Sportfreunde als Kunstpartner: Matthias Brandt & Christian Petzold im Gespräch
Als Dreamteam des neuen deutschen Autorenfilms bringen sie gerade ihre sechste gemeinsame Arbeit in die Kinos: Der Schauspieler Matthias Brandt erzählt im Doppelinterview mit dem Regisseur Christian Petzold von Fußballbesessenheit, Lachanfällen am Set und einem unliebsamen Geburtstagsgeschenk.
Ein Haus in der Uckermark, eine Terrasse, eine kaputte Familie und eine verlorene junge Frau: Das sind die Prämissen des – nach einem Ravel-Klavierstück benannten – Films „Miroirs No. 3“, den der Berliner Filmemacher Christian Petzold, frisch angelobter Präsident des Viennale-Festivals, inszeniert hat (Österreich-Kinostart: 7. November). Petzolds Stil ist geprägt von der Reduktion aufs Wesentliche: vier Personen, knappe Dialoge, weite Landschaften, ein weißer Zaun, der Wind des Spätsommers in den Blättern der Bäume.
Ein schwerer Autounfall setzt die Dinge in Bewegung: Eine junge Pianistin (Paula Beer) kommt mit bloßen Schürfwunden davon, ihr Freund liegt tot im Wrack. Sie bittet eine Frau (Barbara Auer), die den Unfall miterlebt hat, darum, ein paar Tage bei ihr bleiben zu dürfen. Sie lernt deren Mann (Matthias Brandt) und den gemeinsamen Sohn (Enno Trebs) kennen, die eine Autowerkstatt betreiben und nur noch ab und zu zum Essen nach Hause kommen. Ein dunkles Geheimnis lastet auf der Familie, aber der neue Gast im Haus greift ins dysfunktionale Gefüge ein. Es wird, in aller Stille, kompliziert.
„Miroirs No. 3“ schlägt einen ganz eigenen Ton im Gegenwartskino an, etwas Morbides, Allegorisches, auch Traumwandlerisches schwingt in der nur scheinbar realistischen Erzählung mit. Das Ensemble hat daran – neben einem mitreißenden Song von Frankie Valli – starken Anteil, ein ostdeutscher Western nimmt sanft Gestalt an. Mit allen vier Schauspielkräften, die im Zentrum dieses Films stehen, hat Petzold, 65, bereits mehrfach gearbeitet, Barbara Auer spielte schon vor 25 Jahren in Petzolds Karrierestarter, in „Die innere Sicherheit“, eine Hauptrolle. Mit Matthias Brandt, 64, arbeitet Petzold seit einem guten Jahrzehnt zusammen, hat mit ihm drei Kinofilme sowie, zwischen 2015 und 2018, drei Episoden der TV-Krimiserie „Polizeiruf 110“ veröffentlicht. Als in sich gekehrter Hauptkommissar Hanns von Meuffels erspielte sich Matthias Brandt darin, an der Seite Barbara Auers, hohe Popularitätswerte. Am Theater begann er, Sohn des einstigen Bundeskanzlers Willy Brandt, in den frühen 1980er-Jahren seine Karriere, seit 2000 gehört er zu Deutschlands gefragtesten Charakterdarstellern in Film und Fernsehen. Seit ein paar Jahren reüssiert Matthias Brandt auch als Schriftsteller – und spielt nebenbei wieder Theater.
Barbara Auer am Lenker, Paula Beer am Gepäckträger: Szene aus Petzolds "Miroirs No. 3", gedreht in der ostdeutschen Uckermark
Sie sind einander nach so vielen gemeinsamen Projekten nicht nur professionell, sondern auch freundschaftlich verbunden. Kommt diese Vertrautheit dem Filmemachen entgegen? Oder muss man bisweilen auch gegen das Risiko arbeiten, dass die gemeinsame Arbeit zu routiniert werden könnte?
