Umweltminister Norbert Totschnig (ÖVP)

Wie renaturiert sind Österreichs Naturschutzgebiete?

Umweltminister Norbert Totschnig (ÖVP) will für die Renaturierungsverordnung Österreichs Schutzgebiete als Vorleistung angerechnet wissen. Dabei ist ausgerechnet deren schlechter Zustand ein Mitgrund für das in Österreich strittige EU-Vorhaben.

Drucken

Schriftgröße

„(...) da ist einfach sehr viel offen noch in dieser Frage und wir wollen, dass österreichische Vorleistungen anerkannt werden, weil wir in Österreich haben derzeit 29 Prozent der Fläche, der Staatsfläche, ist in irgendeiner Weise unter Schutz.“

Norbert Totschnig (ÖVP), Umweltminister

ORF-Pressestunde, 22.6.2025

Irreführend

Vor rund einem Jahr hat die ehemalige Klimaschutzministerin Leonore Gewessler (Grüne) eine Regierungskrise ausgelöst. In ihrer „Ja“-Stimme beim Treffen der EU-Umweltminister zur Renaturierungsverordnung sah der Regierungspartner ÖVP einen „Vertragsbruch“ und sprach sogar von Amtsmissbrauch, den die Ministerin damit begangen habe. Gewesslers Stimme sorgte schließlich dafür, dass die Verordnung mit 24. Juni 2024 in Kraft treten konnte. Ihr Nachfolger, Umweltminister Norbert Totschnig (ÖVP), hat mit diesem Erbe keine Freude. Denn Österreich sei bereits engagiert, so der ÖVP-Umweltminister, diese Bemühungen gelte es bei der Umsetzung der Verordnung zu würdigen. Dass bereits fast dreißig Prozent der Staatsfläche unter Schutz seien, wird als Vorleistung vermutlich nicht anerkannt werden. Denn die Schutzflächen allein sagen nichts über den Zustand dieser Gebiete aus. Ganz im Gegenteil.

Ob eine Wanderung durch alpine Wälder, ein Badetag am See oder eine Radtour durch die Donau-Auen – die Naturvielfalt österreichischer Lebensräume ist nicht zu übersehen. Fast ein Drittel der Fläche Österreichs ist auch naturschutzrechtlich durch Nationalparks, Natura-2000-Gebiete, Biosphärenparks, Natur- und Landschaftsschutzgebiete geschützt. „Dieser Status heißt in erster Linie, dass gewisse Maßnahmen rechtlicher Natur theoretisch in Kraft sind. Davon sind aber nur rund die Hälfte (also strenge Schutzgebiete, wie Wildnisgebiete oder Nationalparks und Natura 2000 Gebiete; Anm.) wirksam. Außerdem sind Außenzonen von Biosphärenparks oder Landschaftsschutzgebiete meist wenig effizient aus naturschutzfachlicher Sicht“, sagt Rafaela Schinegger von der Universität für Bodenkultur (Boku) Wien.

Nur 15 Prozent der EU-geschützten Lebensräume befinden sich europaweit in einem guten Erhaltungszustand, 81 Prozent werden als schlecht oder unzureichend eingestuft. Der Zustand der restlichen vier Prozent ist „unbekannt“, für die abschließende Bewertung liegen nicht genügend Daten vor. Ein ähnlich schlechtes Bild zeigt sich bei den Vogelarten: Die Populationen der häufigsten Vogelarten in der EU sind zwischen 1990 und 2021 drastisch zurückgegangen, bei Feldvögeln etwa 36 Prozent. Und genau das soll sich mit der Umsetzung der EU-Verordnung ändern.

