen die anderen eine vorläufige Untersuchung des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag wegen systematischer Kriegsverbrechen, Massaker, Menschenhandel und Terror. Der eine ist für Geschmacklosigkeit bekannt, die anderen verüben in ihrem Einzugsgebiet einen sogenannten "kulturellen Genozid", indem sie nichtislamische Kulturgüter zerstören. Der eine weigert sich, seine Wahlniederlage anzuerkennen, die anderen ermorden jeden gewählten Politiker, den sie in die Finger kriegen.

Und seit Kurzem trennt Trump und die Taliban ein weiterer, durchaus bedeutsamer Unterschied: Die Taliban verfügen über einen aktiven Twitter-Account, Donald Trump hingegen nicht mehr.

Am Freitag, dem 8. Jänner, gab Twitter in einer Aussendung bekannt, dass Donald Trumps privater Account "@realDonald-Trump" ab sofort gesperrt sei. Zwei Tage zuvor hatten Trump-Anhänger den Kongress gestürmt, wozu sie der US-Präsident mit Aussagen und Tweets wie "Be there, will be wild" (Geht hin, es wird wild) unverhohlen angestiftet hatte. Twitter nannte als Gründe für die zeitlich nicht begrenzte Sperre von Trumps Account explizit zwei Tweets, die der Präsident nach dem Sturm auf das Kapitol gepostet hatte: In einem hatte er seine Anhänger "Patrioten" genannt, in dem anderen gab er bekannt, dass er nicht an den Feierlichkeiten zur Angelobung seines Nachfolgers Joe Biden am 20. Jänner teilnehmen werde. Dies sei, so Twitter, ein Verstoß gegen das Verbot, Gewalt zu verherrlichen. Implizit habe Trump damit nämlich Aufrührer ermuntert, neuerlich ähnliche Akte zu setzen.

Wenige Minuten nach der Bekanntgabe war der Account mit seinen mehr als 59.000 Tweets und fast 89 Millionen Followern Geschichte. Der Hinweis "Account gesperrt" ist alles, was man unter der Adresse jetzt noch findet.

Die Entscheidung der weltweit agierenden Kurznachrichtenplattform wurde mehrheitlich bejubelt. In einer repräsentativen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Civey in Deutschland gaben 81 Prozent der Befragten an, das Stummschalten von Trumps Account sei richtig, nur 15 Prozent waren gegenteiliger Meinung, vier Prozent blieben neutral. So schnell geht das also, wenn die Unternehmensleitung von Twitter dies will. Ein simpler technischer Eingriff, und (fast) alle sind zufrieden.

Doch so einfach ist es nicht. Die Entscheidung, Donald Trumps Account definitiv zu löschen, ist ebenso weitreichend wie heikel - und sie ist falsch.

Auch im 11.000 Kilometer von Washington D.C. entfernt gelegenen Afghanistan werden Neuigkeiten via Twitter verbreitet. Unter dem Account-Namen "Zabihullah" werden täglich bis zu 15 Kurznachrichten des "Sprechers des Islamischen Emirats von Afghanistan, Zabihullah Mujahid", öffentlich gemacht. Das "Islamische Emirat Afghanistan" war bis Dezember 2001 der von den Taliban regierte islamische Gottesstaat. Zabihullah berichtet regelmäßig über erfolgreiche Anschläge auf die "feindliche Söldnertruppe" (US-Soldaten) oder deren "Marionetten" (afghanische Soldaten und Regierungsvertreter) und über angebliche grausame Verbrechen, die diese an unschuldigen Zivilisten begingen.

Können diese Propagandabotschaften als Aufrufe zu Gewalttaten interpretiert werden? Zweifellos. Verstoßen sie gegen die Twitter-Regeln? Offenbar nicht, der Account ist seit April 2017 aktiv.

 

In der seit Oktober 2020 gültigen Fassung des Reglements hält das Unternehmen fest, dass "auf Twitter kein Platz für gewalttätige Organisationen, terroristische Organisationen, für gewalttätige Extremistengruppen oder für Personen, die mit ihnen sympathisieren",sei. Allerdings gibt es "unter Umständen" auch Ausnahmen für Gruppen, "die sich in einem Umwandlungsprozess befinden oder derzeit an der Erarbeitung einer friedlichen Lösung beteiligt sind". Tatsächlich laufen zwischen den USA, Afghanistan und den Taliban seit 2018-bislang ergebnislose-Friedensgespräche. In den vergangenen Monaten haben die Taliban ihre Anschläge wieder verstärkt. Im Detail nachzulesen auf "@Zabihullah".