Brandt
Ja, wenn die Gefahr bestünde, müsste man das tun. Bei Tucholsky heißt es: Hier können Familien Kaffee kochen. Das birgt ein Routine-Risiko. Mir ist diese Vertrautheit sehr angenehm, weil ich ein eher scheuer Mensch, auch ein scheuer Schauspieler bin – und meist damit beschäftigt bin, mich überhaupt zurechtzufinden. Ich glaube aber, wir Schauspieler haben ein sehr feines Gespür dafür, die Arbeit nicht in Gemütlichkeit verebben zu lassen. Das würde ich als die Hauptgefahr beschreiben: dass man nachlässig wird und sich gegenseitig dauernd auf die Schultern klopft. Aber das habe ich mit Christian noch nie erlebt – in anderen, vermeintlich unvertrauteren Zusammenhängen schon.
Petzold
Das betrifft ja auch die Welt hinter der Kamera. Ich hatte mal einen Assistenten, der jeden Tag, als er unsere Aufnahmen gesehen hatte, mich umarmt und geschrien hat: „Das ist Godard!“ Oder: „Das ist Cannes!“ Den musste ich leider entlassen. Aber die Scheu, von der Matthias spricht, habe ich auch. Eine Scheu zu haben, wenn es um Geschichten und Kunst geht, finde ich richtig. Und es ist manchmal gut, einer Scheu mit Vertrauen begegnen zu können.
Wenn Christian Petzold Filme macht, so erzählen Beteiligte, werde viel geprobt, anschließend sehr ruhig und konzentriert gedreht: fast jede Einstellung in nur einem Take, selten gebe es einen zweiten. Man treffe einander vormittags, nicht zu früh, man trinke Kaffee, probe das Tagespensum, nachmittags werde gedreht. Um 17 Uhr sei man meist fertig. Das klingt fast idyllisch. Kommt Ihnen diese Arbeitsweise entgegen, Herr Brandt?
Brandt
Während meiner ersten Berufsjahre vor der Kamera wurde noch auf analogem Film gedreht. Das Filmmaterial war kostbar. Man wusste, wenn die Kamera läuft, dann ist das ernst, weil es viel Geld kostet. Das hatte etwas Konzentrationsstiftendes. Und es war sehr wichtig, weil ein Filmset ständig dazu neigt, in alle möglichen Richtungen zu zerfasern. Filmregie ist, glaube ich, wahnsinnig anstrengend, ein Akt des permanenten Zusammenhaltens. Als die Digitalisierung kam, hatte ich das Gefühl, dass man für diesen Konzentrationspunkt etwas Adäquates hätte finden müssen. Aber das ist nicht geschehen, es ist nur der Begeisterung dafür gewichen, dass man auf einmal mit fünf Kameras gleichzeitig drehen und so viel Material sammeln kann, wie man will. So breitete sich eine Zufälligkeit aus: als müsse man einfach nur so viel wie möglich aufnehmen, da werde dann schon „irgendwas dabei sein“. Aber bei Christian hatte ich von Anfang an das Gefühl, er habe dieses Äquivalent gefunden.
Petzold
Mein Produzent hat einmal gesagt, seit wir digital drehen, sei mein Drehverhältnis noch besser geworden. Wir produzieren also noch weniger Ausschuss. Ich will nicht für alle Fälle alles aus allen Perspektiven drehen. Ich muss diese Konzentration haben. An vielen Sets wird inzwischen mit drei Digitalkameras zugleich gearbeitet. um sich den Lichtumbau zu sparen. Also muss man ein Grundlicht setzen, das für alle drei Kameras taugt. Aber ein Grundlicht ist keine Einstellung zur Welt. Da wird die Welt zur Fußgängerzone gemacht, in der irgendwie alles passt. Deshalb sieht das so schäbig aus. Jede Einstellung ist aber eine Einstellung zur Welt, zu der man sich verhalten muss.
Jedes Bild eine Frage der Moral?
