Das Foto zeigt ein Mädchen, umgeben von Kommentaren und Emojis. Einer der Kommentare lautet: "Wann kommt eig dein hoddes Tanzvideo?".
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Die dunkle Seite von WhatsApp: Kinder und ihre Stalker

WhatsApp-Kanäle können jeden zum Mini-Prominenten machen. Auch viele Kinder stellen dort ihr Leben aus – offen, verletzlich und tausende Fremde schauen zu. Darunter: nicht nur Gleichaltrige, sondern auch Menschen mit gefährlichen Absichten.

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Marlene* sitzt um 07:14 im Schulbus. Sie ist 12 Jahre alt, geht in die 3. Klasse und hat einen kleinen Bruder. Um 12:33 endet die Schule – heute nur fünf Stunden. Zu Mittag kocht sie Nudeln, am Nachmittag springt sie in den Pool. In einem engen Sportoutfit turnt sie einen Salto, eine Übung, die sie gerade gelernt hat. Sie bereitet das Abendessen zu, trifft sich mit einer Freundin und ist um 23:50 wieder zu Hause. Ein normaler Tag für eine 12-Jährige – mit einem Unterschied: 25.000 Menschen sehen ihr dabei zu. Auf einem WhatsApp-Kanal.

*Name von der Redaktion geändert

Das Mädchen erhält viel Zuspruch – doch nicht alle Kanalmitglieder meinen es gut. profil trat über 40 Kanälen bei, um herauszufinden, wie gefährlich diese WhatsApp-Kanäle tatsächlich sind. Das Ergebnis: Die Zahl der sexuellen und hasserfüllten Reaktionen ist enorm – und wächst. Am Ende der Recherche weiß profil mehr über die Mädchen, als ihnen vermutlich recht ist, Wohnort eingeschlossen.

Neue Funktion, neue Möglichkeiten

WhatsApp ist eigentlich als weltweit meistgenutzter Messengerdienst bekannt, den über zwei Milliarden Menschen am Handy haben. Eine neue und noch nicht bei allen bekannte Funktion sind Kanäle. Diese Channels sind eine reine Einbahnkommunikation: Kanalbetreibende senden Inhalte, Abonnent:innen können diese lediglich lesen und – höchstens – mit Emojis reagieren. Geteilt werden Texte, Fotos und Videos. Jede Person kann Kanäle eröffnen – von Privatnutzer:innen über Unternehmen bis hin zum Bundeskanzler. Auch der Beitritt steht allen offen.

Beliebt sind die Kanäle, weil sie wie Instagram oder Telegram als Interessensräume funktionieren, die schnellen Zugang zu Communities bieten.

Matthias Jax

„Saferinternet“-Projektleiter

Neben prominenten Persönlichkeiten aus Kultur, Wirtschaft oder Sport entdecken zunehmend auch Kinder und Jugendliche diese Funktion. Laut dem „Internet Monitor”, der auf einer Befragung von 405 Jugendlichen in Österreich basiert, ist WhatsApp in der Altersgruppe der 11- bis 17-Jährigen das beliebteste soziale Netzwerk.

„Beliebt sind die Kanäle, weil sie wie Instagram oder Telegram als Interessensräume funktionieren, die schnellen Zugang zu Communities bieten“, erklärt Matthias Jax, Projektleiter von „Saferinternet”. Zwar seien die Inhalte öffentlich, die zugrunde liegenden Chats aber Ende-zu-Ende verschlüsselt. Externe Einblicke in Nutzerzahlen oder Aktivitäten gebe es nicht – diese Daten kontrolliere ausschließlich WhatsApp, so Jax.

Problematisch bleibt: Viele Nutzer:innen sind jünger als die offiziell in Österreich vorgeschriebene Altersgrenze von 14 Jahren. Für die Anmeldung reicht ein einfacher Klick auf “Weiter”, um zu bestätigen, dass man alt genug ist.

Matthias Jax sitzt auf einem dunklen Sessel und hält ein Handy. Er blickt direkt in die Kamera. Neben ihm steht eine große grüne Pflanze.
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Kinder im Rampenlicht 

Auf den ersten Blick wirken WhatsApp-Channels harmlos – eine einfache Möglichkeit, Kundschaft, Fans oder Interessierte zu erreichen. Kinder vernetzen sich und tauschen sich über die Banalitäten ihres Alltags aus. 

profil tritt 42 WhatsApp-Channels bei. Anfangs sind sie nur schwer aufzuspüren, doch je genauer der Algorithmus die Interessen erfasst, desto mehr Vorschläge für die Kanäle von Minderjährigen erscheinen: Marlene* (12), Sara* (13), Nicole* (12) – auch sie betreiben eigene Kanäle, denen profil mit einem Klick beitreten kann und damit digital im Kinderzimmer der Mädchen steht.

Inhalte sind Lifestyle-Tipps, Haarpflege oder Turnübungen. Die Gesichter oft mit Emojis verdeckt, der Körper jedoch sichtbar: Marlene* turnt im Garten, Sara* macht einen Handstand auf dem Kinderbett, Nicole* teilt ein Spiegel-Selfie. Szenen, die für Gleichaltrige harmlos und inspirierend wirken mögen – für andere sind sie ein gefundenes Fressen.

Die Reaktionen zeigen, wie Videos kindlicher Selbstinszenierung sexualisiert werden. Emojis wie 🍆,🍑,💦 oder 🍒 sind dabei eindeutige Codes. Zudem wird mit abwertenden und hasserfüllten Emojis reagiert.

Außerdem stößt profil auf zahlreiche Kanäle von Erwachsenen, die erotische oder pornografische Inhalte verbreiten. Sie sind ohne Einschränkung zugänglich – mit einem einzigen Klick, für Nutzer:innen jeden Alters. Damit geraten auch Kinder, selbst wenn sie nicht selbst im Mittelpunkt stehen, unmittelbar in Reichweite solcher Inhalte.

Umgehungsstrategien

Zwar wirbt WhatsApp mit der Sicherheit der Kanäle, da Nutzer:innen nur mit Emojis reagieren können. Doch die Kinder finden einfache Umgehungsstrategien. Sie verlagern ihre Kommunikation zunehmend auf externe Plattformen wie „Chumpick“, wo ihnen anonym Fragen gestellt werden können, die sie anschließend in ihren Kanälen beantworten. Im Kanal von Sara* (13) erscheinen etwa anonyme Anfragen wie: „Wann kommt das hodde Tanzvideo?“ Oder Kommentare wie: „Du bist voll hot.“ Eine Userin fragt sie verzweifelt: „Meine Mutter schlägt mich, was kann ich tun?“ In solchen Momenten wird Sara*, selbst noch ein Kind, zur Ratgeberin.

Viele der Kanalbetreiber:innen gehen noch einen Schritt weiter und verlinken ihre eigene WhatsApp-Gruppe. Im Unterschied zu den Channels können hier alle Mitglieder kommentieren. In diesen Gruppen geben die Teilnehmenden ihre Daten preis – die Telefonnummer ist ebenso ersichtlich wie teils Klarnamen und Profilbilder. profil tritt der WhatsApp-Gruppe von Nicole* (12) bei, die 53 Mitglieder umfasst. Ein großer Teil der Mitglieder ist zwischen 10 und 15 Jahre alt. Allerdings beteiligen sich viele nicht aktiv an den Gesprächen, sondern lesen nur mit. Wer diese stillen Mitglieder sind, ihr tatsächliches Alter und ihre Absichten in der Gruppe bleiben im Verborgenen.

Neben belanglosen Nachrichten tauchen hochsensible und intime Themen auf. Die Kinder schicken sich gegenseitig Bilder von Frauen, die „so schön dünn“ seien. Die Kinder diskutieren darüber, wer von ihnen am “fettesten“ und „hässlichsten“ ist. Einige verschicken sogar Bilder von sich selbst. Manche Kinder verwenden Emoji-Kombinationen, die auf selbstverletzendes Verhalten hindeuten.

Auch Belästigung ist ein wiederkehrendes Thema. Eine minderjährige Nutzerin berichtet, auf WhatsApp nach Nacktbildern gefragt worden zu sein. Die Reaktionen: Ekel, aber keine Überraschung – fast allen Antwortenden sei das schon passiert. Ein Mädchen erklärt, sie verschicke in solchen Fällen einfach fremde Nacktfotos aus dem Netz, nur um Ruhe zu haben.

profil bleibt stumm, ein unsichtbarer Beobachter. Mit wenigen Klicks öffnet sich die verletzlichste Intimsphäre von Kindern. Entblößt für alle, die nur kurz danach suchen. Der Zugang ist so leicht wie erschreckend.

Geld statt Gefahrenabwehr

Trotz der Brisanz bekommt das Thema kaum mediale Aufmerksamkeit. Eine der wenigen Ausnahmen ist die deutsche Soziologin und Content Creatorin Jennifer Hügel. Auf YouTube veröffentlichte sie eine Recherche mit ähnlichen Ergebnissen wie profil, ihr Video auf dem Kanal „JKHuegel“ sahen bis Ende September über 45.000 Menschen.

Danach diskutierten Jugendliche in den betroffenen Kanälen offen darüber. Eine Betreiberin schrieb: „Mir ist erst da klar geworden, dass meine Videos wirklich Zehntausende erreichen.“ Eine andere erzählte von Ärger mit den Eltern. Manche löschten ihre Kanäle – eine resümierte: „Ich bin noch jung und verbringe zu viel Zeit am Handy.“

Es geht am Ende ums Geld.

Matthias Jax

„Saferinternet“-Projektleiter über Plattform-Interessen

Für Hügel ist klar: Kinder und Jugendliche unterschätzen die Reichweite ihrer Inhalte – und die Gefahren. „Das Internet ist in den letzten Jahren ein immer gefährlicherer Ort geworden – besonders für Kinder“, warnt sie. Jugendliche stolpern in WhatsApp-Kanälen oft ahnungslos über problematische Inhalte. Auch Matthias Jax von „Saferinternet“ spricht von einer Gefahr: „Es gibt aktuell nicht wirklich einen Schutz.” Monitoring fehle, es brauche eine europäische Lösung. Auf die Frage, warum Plattformen Inhalte kaum einschränken, antwortet Jax: „Ich glaube, es kann wahrscheinlich jeder mittlerweile für sich selbst beantworten, der sich ein bisschen damit beschäftigt. Es geht am Ende ums Geld.“

profil weiß inzwischen, wo Marlene* wohnt: die kleine Stadt in Oberösterreich, das Einkaufszentrum, in das sie gerne geht, das Kino, in dem sie mit ihren Freundinnen sitzt. Selbst ihre Schule findet profil schnell heraus. Aus flüchtigen Posts ist längst ein präzises Bild geworden. profil selbst wird aus den Gruppen austreten und die Anonymität der Mädchen wahren. Wenn diese sensiblen Informationen jedoch in die falschen Hände geraten, stellt das ein großes Risiko dar.

Hannah Leitner

Hannah Leitner

seit September 2025 Trainee bei profil. Moderiert ehrenamtlich bei Politiktrafik.