Dass eine Terrorgruppe wie die Taliban Twitter nutzen darf, weil sie an Friedensgesprächen teilnimmt, während gleichzeitig der US-Präsident - dessen Regierung übrigens an denselben Gesprächen beteiligt ist - lebenslänglich gesperrt ist, darf wohl als Indiz dafür gewertet werden, dass das Reglement der Social-Media-Plattform noch nicht zur Gänze ausgereift ist. Ein Argument der Befürworter der Trump-Stummschaltung auf Twitter lautet, es handle sich bei "@realDonaldTrump" bloß um Trumps Privatkanal. Der offizielle Account des Weißen Hauses bleibe aktiv. Auch Twitter selbst gibt an, Tweets von gewählten Amtsträgern und Regierungsmitgliedern wegen des öffentlichen Interesses nicht zu löschen. So kann etwa Irans "geistliches Oberhaupt", Ayatollah Ali Khamenei, der kürzlich für sein Land ein Verbot westlicher Impfstoffe gegen das Coronavirus verhängte, ebenso einen Twitter-Account betreiben wie der venezolanische Autokrat Nicolas Maduro oder Syriens Diktator Baschar al-Assad.

Andererseits kam es auch unter Amtsträgern bereits zu Sperren. Diese betrafen Generäle in Myanmar, venezolanische Regierungsmitglieder und auch zwei Mal den Account von Syriens Präsident Assad. Ein Mal, nachdem er in einem Tweet den Tod des iranischen Generals Qasem Soleimani betrauert hatte. Aber viele dieser Abschaltungen von Accounts waren vorübergehend.

Zudem ist es einigermaßen absurd, Twitter-Accounts von Diktatoren und Autokraten zuzulassen, weil diese an der Macht und deshalb von Interesse seien, nicht jedoch den von Donald Trump. Maduro, dessen Wiederwahl im Mai 2018 wegen des dringenden Verdachts der Wahlfälschung weder von den USA noch von der EU anerkannt wird, ist nicht bloß demokratiegefährdend - er hat die Demokratie in seinem Land abgeschafft. Zudem werden ihm von den Vereinten Nationen Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorgeworfen. Doch er genießt als "Amtsträger" das Privileg, twittern zu dürfen. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass auch Trump weiterhin zu twittern gestattet wäre, wenn er - rein theoretisch - tatsächlich einen erfolgreichen Putsch gegen Joe Biden durchgeführt hätte. Das ist absurd.

Die Beispiele zeigen deutlich, wie unausgegoren die Entscheidungen sind. Wobei darüber hinaus auch noch der Prozess der Entscheidungsfindung im Dunkeln bleibt. Wessen Account wird vorübergehend gesperrt, wessen permanent? Warum können die Betroffenen sich nicht dazu äußern beziehungsweise einen Einspruch formulieren? Welches Gremium entscheidet überhaupt?

Ähnlich intransparent läuft es beim zweiten Social-Media-Riesen Facebook ab. Die US-Bürgerrechtlerin Jillian York kritisiert in einem Interview mit der "Süddeutschen Zeitung", dass sich "das Unternehmen verhält wie ein kleiner autokratischer Staat".

 

Twitter und die anderen Plattformen sind durch anhaltenden öffentlichen Druck dazu gedrängt worden, bestimmte Personen aus dem Debattenverkehr zu ziehen. Ob dies verhältnismäßig und gerecht ist, interessiert die Pressure Groups weniger. Delikte wie "Sympathisieren mit gewalttätigen Gruppen" sind so vage und bieten einen so riesigen Interpretationsspielraum, dass sie de facto nicht judizierbar sind.

Die Twitter-interessierte Öffentlichkeit sucht sich einen Bösen aus, prangert ihn an und zwingt Twitter auf diese Weise zum Handeln. Wenige Tage nach Trump erwischte es rund 70.000 Accounts, auf denen die Verschwörungstheorie QAnon-propagiert wurde.

Dass diese und nicht andere ins Fadenkreuz geraten, folgt nicht logisch aus den Buchstaben der Twitter-Gesetze, sondern entspringt der Beliebigkeit der aktuellen politischen Interessenlage.

Ist die QAnon-Theorie, wonach eine weltweit agierende und nur von Donald Trump bekämpfte Elite Kinder entführe, töte, und ihr Blut zur Herstellung einer Verjüngungsdroge verwende, gefährlicher als das Leugnen des Holocaust? Accounts von Holocaust-Leugnern genießen derzeit weniger Aufmerksamkeit als neue Rechtsextreme wie etwa der-gesperrte-Kopf der österreichischen Identitären Martin Sellner. Die Bücher von David Irving, der prominente britische Vertreter derartiger Thesen, werden hingegen auf einem Twitter-Account des laut Selbstbeschreibung "weltweit renommierten Historikers" angepriesen. Der Account ist seit 2011 aktiv, ob er von Irving selbst betrieben wird, ist ungewiss.