Petzold
Mein Kollege Dominik Graf war begeistert, als die digitale Filmtechnik kam, als er endlich mit zwei, drei Kameras drehen konnte. Er macht sich gern ein wenig lustig über Eric Rohmer, obwohl er dessen Filme ja sehr mag, weil dieser stets so moralisch argumentiert hat. Eine Einstellung als moralische Haltung zur Welt? Das akzeptiert Dominik nicht. Er macht ja filmische Musik, will alles fließen lassen. Er denkt, moralische Einstellungen halten die Welt, das Fließen nur auf. Ich finde aber, Rohmer hat recht. Jede Einstellung ist zu hinterfragen. Warum stelle ich die Kamera da hin? Warum drehe ich so? Wie entsteht aus zwei Einstellungen eine virtuelle dritte im Kopf? Diesen Fragen muss man sich immer stellen.
Konzentration am Set, das ist das eine. Das andere ist Empathie. Sie brüllen als Regisseur Ihr Team wohl eher selten an. Das wäre Ihren Filmen und Ihrer Arbeitsmethode nicht zuträglich, oder?
Petzold
Würde ich am Set schreien, wären die Schauspieler die Ersten, die merkten, wie unglaublich schlecht meine Performance wäre. Also muss ich mit den perfideren Methoden arbeiten, die ich von meiner Mutter gelernt habe. Die hat auch nie geschrien.
Brandt
Die Nerven manchmal auch wegzuschmeißen, das ist ja ein Teil unserer Arbeit. Das kann und darf vorkommen. Denn es ist sehr aufreibend, was wir da machen. Ich habe das nie als so schlimm empfunden, wenn es tatsächlich aus der Arbeit heraus entstanden ist. Unangenehm ist es nur, wenn sich jemand über seine Wutanfälle darstellen will. Aber es ist, wie Christian sagt: Das Cholerische hätte er früher etablieren müssen. Das würde heute lediglich für große Verwunderung sorgen – und vielleicht dazu führen, dass man einen Kamillentee kochen ließe.
Sie sind beide auch Autoren. Verbindet das genau gesetzte Wort, das möglichst präzise Schreiben miteinander?
Brandt
Ja, da ist was dran. Wenn man Autorenschaft definieren will, hat das erstens viel mit der Fähigkeit zu warten und zweitens mit einem Empfinden für Reduktion zu tun. Und das sind zwei Dinge in der künstlerischen Arbeit, die uns absolut verbinden.
Herr Brandt, das Cover Ihres autobiografischen Buchs „Raumpatrouille“ zeigt einen Buben im Astronautenanzug, der wie ein Fremder in der Welt steht. Sie sind in einem vielfach zerrissenen Deutschland aufgewachsen, als Sohn eines Politikers, der ab 1969 fünf Jahre lang deutscher Bundeskanzler war – als ein abgeschirmtes Kind, das in Zeiten des eskalierenden Terrorismus gesichert und bewacht werden musste. Wie kamen Sie zur Schauspielerei? Hatte diese sehr spezielle Kindheit mit Ihrem Berufswunsch zu tun?
Brandt
Wahrscheinlich. In der Rückbetrachtung sind mir manche Dinge deutlicher, als sie mir damals waren. Ich habe sehr früh vieles imaginiert, habe etwa in Frage gestellt, ob ich der war, der ich zu sein schien – wohl eine wichtige Voraussetzung für meinen Beruf. Ich wollte schon als Kind herauskriegen, wer ich war, und die eigene Identität hinter mir lassen, um andere Identitäten aus Gründen des Erkenntnisgewinns ausprobieren zu können. Ich wollte über das Spielen mich und die Welt verstehen: diese Welt, die mir ja nicht ungewöhnlich erschien, weil sie halt die war, in die ich reingeboren worden war.
Als Teenager haben Sie das Arbeitsamt angerufen und gefragt, wie man Schauspieler werden könne.
