Schilinski
Uns hat die Gleichzeitigkeit von Zeit fasziniert, die an diesem Ort spürbar ist. Es hat mich filmisch gereizt, das gegeneinander zu montieren: dass jemand an der einen Stelle im Raum etwas Profanes tut, etwa mit dem Handy zu spielen, während jemand anderes genau dort eine existentielle Erfahrung gemacht hat. Dass es ein Film über vier Frauen werden würde, war überhaupt nicht intendiert gewesen, das ist durch die Recherche entstanden, hat uns selbst überrascht. Wir wollten assoziativ durch die Zeiten springen, denn der Film beschäftigt sich ja hintergründig auch mit dem Erinnern an sich, und Erinnerung verläuft nicht linear, sondern sprunghaft, lückenhaft und unzuverlässig. Ich wollte aus den Figuren heraus erzählen, also radikal durch deren Augen schauen, sodass wir unmittelbar hineingeworfen werden in ihr Leben und uns mit ihnen umsehen können. Wir wollten eine Art Erinnerungsstrom der Ahnen erzeugen – als würden alle, die dort gelebt haben, gleichzeitig träumen; als ob ein Gedanke assoziativ den Gedanken von jemand anderem ergäbe. Uns hat auch das Thema der transgenerationalen Weitergabe von Traumata sehr interessiert, dazu hatten wir viel recherchiert. Uns faszinierten kleine feinstoffliche Dinge, die eigentlich eher literarischer Qualität sind: wie man vom eigenen Körper verraten wird – oder warum wir uns so oft dissoziiert fühlen; warum wir manchmal das Gefühl haben, Stellvertreter zu sein, die etwas aushandeln, was eigentlich anderen Generationen gehört – Themen also, die immer wieder ins eigene Leben finden, obwohl man gedacht hatte, das sei man doch längst los! Warum klopft das schon wieder an? Diese Wiederholung und Muster haben uns interessiert, und dann haben wir eben viel recherchiert über die Altmark, fanden hauptsächlich seitenlange Beschreibungen darüber, wie man zum Beispiel ein Schwein schlachtet, was auch sehr hilfreich war. Aber viel Material aus der Innenwelt der Menschen konnten wir nicht finden.
Nein?
Schilinski
Wir haben einmal quer alle Bibliotheken ausgeplündert, fanden ein paar Zeitzeugen und Bücher von Frauen, die das verlorene Paradies ihrer Kindheit aus Kindersicht beschrieben. Das waren fast Bullerbü-Bücher, wirkliche Landidyllen. Aber mittendrin gab es immer wieder Halbsätze, die uns verstört haben: wo es dann hieß, eine Magd müsse erst so gemacht werden, dass sie für die Männer ungefährlich sei. Und gleich danach liest man, der Vater habe die Pfeife gestopft, und die Wäsche musste gefaltet werden. Wir sind in der Recherche schnell an ein Ende gestoßen, konnten nicht herausfinden, was es mit diesen merkwürdigen Halbsätzen auf sich hatte. So beschlossen wir, mithilfe der Figuren selbst fast halluzinatorisch heraufzubeschwören, was dort gewesen sein könnte. Wir haben uns hingesetzt und alle Bilder, die in uns selbst aufgestiegen sind, niedergeschrieben und wie in einem Montageprozess begonnen, diese Bilder aneinanderzulegen; dabei haben wir festgestellt, wie tief, komplex und reich das alles war; allerdings fragten wir uns, wie wir das in einen Film gießen sollten? Geht das überhaupt? Muss das eine Kunstinstallation werden? Müssen wir doch einen Roman schreiben?
Wieso wurde es dann ein Film?
Schilinski
Weil ich da etwas stark Audiovisuelles vor mir sah, es aber zunächst nicht greifen konnte. Es war eben nicht der Beginn einer Geschichte, es gab nicht das Motiv einer Hauptfigur, die man gerne verfolgen möchte; es war wirklich dieses Interesse an der Frage, was sich ergeben würde, wenn alle, die an jenem Ort gelebt hatten, sprechen könnten und ihre tiefsten Geheimnisse erzählen würden? Und wir interessierten uns für die leisen inneren Beben der Figuren, für diese schambehafteten Momente, die man eben nicht weitererzählt; nicht die Kriegsmomente oder jene Geschichten, die man auf dem Sterbebett erzählt, sondern die, die man vor sich selbst im Leben immer zu relativieren versucht, die im Grunde aber traumatisch sind. Es ist ein Missverständnis zu glauben, dass ein Trauma stets etwas Großes sei; es ist manchmal ganz klein, breitet sich aber auf alle Bereiche des Lebens aus und hindert einen auch daran, sein eigenes Potenzial zu leben. So ist es tatsächlich entstanden: Wir haben plötzlich gemerkt, dass der Blick dieser Frauen überhaupt nicht erzählt worden war; das waren Randfiguren der Geschichte, die wir ins Zentrum holen wollten.