Ziel des Gesetzesvorhabens ist es, stark belastete Ökosysteme in Europa schrittweise zu verbessern. Dazu zählen Maßnahmen wie das Wiedervernässen von Mooren, die naturnahe Umgestaltung von Flüssen, die Anpassung von Wäldern an den Klimawandel sowie die Rückgewinnung artenreicher Lebensräume für Insekten. Damit wird aktiv Dürren oder Ernteausfällen vorgebeugt. Flüsse aus betonierten Bachbetten herauszulösen und ihnen ihren ursprünglichen Platz zu geben, kann die Hochwassergefahr reduzieren. Die Verordnung ist Teil des europäischen Green Deals, also jenes Klimaplans, mit dem Europa bis 2050 klimaneutral werden will. Diskutiert wurde sie seit Mitte 2022, teils heftig: Während Umweltverbände sie als Meilenstein feierten, argumentierten Kritiker, sie würde der Landwirtschaft schaden. In Österreich meldeten sich vor allem die Landeshauptleute besorgt zu Wort, schließlich fällt der Naturschutz – anders als das Wasserrecht – in ihre Kompetenz. Nach langem Ringen kam es am 17. Juni 2024 zur entscheidenden Abstimmung im EU-Ministerrat – durch Gewesslers Zustimmung konnte die Verordnung schließlich am 24. Juni 2024 in Kraft treten.

Und welche Rollen spielen die Schutzzonen darin?

Natura-2000-Gebiete (auch als Europaschutzgebiete bekannt) bieten einen wichtigen Baustein in der Verordnung. 353 davon gibt es laut der Naturschutzorganisation WWF in Österreich, darunter auch beliebte Ausflugsziele, zum Beispiel das Lechtal, die Wachau oder die March-Thaya-Auen im Weinviertel.

„Tiere und Pflanzen beschäftigt das ja nicht, ob sie in Schutzgebieten vorkommen oder nicht.“

Rafaela Schinegger, Boku Wien

Das Europaschutzgebiet in Niederösterreich steht exemplarisch dafür, warum formaler Schutz alleine nicht reicht. Denn trotz ihres Schutzstatus befinden sich viele Lebensräume im Natura 2000-Gebiet – beispielsweise Auwälder, Brenndoldenwiesen oder Stillgewässer – laut Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie-Bericht in einem „ungünstig-schlechten“ Zustand. Auch gefährdete Arten wie der Donau-Kammmolch (Schwanzlurch; Anm.), die Rotbauchunke (Kröte; Anm.) oder der Hirschkäfer sind rückläufig. Viele dieser Probleme gehen auf die starke Regulierung der March im vorherigen Jahrhundert zurück, Seitenarme der March wurden abgetrennt und dadurch die Fluss-Au-Vernetzung gestört. Das ist auch der Grund, weshalb der Zustand des Flusses nach der EU-Wasserrichtlinie zwischen 2016 und 2021 nur als „mäßig“ bewertet wurde. Ohne einem aktiven Management dieses Schutzgebietes – Seitenarme, die wiederhergestellt werden, Bauwerke, die gegebenenfalls zurückgebaut oder adaptiert werden – würde sich der Zustand weiter verschlechtern.

Am Papier sind die Auen im Weinviertel ein Schutzgebiet, das sich Totschnig von der EU anrechnen lassen will. Tatsächlich wartet dort aber jede Menge Arbeit auf den Umweltminister und das Land Niederösterreich. Denn was er nicht dazu sagt: Schutzgebieten wie den March-Thaya-Auen wird – wenn sie in keinem guten Erhaltungszustand sind – bei den Wiederherstellungsmaßnahmen bis 2030 auch Vorrang eingeräumt.

Ein Bagger beim Rückbau von Uferverbauungen am Marchufer

Renaturierung der March

Entlang der March wurden und werden Uferverbauungen an mehreren Abschnitten entfernt. Das Ziel: Die March-Ufer wieder natürlicher zu machen, mit positiven Effekten auf die Tier- und Pflanzenwelt. Weitere Renaturierungsprojekte sollen folgen.

Die Verordnung geht aber weit darüber hinaus, sie erfasst Lebensräume und Arten, die innerhalb und außerhalb von Schutzgebieten liegen. „Tiere und Pflanzen beschäftigt das ja nicht, ob sie in Schutzgebieten vorkommen oder nicht“, sagt Schinegger. Mit dem Fokus auf einzelne Schutzgebiete alleine lässt sich ein „guter Erhaltungszustand“ also nicht erreichen. Aber was ist das überhaupt?

