Eine Bentōbox mit … Julia Riedler
Safe. Julia Riedler sitzt beim Japaner in der Neustiftgasse. Es ist ein Donnerstag kurz vor halb vier Uhr nachmittags, und als ich sie frage, ob sie um diese Zeit wirklich etwas essen kann, sagt sie es zum ersten Mal: „Safe.“ Ich bin irritiert, das Wort passt so ganz und gar nicht zu der Person, die da vor mir sitzt. Julia Riedler ist nämlich eine der coolsten Socken, die derzeit auf den deutschsprachigen Bühnen herumlaufen: „Theater heute“ hat sie gerade zur Schauspielerin des Jahres gewählt, und es müsste mit dem Teufel zugehen, wenn sie nächste Woche nicht auch noch den Nestroy für die beste Schauspielerin des Jahres 2025 bekäme. Und ausgerechnet so jemand safed mich an? Der Begriff war laut „Kleine Zeitung“ Kandidat für das Jugendwort des Jahres, allerdings schon 2022, und wenn die „Kleine“ ihren besorgten Lesern ein Jugendwort erklärt, dann ist es wahrscheinlich außerhalb der inneren Einöde auch schon weitestgehend out. Bei Julia Riedler aber nicht, das werde ich in den nächsten Stunden noch merken.
Julia Riedler erzählt mit großer Leidenschaft. Und auch jetzt ist es ein bisschen so, als würde sie ein Mehr-Personen-Stück allein aufführen.
Wir sitzen im „Mari’s Metcha Matcha“, einem Japaner gleich hinter dem Volkstheater. Riedler kommt häufig hierher, immer vor Vorstellungen, und sie isst dann immer das Gleiche: ein Lachs Teryaki Teisyoku (16,90 Euro), also eine Bentōbox – für Leute, die schon mal in Japan waren. Und weil ich das noch nicht war und mit der Karte komplett überfordert bin, schließe ich mich an (eine im Großen und Ganzen gute Idee, auch wenn der Lachs so lange aufgewärmt wurde, dass er nicht nur farblich an einen Ziegelstein erinnert).
Seit Februar 2025 steht Riedler als Fräulein Else auf der Bühne des Volkstheaters. Es ist ihr Lieblingsstück, sagt sie. Der finale Monolog der Else war ihr Abschluss an der Schauspielschule, seit damals wollte sie das Stück gemeinsam mit ihrer Freundin, der Regisseurin Leonie Böhm, auf eine große Theaterbühne bringen. Der ehemalige Volkstheater-Direktor Kay Voges hat im Vorjahr zugegriffen, und das war eine gute Entscheidung. In Arthur Schnitzlers Geschichte über sexuelle Ausbeutung und das moralische Dilemma einer jungen Frau spielt sie nicht nur alle Personen, sondern vor allem auch mit dem Publikum. „Ich will mit den Zusehern in Kontakt kommen“, sagt sie: „Wir sind alle in einem Raum und einem Denkraum, in dem wir etwas gemeinsam erleben. Das ist für mich Theater.“ Also geht sie immer mal wieder durchs Parkett und spricht einzelne Zuschauer an. „Es ist sehr spannend, wie die Menschen dabei reagieren. Jeder hat eine eigene Wahrnehmung, eigene Erfahrungen und Perspektiven, daraus entsteht was.“ Gerade aus diesen Momenten zieht die Inszenierung ihre ganz spezielle Kraft – auch weil Riedler dabei mit Originaltext arbeitet. Wenn sie zum Beispiel einen Besucher um ein bisschen Geld anschnorrt, damit sie sich nicht an den Kunsthändler Dorsday verkaufen muss, dann spricht Fräulein Else, spricht Schnitzler, auch wenn es so klingt, als wäre es Riedler gerade eingefallen: „Der Text soll lebendig klingen, aber im Original bleiben.“
Julia Riedler im Selfie-Modus. Im Hintergrund: profil-Autor Markus Huber
Und das klappt perfekt. Je länger das Stück dauert, desto mehr verschwimmen die Grenzen, und spätestens dann, wenn sich Riedler auszieht, weil Fräulein Else nackt vor der Gesellschaft stehen soll, verlieren viele Zuschauer völlig aus dem Auge, wer da jetzt eigentlich auf der Bühne steht: die Schauspielerin? Oder doch Fräulein Else? „Erst vor Kurzem hat jemand aus der Seitenloge heruntergerufen: ,Ziehen Sie sich bitte an!‘ Und als ich dann mit Schnitzlers Text antwortete: ,Ich schäme mich nicht‘, hat er gerufen: ,Aber ich.‘“