Gab es ästhetische Vorbilder?
Schilinski
Die wichtigste Referenz waren keine Filme, sondern Fotografien. Wir haben mit den Bildern von Francesca Woodman gearbeitet, einer Künstlerin aus New York, die sich früh das Leben genommen hat. Sie hat den eigenen Tod in ihren Fotografien vorweggenommen und durchgespielt. Mich faszinierte das Luzide ihrer Fotos, deren Leuchtkraft. So habe ich mit meinem Kameramann Fabian Gamper versucht, diese Unschärfe, dieses Durchschimmernde einzufangen. Auch eine bestimmte Stimmung, die wir in den Romanen von Christa Wolf und Judith Herrmann fanden, war eine wichtige Referenz beim Schreiben. Und unbewusst fanden viele filmische Einflüsse Eingang, von Bergman bis Lynch und etwa Kieslowskis „Die zwei Leben der Veronika“. Vor allen Dingen aber haben uns die Fotografien aus dem Ort selbst inspiriert.
Es ist nicht leicht, sich in Ihrer Erzählung zurechtzufinden. Man könnte sich einfach dieser Traumlogik überlassen, aber damit ginge man an den sehr speziellen, spezifischen Geschichten vorbei. War dieses Splitterwerk im Prozess der Montage nicht ein Albtraum?
Schilinski
Ich hatte davor Respekt. Es war dann aber die reine Freude, auch dank der tollen Editorin Evelyn Rack. Die gesamte Struktur ist ja komplett auf Drehbuchebene angelegt gewesen, auch die harten Schnitte, dieses Assoziative, diese Vor- und Rückwärtsbewegung, als wühlten alle Figuren in ihrem eigenen inneren Material und dem der anderen, um dieses verlorengegangene Puzzleteil zu finden, das man natürlich niemals finden kann, weil es das nicht gibt - den einen Auslöser. Das Schöne war: Man hatte dieses Material und nicht mehr den unendlichen Raum wie im Schreibprozess. Wir haben zahllose Konstellationen ausprobiert, zehn Monate im Schneideraum verbracht. Es war auch dort wieder so, dass das Material selbst uns klar gezeigt hat, was funktionieren, zusammengehören würde und was nicht. Wir wurden auch immer wieder überrascht. Ich konnte selbst noch viel mehr und andere Echos finden, als auf Buchebene schon intendiert waren.
Das Motiv des Suizids kam auch von Francesca Woodman?
Schilinski
Nein, das kam aus uns selbst, aber in ihren Fotografien haben wir wiedergefunden, was uns bereits vorschwebte.
Ihr Regiedebüt, „Die Tochter“, ist sehr minimalistisch, ein Drei-Personen-Werk. „In die Sonne schauen“ erscheint dagegen fast maximalistisch. Wollten Sie das Gegenteil dessen versuchen, womit Sie begonnen hatten?
Schilinski
Nein, multiperspektivisches Erzählen hat mich am Kino immer fasziniert. Mein erster Film ist quasi dokumentarisch, mit einer Kamera und einem Tonmann, im Rahmen meines Studiums entstanden, im dritten Studienjahr – und fast heimlich, weil man noch gar keinen Langfilm drehen durfte. Deswegen ist „In die Sonne schauen“ durchaus so etwas wie mein Debüt, weil es der erste Film nach der Hochschule ist. Ich versuche stets dem zu folgen, was ich selbst sehen möchte, den Film zu machen, nach dem man selbst eine Sehnsucht hat.
Ihr Film verhandelt das 20. Jahrhundert, auch dessen Grauen. Sehen Sie Ihren Film auch als ein Deutschlandporträt? Als politisches Werk?
Schilinski
Im Nachgang ja; es war nicht die Prämisse, unter der ich den Film gemacht habe, aber die Geschichte hat uns eingeholt; die neuen Kriege in Europa begannen während des Schreibprozesses. Natürlich fängt man, wenn man 100 Jahre Leben greifbar zu machen versucht, unmittelbar deutsche Geschichte ein, und da der Film in der Altmark, in der ehemaligen DDR spielt, auch einen besonderen Teil dieser Geschichte; aber der Fokus lag woanders, nicht in der äußeren Geschichte, sondern im inneren Erleben der Figuren.
ihr Film scheint eine Art Metapher für das Zirkuläre der Geschichte zu sein: Das Einst hat mit Gegenwart und Zukunft eng zu tun.
Schilinski
Der Film macht eine Stimmung plastisch, die wir gerade alle wieder spüren. Was passiert, wenn eine Generation stirbt? Was schreibt sich über zwei oder drei Generationen fort – und was bricht weg?