Brandt
Es gab noch kein Internet, und ich war damals noch deutlich scheuer als heute. Ich habe mich geschämt, jemanden aus meinem Umfeld zu fragen, denn ich entsprach der Vorstellung nicht, was und wie ein Schauspieler zu sein hätte. Alle, die mich kannten, hätten nur gefragt: „Du? Schauspieler?“ Ich war dieser In-mich-Mensch, erschien also ganz ungeeignet dafür. Das hat mich zu einer noch größeren Verschlossenheit gebracht. Ich wollte die Niederlage, von der ich hundertprozentig ausging, nicht öffentlich machen und habe deshalb beim Arbeitsamt angerufen, wie man heute googeln würde; die haben mir eine Broschüre zugeschickt. Dann bin ich in die Stadtbibliothek gegangen, lieh mir einen Schauspielführer aus, um Theatermonologe zu finden. Zwei davon studierte ich ein, dann fuhr ich zu dieser Aufnahmeprüfung – und zu meiner großen Verwunderung wurde ich angenommen. Die Leute, die mich dort vorsprechen ließen, waren unheimlich großzügig; am Ende der Prüfung haben sie gefragt, was denn eigentlich los sei mit mir. Also habe ich ihnen gestanden, dass ich alle Rollen zu Hause hinter verschlossener Tür flüsternd gelernt hatte; beim Vorsprechen hatte ich die Texte zum ersten Mal laut gespielt und mich auch vor mir selbst erschrocken. Das haben die Leute, zu denen ich sprach, gemerkt: Sie nahmen ihre Stühle, kamen zu mir nach vorn und sagten: „Jetzt flüsterst du uns das alles nochmal vor.“ Das tat ich, und dann nahmen sie mich auf.
Danach haben Sie zwei Jahrzehnte lang praktisch ausschließlich Theater gespielt, mit Film und Fernsehen machten Sie erst um 2000 herum Ernst. Wie kam es zu diesem Bruch? Waren Sie theatermüde?
Brandt
Man konstruiert sich im Nachhinein zusammen, wie das eine zum anderen geführt hat. Wahrscheinlich war ich ein bisschen müde oder unzufrieden, habe mir anderes gewünscht. Ich hatte schon bei meinen wenigen Berührungspunkten, die ich vor 2000 mit Kameras hatte, gemerkt, dass ich ein Empfinden dafür habe. Das hat mit schauspielerischer Begabung nur in zweiter Linie zu tun. Es gibt sehr, sehr gute Theaterschauspieler, die kein Empfinden für das Medium haben und kein Verhältnis zu einer Kamera aufbauen können. Ich aber wusste schon, dass mich das interessieren würde, und dann sind ein paar Dinge gleichzeitig passiert. Eine gewisse Müdigkeit auf der einen Seite, Angebote auf der anderen, so entwickelte sich das. Und ich blieb dem Theater 20 Jahre lang weitgehend fern. Aber seit 2021 bin ich wieder Theaterschauspieler, am Berliner Ensemble. Es war aufregend für mich, da noch einmal hinzufinden.
Ihre Bücher sind in hohem Maße autobiografisch. Christian Petzolds Filmprojekte sind ebenso persönlich gefärbt. Insofern ist es fast ironisch, dass Sie gemeinsam neben drei Kinofilmen auch drei Fernsehkrimis realisiert haben, drei Episoden der Serie „Polizeiruf 110“. Wie persönlich nehmen Sie Ihre TV-Auftragsarbeiten?
Petzold
Ich kannte Matthias noch gar nicht, als die Redakteurin mich gefragt hat, ob ich Lust hätte auf einen „Polizeiruf“. Man händigte mir eine Mappe aus, in der nachzulesen war, wer die Figur ist, die Matthias spielte. Diese Mappe, in der die Charaktereigenschaften jenes Kommissars niedergeschrieben waren, hat mich völlig verwirrt. Früher wurden in Rowohlt-Taschenbüchern vorab alle Figuren, die in einem Roman auftauchten, wie bei einem Theaterstück aufgelistet. Und daneben deren Charaktereigenschaften, die alle so klangen wie: ein Gynäkologe mit finsterer Vergangenheit. So ähnlich las sich auch diese Mappe.
