Interview

„Wegen Orbán schämen wir uns vor der Welt“

Der Spitzenkandidat der ungarischen Opposition, Péter Márki-Zay, über die Wiederherstellung der Demokratie in Ungarn.

Drucken

Schriftgröße

profil: Herr Márki-Zay, was sollten die österreichischen Leserinnen und Leser über Sie wissen? 
Márki-Zay: Ich bin Katholik, Vater von sieben Kindern, konservativ. Ihre Leser sollten wissen, dass wir gegen die Korruption kämpfen und dass wir ein europäisches Ungarn haben wollen. Wir haben derzeit die korrupteste Regierung in der Geschichte unseres Landes. Wir wollen Ungarn wieder auf die gute Seite der Geschichte führen. 
 
profil: Auch Viktor Orbán behauptet, dass er ein Konservativer sei und sich zur christlichen Demokratie bekenne …
Márki-Zay: Schauen Sie, ich war schon Christ, als Orbán noch Mitglied des Kommunistischen Jugendverbands war. Ich war schon ein Rechter, als Orbán noch ein Liberaler war. Von 1998 bis 2010 war ich für Orbán, als er ein Konservativer, ein Gegner Putins und ein Pro-europäer war und den Euro einführen wollte. Als wir glaubten, dass er die Korruption bekämpfen würde. 

profil: Haben Sie ihn damals gewählt? 
Márki-Zay: Ja, ich war ein FIDESZ-Wähler. Bis 2010. Ich unterstützte seine damaligen Ziele.

profil: Und dann?
Márki-Zay: Orbán vollzog eine neue Wendung. Er wurde zum Putin-Freund und antieuropäischen Politiker. Er startete Hass-Kampagnen gegen verschiedene Menschen, er hat die Medien- und Pressefreiheit in Ungarn beseitigt. Er riss sich einen Industriezweig nach dem anderen unter den Nagel und spielte ihn entweder der eigenen Familie zu oder seinen Freunden. Im Ukraine-Krieg hat er unser Land international völlig isoliert. Wegen ihm und seiner Korruption müssen wir uns vor der ganzen Welt schämen. 
profil: Warum sind Sie vor etwas weniger als fünf Jahren in die Politik gegangen? 
Márki-Zay: Wegen meiner sieben Kinder. Es kann mir nicht gleichgültig sein, ob sie in einem glücklichen, entwicklungsfähigen, friedlichen Ungarn leben werden oder ob sie, wie schon bisher 800.000 Landsleute, das Land verlassen müssen, um von ehrlicher Arbeit in Ruhe und Frieden leben zu können und in den Genuss eines ordentlichen Gesundheits- und Unterrichtswesens zu kommen.

profil: Warum glauben Sie, dass Sie und das Parteienbündnis, dessen Spitzenkandidat Sie sind, gegen Orbáns Machtmaschinerie eine Chance haben? 
Márki-Zay: Er betreibt eine ungeheure Propaganda- und Lügenmaschinerie und beeinflusst damit leider wirklich sehr viele Menschen. Zwölf Jahre Gehirnwäsche sind keine Kleinigkeit. Aber wir glauben trotzdem, dass wir, die wir einen Wandel wollen, die Mehrheit sind. 

profil: Worauf stützen Sie Ihren Optimismus? 
Márki-Zay: Vor vier Jahren, als die Opposition nicht geeint war, als sie kraftlos war und ohne gemeinsames Programm und als die Migranten-Hysterie tobte, stimmten in 59 von 106 Wahlkreisen mehr Bürger gegen den FIDESZ als für den FIDESZ. Das heißt, der FIDESZ kam in nur 47 Wahlkreisen auf mehr als 50 Prozent. Bei der Listenwahl entfielen 52 Prozent der Stimmen nicht auf den FIDESZ. Aber jetzt, nach vier Jahren, ist die Lage nicht schlechter, sondern besser. Jetzt treten wir geeint, organisiert und mit einem gemeinsamen Programm an. 

profil: Orbán wirft alle Ressourcen in die Schlacht …
Márki-Zay: Er beging etliche schwere Fehler. Die Wirtschaft liegt am Boden. Er ist international isoliert. Die Covid-Pandemie hat er weltweit am lausigsten gemanagt, weil er auch sie zur Korruption nutzte. Außerdem ist eine neue Generation da. Die Jung- und Erstwähler sind ganz und gar nicht auf Orbáns Seite. 

profil: Angenommen, Sie schaffen es. Was wären Ihre ersten Maßnahmen als frischgebackener Ministerpräsident? 
Márki-Zay: Der Beitritt zur Europäischen Staatsanwaltschaft. Damit das straflose Stehlen in Ungarn ein Ende hat. Damit im Parlament ehrliche Menschen sitzen, und die Kriminellen im Gefängnis. Außerdem werden wir eine eigene Anti-Korruptions-Staatsanwaltschaft aufstellen. Es wird sehr viele symbolische Schritte geben. Wir werden die auf verlogene Weise als „Kinderschutzgesetz“ titulierte homophobe Gesetzgebung beseitigen. Wir werden die Universitäten, die die FIDESZ-Leute in „Privatstiftungen“ gebunkert haben, der Allgemeinheit zurückgeben. Wir müssen die Medienfreiheit wiederherstellen und den Medienrat, die oberste Regulierungsbehörde, die nur aus FIDESZ-Mitgliedern besteht, davonjagen. 

