Ingrid Brodnig
#brodnig

Frei von Fakten, frei von Verantwortung

Von der Gurtpflicht bis zur Corona-Krise: Mit dem Wort „Freiheit“ wird immer wieder gegen sinnvolle Maßnahmen mobilisiert.

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Es irritiert mich, dass einige Menschen im Internet und außerhalb des Internets es als ihre „Freiheit“ beschreiben, dass sie sich nicht testen lassen wollen, nicht impfen lassen wollen, keine Maske tragen. Jetzt ist die neue Partei „MFG“ in den oberösterreichischen Landtag eingezogen – deren Kürzel steht für „Menschen Freiheit Grundrechte“. Die Partei betreibt Impfalarmismus, sie spricht sich gegen die Maskenpflicht und gegen breites Testen aus, sie postet auf Facebook von einer „Gesundheitsdiktatur“.

Tatsächlich will diese Partei alle Corona-Maßnahmen abschaffen – sie vertritt diese medizinisch zutiefst fragwürdige Position mit dem Hinweis auf das schöne Wort „Freiheit“. Das ist rhetorisch gesehen ein cleverer Trick: Es klingt immer gut, wenn jemand sagt, er oder sie fordere Freiheit. Die Gefahr ist allerdings, dass Freiheit manchmal missverstanden wird als Freibrief zur Rücksichtslosigkeit oder als Freiheit, die Fakten ignorieren zu können, selbst in gefährlichen Situationen.

Das Wort Freiheit wird immer wieder als Argument genutzt, um neue Sicherheitsmaßnahmen oder gesellschaftliche Regeln abzuwehren. Als die Gurtpflicht in vielen Ländern auf der Welt diskutiert wurde, löste das wütende Reaktionen bei manchen aus – inklusive des Vorwurfs, dadurch würde die Freiheit von Bürger:innen zu sehr begrenzt. Zum Beispiel brachte der US-amerikanische Abgeordnete David Hollister Anfang der 1980er-Jahre im Bundesstaat Michigan einen Gesetzesvorschlag für die Anschnallpflicht im Auto ein. Er bekam damals wütende Rückmeldungen – in einem Brief wurde er mit Hitler verglichen. Das berichtete der amerikanische „History“-Channel. Heute würde Hollister wohl eher keinen Brief, sondern massenweise wütende E-Mails oder Facebook-Postings bekommen. Die Debatte um die Gurtpflicht verlief aber nicht nur in den USA erhitzt.

Der renommierte „Spiegel“ brachte Dezember 1975 die Titelgeschichte „Gefesselt an’s Auto“, als in Deutschland die Anschnallpflicht beschlossen wurde. Diese Titelgeschichte brachte auch Argumente der Gegner:innen der Gurtpflicht und fragte beispielsweise: „Fügt es sich noch in die letzthin so häufig bemühte freiheitliche Grundordnung, dem Bürger das Verfügungsrecht über seine sowieso sterbliche Hülle zu nehmen? Und wenn schon den Frauen der Bauch gehört, gehört dann nicht jedermann Schädel oder Schienbein?“ Diese Argumentation ist aus heutiger Sicht kurios: Der Mensch stirbt ohnehin, warum sollen Leute dann verpflichtet werden, Gurte anzulegen? Zum anderen wird in dieser Passage ein unbehaglicher Vergleich gebracht: Wenn Frauen mit dem Slogan „Mein Bauch gehört mir“ ihr Recht auf einen Schwangerschaftsabbruch einfordern, also dass sie selbst entscheiden können, ob sie ein Kind austragen wollen, warum sollen dann Menschen im Auto nicht auch selbst entscheiden können, ob sie den Gurt anlegen?

Manche verweigern die Impfung, die Maske, das Testen. Sie stellen dabei ihre Wahlfreiheit in den Vordergrund und blenden aus, dass ihr Verhalten andere betrifft. 

Fairerweise muss man anmerken, dass der „Spiegel“ in seiner Cover-Story auch viele Argumente pro Gurt angeführt hat – weil Gurte (ebenso wie die Corona-Impfung) eben nachweisbar Leben retten. Angesichts dieses Zitats aus dem „Spiegel“ bin ich froh, nicht im Jahr 1975 gelebt zu haben – wobei das Jahr 2021 auch seine Schattenseiten hat. Manche verweigern die Impfung, die Maske, das Testen. Sie stellen dabei ihre Wahlfreiheit in den Vordergrund und blenden aus, dass ihr Verhalten andere betrifft. Ungeimpfte können das Virus eher übertragen, sie haben eine höhere Wahrscheinlichkeit, auf der Intensivstation zu landen – und das hat sehr wohl Auswirkungen auf Geimpfte, wenn wegen diesen zum Beispiel eine wichtige Operation verschoben werden muss, weil die Intensivstation voll ist mit Ungeimpften.

Der Philosoph und Buchautor Jan Skudlarek spricht hier übrigens von „toxischer Freiheit“. In einem Essay für das Schweizer Qualitätsmedium „Republik“ schreibt er: „Was Querdenkerinnen, Wutbürger und Verschwörungstheoretikerinnen meinen, wenn sie ,Freiheit‘ sagen, hat wenig zu tun mit der pluralistischen Solidargemeinschaft und ihrem bürgerlichen Freiheitsverständnis. Einer Solidargemeinschaft, in der zwar jeder für sich ist, aber auch für die anderen. Ein solches Freiheitsverständnis, das darauf pocht, auch Schaden anrichten zu dürfen, könnte man als ,toxische Freiheit‘ bezeichnen. Toxische Freiheit ist Selbstbestimmung um jeden Preis, ein individualistisches Ellbogenrecht des Stärkeren. Schädliche Wirkungen werden unter dem Prinzip ,Pech gehabt!‘ billigend in Kauf genommen. Es gibt gute Gründe, das unmoralisch zu finden.“

Das Wort „Freiheit“ erscheint mir, wenn es nicht mit der Bereitschaft einhergeht, solidarisch auf andere zu schauen oder wissenschaftliche Fakten anzuerkennen, letztlich ein ziemlich wertloser Begriff.

Ingrid   Brodnig

Ingrid Brodnig

ist Kolumnistin des Nachrichtenmagazin profil. Ihr Schwerpunkt ist die Digitalisierung und wie sich diese auf uns alle auswirkt.