Brandt
Ich kann mich nicht erinnern, diese Mappe jemals zu Gesicht bekommen zu haben.
Petzold
Die liegt vermutlich bei der Gauck-Behörde. Das war auch wie die Biografie eines irren Gauck-Spions: gefallener Adel, gekränkt, solche Sachen. Ich habe mir dann stattdessen ein paar „Polizeiruf“-Folgen angeschaut. Und mich erinnerte die Figur, die Matthias da spielte, stark an meine Fernsehvergangenheit als Jugendlicher. An eine Zeit, als TV-Krimis noch ganz anders waren, getragen von Leuten wie Erik Ode oder Hansjörg Felmy. Das waren für mich Kommissare, die nicht privat waren. Die waren nicht zu Hause plötzlich vegan geworden oder hatten queere Töchter, wie das heutzutage allen Fernsehpolizisten anhängt. Nein, die hatten damals einen Trenchcoat, eine Zigarette und eine Traurigkeit. Sie gingen an Orte, an denen Verbrechen aus Leidenschaft begangen worden waren, und holten sich etwas von der Leidenschaft dieser Ermordeten und Mörder in sich hinein, um ihre innere Melancholie zu füllen. Und ich fand, Matthias spielte seine Figur in diese Richtung. Das hat mir gefallen. Dann trafen wir einander zum ersten Mal, im Literaturhaus Fasanenstraße, zusammen mit der Redakteurin. Und wir kamen sofort auf Literatur zu sprechen, nämlich auf das Buch des Fußballstars Günter Netzer, „Rebell am Ball“. Das war in der Zeit geschrieben worden, als Ode und Felmy noch im Fernsehen zu sehen waren, in den frühen 1970er-Jahren. Und sofort gab es zwischen uns eine Übereinstimmung.
Matthias Brandt (stehend) in Petzolds "Miroirs No. 3", außerdem im Bild: Enno Trebs, Barbara Auer und Paula Beer (v. li. n. re.)
Günter Netzer war Teil Ihres Initialerlebnisses. Bis heute verbindet Sie Ihre Fußballleidenschaft. Sie folgen allerdings verschiedenen Teams. Gibt es Konflikte, wenn Ihre Mannschaften gegeneinander spielen?
Petzold
Matthias hat mir zum Geburtstag einmal einen Ausflug zu einem Spiel geschenkt: Sein Team, Werder Bremen, sollte auf meines, Borussia Mönchengladbach, im Bremer Weserstadion treffen. Mir ging es ganz schlecht, zehn Tage lang, weil ich dachte, das schaffe ich nicht. Irgendwann rief ich Matthias an, und er hat schon aus meinem Gestotter herausgehört, wie fertig ich war.
Brandt
Parallel dachte ich auch, das war eine ganz beschissene Idee. Ich hatte es dir ja aber schon geschenkt und wusste nicht, wie ich aus der Sache wieder rauskomme sollte. Dann kam das Telefonat, in dem du absagen wolltest. Und wir überschlugen uns in Beteuerungen, dass es nicht schlimm sei, wenn wir die Reise absagten.
Petzold
Ich hatte das Entsetzliche in Gedanken durchgespielt: Bremen führt 3:0 zur Halbzeit, ich gehe auf den Parkplatz raus, setze mich ins Mietauto, fange wieder an zu rauchen, die Scheiben von innen beschlagen durch mein heftiges Atmen. Ich höre die Schreie aus dem Stadion. Und irgendwann kommt Matthias als Sieger, aber natürlich mit hängenden Schultern, wie Uwe Seeler 1966 nach dem WM-Finale, wie ein geschlagener Sieger zum Auto, und wir fahren schweigend nach Berlin zurück. Diese Fahrt habe ich mir als das Grauen vorgestellt.