profil: Die Mediengesetzgebung, wie repressiv auch immer sie ist, steht im Rang eines Verfassungsgesetzes. An sie können Sie nur ran, wenn Sie eine Zweidrittelmehrheit im Parlament haben …
Márki-Zay: Ich erhoffe eine solche, aber offensichtlich ist die Aussicht darauf nicht groß. Mein Ansatz geht davon aus, dass der FIDESZ, als er diese Gesetze mit seiner Zweidrittelmehrheit machte, einen Machtmissbrauch beging und gegen die damalige und auch gegenwärtige Verfassung verstieß, sodass ich diese Gesetze schlicht für ungültig und nichtig erachte. 

profil: Wie begründen Sie das? 
Márki-Zay: Mit dem Verfassungsgrundsatz, dass das Streben nach der ausschließlichen Macht verfassungswidrig ist. Das gilt für den Medienrat ebenso wie die von Orbán diktierte neue Verfassung. Wir werden eine neue brauchen. 

 

profil: Sie stehen an der Spitze einer sehr heterogenen Sechs-Parteien-Koalition und gehören selbst keiner dieser Parteien an. Kann diese Allianz nicht wieder leicht zerfallen? 
Márki-Zay: Niemand sagt, dass es leicht wird. Aber wir haben uns auf ein gemeinsames Programm geeinigt, das als Grundlage eines gemeinsamen Regierens dient. In der Slowakei regierte von 1998 bis 2006 ein gewisser Mikuláš Dzurinda an der Spitze von Fünf- beziehungsweise Vier-Parteien-Koalitionen. Es waren die erfolgreichsten slowakischen Regierungen der letzten 30 Jahre.

profil: Im Ausland ist bekannt, dass die Politik unter Orbán sehr korrupt ist. Ist auch der Regierungschef selbst korrupt? 
Márki-Zay: Da bin ich mir ganz sicher. Wie kann es sein, dass Orbáns Schwiegersohn, István Tiborcz, in nur drei Jahren unter die 30 reichsten Ungarn aufstieg, mit einem Vermögen von 80 Millionen Euro? Wie kommt es, dass Orbáns Freund, der Gasinstallateur Lörinc Mészáros, der noch dazu gar nicht zu den fähigsten Gasinstallateuren zählt, in nur vier Jahren reicher wurde als die englische Königin? Wenn Orbán da nicht mit drinsteckte, würde er die Affären seines Schwiegersohnes wie von der EU-Anti-Korruptionsbehörde OLAF vorgeschlagen strafrechtlich untersuchen lassen. In Ungarn wird aber gegen Herrn Tiborcz nicht einmal ermittelt. 

 

profil: Wie sehen Sie Orbáns Ukraine-Politik? 
Márki-Zay: Man muss anerkennen, dass Orbán jetzt dem Westen gegenüber nachgibt. Bisher hat er den Russen gegenüber nachgegeben, hat die NATO und die EU verraten. Jetzt aber war der Druck des Westens zu stark für ihn. Ursprünglich war Ungarn das einzige NATO-Land, das keine NATO-Truppen auf seinem Gebiet zulassen wollte. Zuletzt beugte sich Orbán, jetzt dürfen NATO-Truppen ins Land, wenn auch nur westlich der Donau. Lange sträubte sich Orbán gegen Waffenlieferungen an die Ukraine über ungarisches Gebiet. Jetzt lässt er sie zu, wenn sie nicht direkt von Ungarn in die Ukraine gehen, sondern über ein Drittland wie Rumänien. Anfangs ließ er den ungarischen Luftraum nicht für russische Verkehrsflugzeuge sperren. Doch dann stimmte er im EU-Rat der Luftraumsperre zu. 

profil: Ist Orbán für Ungarns Bündnispartner noch vertrauenswürdig?
Márki-Zay: Nein, niemand vertraut ihm mehr. Nicht einmal Putin. 

profil: Wie kommen Sie darauf? 
Márki-Zay: Er war noch kurz vor dem russischen Angriff auf die Ukraine bei Putin in Moskau. Er saß am langen Tisch, danach gab es eine Pressekonferenz. 
Mir schien es, dass Putin sehr wütend auf ihn war. Als ob er von Orbán etwas verlangt hätte, was ihm Orbán nicht mehr geben wollte. Er hat wieder eine Wende vollzogen. Der Wetterhahn, der schon mal Kommunist, Liberaler, Konservativer und Faschist war. Der schon mal Putins Marionette war, und dem Putin nicht mehr über den Weg traut. 

 

profil: Was ist Ihre außenpolitische Vision? 
Márki-Zay: Es ist im Interesse Ungarns, dem Westen gegenüber loyal zu sein. Dass wir nicht nur auf die Hilfe der NATO bauen können, sondern dass auch die NATO auf uns zählen kann. Dass auch die EU auf uns zählen kann und nicht dauernd befürchten muss, dass ein Orbán im EU-Rat mit dem Veto droht, wenn er damit etwas für sich herausholen kann. Wer seriös ist, tut so etwas nicht.