Davon ist die Rede, wenn sich ein Lebensraum oder eine Tier- oder Pflanzenart nicht mehr von selbst erholen kann oder sogar weiter verschlechtert. Die Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie (FFH) der EU gibt vor, was ein „guter Zustand“ ist. Dafür wird etwa beurteilt, ob sich die Fläche dieses Lebensraums verändert, wie gesund dieser noch ist – da geht es um den Boden, das Wasser oder auch die Artenvielfalt – und, wie sich so ein Lebensraum gegenüber Einwirkungen von außen verändert. „Das kann die Landwirtschaft sein, die Zerschneidung eines Gebietes durch Infrastruktur und Versiegelung oder auch durch Chemikalien“, sagt die Boku-Expertin. Ein solcher Bericht wird alle sechs Jahre erstellt und nach Brüssel gemeldet, genauso wie die Gewässerbewirtschaftungspläne. „Auch da gibt es Handlungsbedarf, 2021 hatten wir nur 40 Prozent der Gewässer in Österreich in einem guten ökologischen Zustand und 60 Prozent nicht“, so Schinegger.

Der Fahrplan zur Verbesserung

Bis 2026 müssen die EU-Länder nationale Pläne vorlegen – also konkrete Maßnahmen, wie sie die Verordnung umsetzen wollen. „Wichtig ist, dass diese Pläne nicht nur Absichtserklärungen, sondern rechtlich bindend sind. Dafür müssen bis dahin also gegebenenfalls nationale Gesetze angepasst werden. Gerade in Österreich ist das wichtig, um die Zuständigkeiten zwischen Bund und Ländern klar zu regeln“, sagt Katharina Rogenhofer vom Kontext Institut für Klimafragen. „Ein Käseglockennaturschutz, wo man sagt: Wir haben eh unsere Schutzgebiete dort und da und mit dem Rest der Landschaft machen wir, was wir wollen, ist keinesfalls ausreichend“, so die Boku-Professorin Schinegger. Es geht also um eine Gesamtstrategie, ramponierte Ökosysteme quer durch alle Bundesländer und Ökosystemtypen aktiv zu managen und somit auch fit für ein sich veränderndes Klima und dadurch zunehmende Extremwetterereignisse zu machen. Ab 2028 müssen die Mitgliedsländer dann genaue Details nachreichen, anschließend muss Österreich alle drei beziehungsweise sechs Jahre über die Umsetzung der Pläne berichten.

Bundesminister Totschnig sieht bei der Renaturierungsverordnung noch einige Punkte offen. Zum Beispiel die Finanzierung: „Die Schwäche dieser Verordnung ist ja die, man hat hier etwas bestellt, ohne zu klären, wer das bezahlt“, sagte Totschnig in der ORF-Pressestunde. Wie sich diese Maßnahmen finanzieren sollen, „müssen die Mitgliedsländer auch in den nationalen Wiederherstellungsplänen darlegen“, sagt Rogenhofer. Dafür müsse Österreich Fördersysteme über- oder erarbeiten, so die Expertin, „Österreich hat dabei aber auch die Möglichkeit, auf EU-Fördertöpfe wie dem EU-Struktur- und Investitionsfonds (ESI) oder dem Umwelt- und Klimaprogramm LIFE zuzugreifen“, so die Chefin des Kontext-Institutes. Rogenhofer spielt dabei auf eine Studie an, die das österreichische Wirtschaftsforschungsinstitut (Wifo) im September 2024 veröffentlicht hat. Die Forscherinnen und Forscher skizzieren darin, wie die Finanzierung geplanter Renaturierungsprojekte gelingen könnte.