Brandt
Es war dann tatsächlich so, dass dieses Spiel ausgerechnet Bremen 5:1 gewann. Was zu jener Zeit eine große Überraschung war, weil Gladbach eigentlich besser spielte. Es gibt in der englischen Theaterbranche die Übereinkunft, den Namen des Stücks „Macbeth“ nicht auszusprechen. Da liegt ein Fluch drauf. So ähnlich halten wir es, wenn unsere Teams gegeneinander spielen: Wir tun dann so, als gäbe es den Spieltag nicht.
Aber beide sitzen natürlich, getrennt voneinander, vor den Fernsehern.
Brandt
Ja, es gab Versuche, eine Art der Gemeinsamkeit zu schaffen. Die war aber sehr angestrengt. Christian ist einmal bei mir gewesen, da gewann auch Bremen. Nach dem Spiel musste er auf dem Heimweg anhalten, aus dem Auto steigen und rauchen. Mittlerweile halten wir das getrennt.
Wenn die Match-Konstellationen weniger belastet sind, gehen Sie dennoch gemeinsam ins Stadion?
Brandt
Ja, haben wir schon gemacht. Wobei: Wir leben beide in Berlin, und wir hassen das Olympiastadion aus mannigfaltigen Gründen. Deshalb ist für uns Live-Fußball immer mit größeren Reisen verbunden. Das kommt nicht oft zustande. Aber eigentlich schauen wir gerne gemeinsam Fußball und reisen gelegentlich auch zusammen irgendwohin.
Ist das nicht anstrengend, wenn man als scheuer Mensch im Stadion erkannt wird?
Brandt
Ich bin ja schon ein paar Jahre dran gewöhnt. Ich war einmal bei einem Spiel, Werder Bremen gegen Schalke 04. Das ist schon sehr lange her, damals war ich eher so gesichtsbekannt, die Leute konnten mich noch nicht richtig einordnen. Ich hatte in einem Kriminalfilm, der wohl einige Tage zuvor ausgestrahlt worden war, einen Mörder gespielt. Ich stand nah an der Schalker Fankurve. Plötzlich rief irgendjemand: „Mörder! Du bist doch der Mörder!“ Dann brach große Heiterkeit und Begeisterung aus. Es gab sogar „Mörder!“-Sprechchöre in meine Richtung. Ich habe einfach gewunken, als „Mörder, Mörder!“ gerufen wurde. Im Fußballstadion mischen sich sehr unterschiedliche Arten von Humor und Mentalitäten, die aber gut miteinander zurechtkommen. Auch deshalb habe ich diese Umgebung so gern.
Der Schauspieler Thomas Schubert, der in „Roter Himmel“ mit Ihnen beiden arbeitete, sagt über Sie, Herr Petzold: „Er ist sehr genau, extrem geplant. Am Set aber lehnt er sich zurück, schaut fasziniert zu und freut sich über das, was passiert. Wie ein Wissenschaftler, der ein paar Chemikalien zusammen mischt und versehentlich entsteht Leben.“ Sehen Sie sich selbst so?
Petzold
Ja. Es sind eine Menge Vorarbeiten zu machen, man hat mit den Schauspielern intensive Proben absolviert. Aber wenn ich mich kurz vor dem Dreh hinsetze, ist der Moment gekommen, wo sie für sich sind. Einer meiner glücklichsten Momente in „Miroirs“ kam, als wir überlegt haben, wer beim Kuchenessen auf der Terrasse des Hauses wo sitzt. Das soll ja eine Familie sein, etwas Gewachsenes, Organisches. Und man kann natürlich verordnen, wer wo sitzt. Aber ich fand das in der Schule schon immer so toll, wenn man nach den Sommerferien in ein neues Schuljahr ging, wo man frisch war im Kopf und glaubte, die Schule sei gar nicht so schlimm; und dann stürzte man in die Klasse rein und suchte sich seinen Platz. Da bildeten sich Freundschaftsgruppen. Manche blieben hängen, saßen ganz hinten, manche vorne. Es bildete sich ein organisches Kollektiv, einfach so.
Solche Kollektive bilden sich auch am Set?
Petzold
Als wir die Terrassenszene vorbereiteten, fingen die Schauspieler an, um diesen Tisch zu gehen, weil sie festlegen wollten, wer wo sitzen müsse. Und die machten das so still. Ich hab‘ mich auf die Bank unter den Baum gesetzt und sah zu, wie diese Familie sich organisierte, organisch wurde. Es war, als ob ich in einem Stück von Pina Bausch zuschaue, wie ihr Ensemble tanzend seine Position in der Welt findet. In solchen Momenten bin ich am glücklichsten.
Brandt
Es gibt einen Satz der Hochspringerin Ulrike Meyfarth, die 1972 eine Olympische Goldmedaille gewann: „Ich muss den Sprung hundertmal im Kopf vollzogen haben, bevor ich ihn ausführe.“ Das ist die Atmosphäre da. Man muss sich selbst erst in eine Lage bringen, in der man sich zurücklehnen kann. Ich hänge aber noch der fantastischen Formulierung nach, die Thomas gewählt hat.
Das versehentlich entstehende Leben.
Brandt
In seiner jugendlichen Weisheit ist der Satz sensationell. Denn das ist ja, wonach man immer sucht und strebt – und wie man weiß, sind genau die Dinge, die versehentlich oder zufällig passieren, die allertollsten. Alles ist perfekt geplant, damit man im letzten Moment dem Zufall die Tür öffnen kann.
Wie planten Sie aber diesen Werkstattchef, den Sie in „Miroirs No. 3“ spielen? Lernten Sie vorab dessen Handwerk? Es gibt ein Maß an Stilisierung in Christian Petzolds Filmen, das besonders realistisches Schauspiel gar nicht einzufordern scheint. Ist Ihnen trotzdem wichtig zu wissen, wie ein Mechaniker arbeitet?
Brandt
Für mich wäre es nicht wahnsinnig gewinnbringend, vor dem Drehen ein halbes Jahr lang Motoren auseinanderzunehmen und wieder zusammenzusetzen. Für manche meiner Kollegen ist das sinnvoll. Meine Rollenvorbereitung ist das Leben: Man ist, wenn man den Schauspielerberuf gerne ausübt, immer am Lernen. Wenn ich mein Auto in die Werkstatt bringe, schaue ich mir, was da passiert, natürlich anders an, als es sonst jemand tun würde. Es ist ein durch den Beruf vorgegebener anderer Blick auf die Welt.
Eine Déformation professionnelle.
Brandt
Ich weiß nicht, ob es eine Deformation ist. Ich finde diese Aufmerksamkeit schön, vielleicht muss man die gar nicht pathologisieren. Aber ich komme tatsächlich schwer an Situationen vorbei, ohne mir vorzustellen, wie es wäre, selbst in diese zu geraten. Das ist meine Vorbereitung.
Petzold
Als ich meinen Film „Barbara“ drehte, gab es eine Szene, da standen drei Schauspieler, die Ärzte darstellten, vor Röntgenbildern und sollten über mögliche Brüche, die sie da entdeckt hatten, sprechen. Sie konnten auf diesen Bildern nichts sehen und fingen hysterisch an zu lachen. Alle drei steigerten sich in diese Heiterkeit derart hinein, wie wir das aus der Schule kennen; es war nicht mehr aufzuhalten. Wir mussten den Dreh abbrechen. Später meinten die Schauspieler, es sei ein Schamlachen gewesen: Sie schämten sich, weil sie plötzlich so „authentisch“ sein sollten. Umgekehrt war zum Beispiel der Mann, der die Werkstatt besaß, in der wir drehten, als er uns vorführen sollte, wie man an einem Motorblock arbeitet, der schlechteste Kfz-Mechaniker aller Zeiten. Er konnte es nicht mehr, weil er von uns beobachtet wurde.
Newsletter
Drucken
(profil.at)
|
Stand:
Stefan Grissemann
leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.