Geschrei & Leidenschaft: Scharfe Töne gegen Milo Rau nach Gaza-Text
Als der Regisseur und Autor Milo Rau, Intendant der Wiener Festwochen, vor zwei Wochen einen „Brief an meine Freunde“ veröffentlichte, einen Aufruf zum „Widerstand“ gegen das von ihm diagnostizierte Schweigen des Kulturbetriebs zu den Massakern in Gaza, konnte nicht einmal ein mit allen Wassern gewaschener Provokations- und Diskursprofi wie Rau ahnen, welch heftige Kritik er sich damit einhandeln würde.
Seine Nennung des umstrittenen Begriffs „Genozid“ spielte dabei eine Rolle. profil führte mit Rau noch am Tag des Erscheinens seines Aufrufs ein Interview, in dem der Künstler unter anderem sagte: „Ich habe selbst lange zugewartet, bis es hieß: Das ist ein Genozid. Dies haben alle Forschungskommissionen und die UNO belegt. Inzwischen haben wir nur noch zwei Optionen: Wir räumen die Institutionen ab und pfeifen auf internationales Recht, tun so, als gebe es kein Völkerrecht und auch den Begriff Genozid nicht. Oder wir tun endlich irgendetwas.“ Rau wagte zudem den historischen Vergleich, dass es auch einst, als die Nazis ihre Tyrannei errichtet hatten, ähnlich wenig Gegenwehr aus der Zivilgesellschaft gegeben habe.
Die erste Reaktion folgte, auch darüber berichtete profil ausführlich, wenige Tage später: In einem Gegenbrief wehrten sich gewichtige Stimmen der österreichischen Kulturszene gegen die Unterstellung, geschwiegen zu haben. Das Schreiben sei, wie Gerhard Ruiss, Geschäftsführer der IG Autorinnen Autoren, wissen ließ, als „Absage“ an Raus Aufruf angelegt. Die Unterzeichnenden des Rau scharf widersprechenden Briefs – darunter Olga Flor, Robert Schindel, Monika Helfer, Michael Köhlmeier und Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek – argumentierten zornig: Rau gehe es nicht etwa um „Widerstand gegen antijüdische Boykotte innerhalb der Kunstszene“. Er fordere „nicht auf zum Widerstand gegen Judenhass und Israelhetze“. Ihn störe „nicht das Schweigen über die antisemitischen Attacken und Attentate in vielen Ländern. Zu leise noch findet er jene, die gegen den Judenstaat hetzen.“

Milo Rau in seiner Festwochen-Montur als Vorsitzender der "Republic of Love"
Allerdings betont Rau in seinem Text, dass man in diesem Krieg auf keiner Seite als der Menschlichkeit stehen dürfe: „Über Gaza zu reden bedeutet, die Verbrechen des israelischen Militärs genauso zu verurteilen wie die Verbrechen der Hamas. Nicht zu schweigen bedeutet, an der Seite aller zu stehen, die gegen den Völkermord in Gaza auf die Straße gehen: seien es palästinensische, israelische oder europäische Bürger:innen.“ Die Rau unterstellte Einseitigkeit in seinen „Schuldzuweisungen“ ist also nicht leicht auszumachen. Und doch monieren seine Kritiker, er behaupte fälschlich, der israelische Regierungschef und sein Kabinett hätten „zur Vernichtung des palästinensischen Volkes" – und eben nicht bloß der Hamas – "aufgerufen“. Schlimmer noch: Rau wolle „Aufmerksamkeit und Quoten – und zwar auf Kosten des jüdischen Lebens in Österreich“.
Wie sehr man auf dem Terrain des Nahost-Mahnens und Gegen-Mahnens nur verlieren könne, brachte Elfriede Jelinek, die mit Rau unlängst erst die „Burgtheater“-Produktion erarbeitet und nun gegen seinen Aufruf unterschrieben hat, gewoht feinsinnig auf den Punkt: „Man kann nur falsch liegen, weil jede Äußerung einen zwingt, totalitär zu argumentieren“, schreibt sie an profil. „Einerseits und Andrerseits werden geradezu formelhaft beschworen, ständig, aber was ich derzeit, gerade von Kulturschaffenden, aber auch von der Linken höre, ist nur dieses einzige Andrerseits. In der Leidenschaft und all dem Geschrei klingt das antisemitische Narrativ jetzt lauter durch als seit langer Zeit.“

Elfriede Jelinek, Literatin, Nobelpreisträgerin
Seither mehrt sich die Kritik an Rau. Der Schriftsteller Martin Prinz, der in seinem neuen Roman ("Die letzten Tage") die unaussprechliche Hinrichtungslust der Nazis und ihrer Sympathisanten noch im Frühling 1945 dokumentierte, ließ profil einen langen Text zukommen, in dem es unter anderem heißt: "Milo Rau sagt und schreibt vieles. Nicht alles stimmt miteinander überein, man könnte das Zerrissenheit nennen, aber auch Beliebigkeit." Rau behaupte, "es sei einfach und es gäbe nur eine Seite, er nennt sie Menschlichkeit und tut in seinen darauffolgenden Sätzen dann auch flugs so, als ließe sich damit alles differenzieren. Hamas, israelisches Militär, Palästinenser, israelische Gesellschaft etc. (...) In meiner persönlichen Perspektive und aus meiner Erfahrung, nicht zuletzt auch aus jener, die aus einigen Jahren Beschäftigung mit einigen tausend Seiten Gerichtsakten eines großen Prozesse gegen NS-Täter herrührt, kann ich nur sagen: ich glaube es nicht." Denn: "In einem Krieg hat die Menschlichkeit nie nur eine Seite. Krieg ist für bloße Menschlichkeit zu kompliziert. Oder, um es noch härter zu sagen, angesichts eines Krieges, zumal eines solchen, ist die Menschlichkeit nicht bloß ein Klischee, sondern eines, das in die Irre führt."
"Schändliche Anmaßung"
Er wolle, schreibt Prinz, seine "fundamentale Kritik" dort anbringen, wo in seinen Augen Milo Raus "großer und tatsächlich gewagter Vergleich mit der Schoah nicht bloß hinkt, sondern einfach keinerlei Basis hat, oder, schlimmer noch, diese womöglich sogar bewusst fingiert. Denn die Schoah als Menschheitsverbrechen steht auf ihre so unheimliche und entsetzliche Weise für sich. Weder war sie ein Krieg, noch fand sie aufgrund eines Krieges statt, sondern parallel dazu, in aller mörderischen Planung und Organisation. (...) Worüber wir aber sprechen müssen, ist Krieg. Worüber auch Milo Rau spricht, ist Krieg, oder sprechen müsste, indem er genau dies anspräche, den Krieg, der so schrecklich begann und der als solcher so schrecklich ist, dass auch darüber diskutiert oder geurteilt werden muss, ob in diesem Krieg ein Genozid stattfindet. Und selbst wenn einem dieses Urteil schon als gefällt gilt, so befindet man sich in jedem Sprechen darüber im Krieg."