Wer die Renaturierung bezahlen soll

Von zwei der sechs Möglichkeiten – Österreich müsste sich dafür weiter verschulden – rät das Wifo mit Blick auf den angespannten Staatshaushalt ab. Stattdessen empfehlen die Wirtschaftsforscher gezielte Zahlungen des Bundes an die Länder. Zusätzlich könnten Länder auch eigene Abgaben für Natur- und Artenschutz einführen, was laut Wifo nicht nur Geld bringt, sondern auch lenkend wirken würde. Der Haken daran: Österreich gehört steuerlich ohnehin schon zur europäischen Spitzengruppe. Weitere Hebel sieht das Wifo beim Abbau umweltschädlicher Subventionen, der Geld freimachen würde, vor allem aber durch die Nutzung von EU-Fördertöpfen – diese sind laut Wifo bisher „nur unzureichend ausgeschöpft“. Allein im aktuellen EU-Budgetrahmen sind fast 380 Milliarden Euro für Umwelt und natürliche Ressourcen vorgesehen – mit steigender Tendenz. Ab 2026 sollen rund zehn Prozent des gesamten EU-Budgets in Biodiversität fließen. Einig sind sich die Experten aber, dass die Investitionen getätigt werden sollen: „Verglichen mit den erwarteten Kosten eines weiteren Lebensraumverlusts und Rückgangs der Arten und der Artenvielfalt sind die Vermeidungskosten gering.“

Bereits umgesetzte und geplante Projekte anrechnen lassen

Eine profil-Nachfrage, warum Totschnig die Schutzzonen als Vorleistung miterwähnte, obwohl deren schlechter Zustand EU-weit ein Mitgrund für die Verordnung ist, beantwortete ein Sprecher des Ministeriums nur ausweichend. Stattdessen gehe es laut Totschnig darum, bereits umgesetzte Projekte anrechnen zu lassen. In der ORF-Pressestunde erwähnte der Minister unter anderem die Renaturierung des Alpenrheins – ein grenzübergreifendes Projekt für Hochwasserschutz in Vorarlberg mit der Schweiz. Auf den Weg gebracht wurde das im Frühjahr beziehungsweise Sommer des Vorjahres, Kostenpunkt rund 1,1 Milliarden Euro für Österreich. Ein weiteres Projekt wird derzeit rund um die untere Krems in Oberösterreich umgesetzt. Vorhaben, die das Überziel der EU miterfüllen, meint Schinegger: „Da hat der Minister recht, wir machen jetzt schon einiges im Sinne der Renaturierung, beispielsweise durch einzelne Maßnahmen in der gemeinsamen Agrarpolitik und des Waldfonds, des Biodiversitätsfonds oder auch in über die Naturschutzbudgets der Bundesländer.“ Ein Blick in den Gesetzestext zeigt: In den Erwägungsgründen der Verordnung – hier werden Gesetzesvorhaben erklärt – finden sich jedenfalls Passagen dazu, bereits umgesetzte oder geplante Projekte zu berücksichtigen.

Für den nationalen Plan, der im September 2026 an die EU-Kommission übermittelt werden muss, startet Österreich also nicht bei null. „Es gibt Vorarbeiten in bestimmten Bereichen und sicher einige bestehende Aktivitäten, die sich Österreich anrechnen lassen kann“, meint Schinegger. Aber: „Das bisher Geleistete ist überhaupt nicht ausreichend, ein Großteil von Hausübungen und Prüfungen ist noch zu machen, um unsere Ökosysteme als Lebensgrundlagen für Gesellschaft und Wirtschaft zukunftsfit zu machen“, sagt die Expertin.

Fazit

Die Aussage von Umweltminister Norbert Totschnig (ÖVP), dass bei der Umsetzung der EU-Renaturierungsverordnung österreichische Vorleistungen anerkannt werden sollen, darunter die 29 Prozent der Staatsfläche unter naturschutzrechtlichem Schutz, ist irreführend. Denn Totschnig verschweigt dabei erstens, dass die Möglichkeit der Anrechenbarkeit besteht. Und zweitens übersieht er den schlechten Zustand einiger dieser Schutzgebiete – sowohl EU-weit als auch in Österreich. Dieser Zustand ist ein Mitgrund dafür, dass es zur Einigung für die EU-Verordnung kam.

Julian Kern

Julian Kern

ist seit März 2024 im Online-Ressort bei profil und Teil des faktiv-Teams. War zuvor im Wirtschaftsressort der „Wiener Zeitung“.