Auch Mahmud Ahmadinedschad, ehemaliger Staatspräsident des Iran, Israel-Hasser und Holocaust-Leugner, versorgt seine immerhin 130.000 Follower zählende Fangemeinde seit 2017 auf Twitter unter anderem mit der Einsicht, dass das Coronavirus in einem Labor hergestellt und von Weltmächten zwecks biologischer Kriegsführung verbreitet werde.

Welche Gewaltsympathien, welche Verschwörungstheorien und welche missliebigen Personen in der sozial-medialen Weltöffentlichkeit zum Schweigen gebracht werden, entscheiden eine Handvoll privater Konzerne. Die tun das prinzipiell unabhängig voneinander, allerdings drängt sich etwa im Fall Trump der Verdacht auf, dass es zumindest eine gewisse Sogwirkung gibt. Facebook sperrte Trumps Account etwa zeitgleich mit Twitter für 24 Stunden, und auch Instagram und YouTube verhängten Sperren. Die Gründe waren in etwa dieselben: Gewaltaufrufe, Desinformation.

Im Fall von Donald Trump löst das keine nennenswerten Proteste aus, doch betrachtet man die Angelegenheit unabhängig von der Person, kann es einem ein wenig mulmig werden: Jeder beliebige Politiker, aber auch ganz normale Bürger können von der Teilnahme an der globalen Debatte ausgeschlossen werden, und es braucht dazu nicht einmal den Vorwurf, sie hätten gegen ein Gesetz verstoßen. Die Institutionen, die in einem Rechtsstaat damit beauftragt sind, Regeln zu erstellen und deren Einhaltung durchzusetzen, bleiben außen vor. Das kritisierte vergangene Woche auch Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel, und sie tat dies bestimmt nicht aus Solidarität zu Donald Trump.

Kann man sich auf das Argument berufen, dass Twitter wie jedes Unternehmen selbst bestimmen darf, mit wem es geschäftliche Beziehungen unterhält? Das verkennt die Rolle der Social-Media-Giganten als globale, "öffentliche Räume",wie Twitter-Chef Jack Dorsey es in einem Interview mit dem US-Magazin "Rolling Stone" selbst formulierte. Und um von öffentlichen Räumen - auch wenn diese von privaten Unternehmen zur Verfügung gestellt und bewirtschaftet werden - ausgesperrt zu werden, braucht es mehr als eine Rausschmiss-Notiz der Geschäftsleitung.

Aber selbst wenn sich Twitter weiterhin das Recht herausnimmt, seine User auszusortieren-das Unternehmen bringt sich damit selbst in eine unmögliche Lage. Es schwingt sich zu einem Schiedsgericht für sämtliche globale Konflikte auf, ohne dafür die nötige Legitimität oder inhaltliche Kompetenz zu haben. Wer verbreitet Desinformation, wer stachelt zu Gewalt auf? Palästinenser, die Israel als Besatzungsmacht verurteilen? Antifa-Aktivisten, die den Staats- und Regierungschefs der G20 Neoliberalismus vorwerfen und zu einer Demonstration unter dem Motto "Welcome to Hell" aufrufen?

Wer untergräbt die Demokratie? Trump? Chinas Kommunistische Partei? Russlands Staatspräsident Wladimir Putin? Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán?

Klar, man könnte versuchen, die Regeln so streng zu exekutieren wie im Fall Donald Trump und alle Genannten - und noch viele mehr - wegen antidemokratischer, gewaltverherrlichender, desinformativer Tweets eliminieren. Dann ist Twitter endlich gesäubert. Und ziemlich leer.


WER TWITTERT - UND WER NICHT?

1) Nordkoreas Diktator Kim Jong-un lässt über seinen Onlinedienst Uriminzokkiri auch einen Twitter-Account betreiben.

2) Irans "Oberster Führer" Ayatollah Ali Khamenei hat auf Twitter 880.000 Follower.

3) Irans Ex-Staatspräsident Mahmud Ahmadinedschad postet auch mal Videos von sich.

4) Venezuelas Autokrat Nicolas Maduro twittert gegen "nordamerikanischen Imperialismus".

5) Donald Trumps persönlicher Account @realDonaldTrump wurde am 8. Jänner gesperrt.

6) Der Account @IrvingBooks promotet Bücher des Holocaust-Leugners David Irving.

7) Der Pressesprecher der afghanischen Taliban twittert seit April 2017 unter @Zabehulah-M33

8) Martin Sellner, Kopf der österreichischen rechtsextremen Identitären Bewegung, ist auf Twitter gesperrt.

Dass Trump und QAnon ins Fadenkreuz geraten, andere hingegen nicht, folgt nicht logisch aus den Buchstaben der Twitter-Gesetze, sondern entspringt der Beliebigkeit der aktuellen politischen Interessenlage.

Robert Treichler ist seit 2015 auf Twitter und folgt da jeder Menge Leute, deren Tweets ihm kalte Schauer über den Rücken jagen.

Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur