Der britische Erzähler Ian McEwan im Seitenprofil auf einer Schwarzweiß-Aufnahme
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Auch er hätte den Nobelpreis verdient: Ian McEwans neuer Roman „Was wir wissen können"

Der britische Erzähler schreibt in seinem jüngsten Roman „Was wir wissen können“ das drohende Ende der Welt herbei.

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Lang lebe die Literatur! Tom Metcalfe, der Erzähler des Romans „Was wir wissen können“, erforscht das Leben des berühmten Schriftstellers Francis Blundy und dessen Frau Vivien – über die Jahrhunderte hinweg: Der Literaturwissenschafter wirft aus dem Jahr 2119 einen Blick auf einen Oktoberabend 2014, als der Lyrik-Geck Blundy in heiterer Runde seiner Vivien als Geburtstagsgeschenk ein auf Pergament gekritzeltes Sonett vortrug. 105 Jahre später, in Toms Gegenwart des Jahres 2119, gelten die Liebesverse als Meisterstück der englischsprachigen Literatur.

Doch ach! Das vermeintliche Wunderding wurde nie publik gemacht, die Handschrift ging verschollen. Toms Rekonstruktion der Geburtstagsfeier anhand von SMS-Botschaften, Social-Media-Einträgen und E-Mails fördert wie nebenher verhängnisvolle Affären und zwischenmenschliche Abgründe zutage.

Die Welt stand zwischen 2014 und 2119 übrigens nicht still. „Man redete über den Klimawandel, so der verharmlosende, damals noch gebräuchliche Ausdruck“, notiert Tom.

Die Welt in gut 100 Jahren, die McEwan entwirft, ist kein Ort, an dem man leben möchte: Kriege, Hungersnöte, Migrationsströme, Dürre, Taifune, Tsunamis, Waldbrände, Wirbelstürme sind wiederkehrende Ereignisse, dazu die fortschreitende Übersäuerung der Meere, schmelzendes Polareis, Pandemien. Jahre, in denen halbwegs Ruhe und Ordnung einkehren, sind reine Reminiszenzen an alte Glorie, an das erste Vierteljahrhundert des 21. Jahrhunderts.

Die Welt neigt sich ihrem unrühmlichen Ende entgegen – und Schöngeist Tom sucht nach einem Sonetten-Zyklus auf Pergament, einmalig vorgetragen zu Wachteln mit Steinpilzen. Mit Ach und Krach hat es die Menschheit in das Jahr 2119 geschafft – und Tom sinniert darüber, welche Kartoffelsorte bei dem ominösen Lyrik-Dinner auf den Tisch kam. McEwan mischt spekulative Weltuntergangsgeschichte mit buchstäblicher Küchenphilosophie, verwebt nervtötenden Alltagstrott mit Krimi und Verbrechen, das in seiner gehässigen Herrlichkeit langsam, aber sicher ans Tageslicht kommt. Sehr viel weiter lassen sich Schalk und Witz nicht treiben.

Wolfgang Paterno

Wolfgang Paterno

ist seit 2005 profil-Redakteur.