Lächelnde Frau vor kahler Wand blickt direkt in die Kamera
Bild anzeigen

Traumadeutung: Mascha Schilinski über ihr Kino-Epos „In die Sonne schauen“

Querfeldein durch die deutsche Geschichte: Mascha Schilinski fantasiert in ihrem Film „In die Sonne schauen“ ein vielschichtiges, auch geisterhaftes Panorama weiblichen Aufbegehrens.

Drucken

Schriftgröße

Wer sich in diesen Film wagt, findet sich in einem Labyrinth wieder: Ein Bauernhof im deutschen Osten wird zum Schauplatz von vier ineinander verwobenen Erzählungen, von weiblichen Selbstbestimmungs- und Machtmissbrauchserfahrungen in den 1910er-, den 1940er-, den 1980er- und 2020er-Jahren. Der Sprung durch die Zeit ist die Bewegung dieses Films: Die Weltkriege hinterlassen ihre Spuren in den Köpfen, Körpern und Kammern, die soziale Repression und patriarchalen Muster sind in der späten DDR intakt, der Lebenskampf und die Todessehnsucht der Ahnen sind noch im Hier und Jetzt spürbar.

Mascha Schilinskis „In die Sonne schauen“ ist ein multiperspektivisches Filmmonument, ein zweieinhalbstündiges Experiment zum sprunghaften Wesen der Erinnerung und zur transgenerationalen Trauma-Weitergabe. Den seit Jahrzehnten leer stehenden Vierkanthof in der Altmark fand Schilinski mit ihrer Co-Autorin Louise Peter zufällig. „Wir kamen nicht umhin, uns damit zu beschäftigen, was hier wohl stattgefunden habe“, berichtet Schilinski, 41, im profil-Interview: Eine „Kindheitsfrage“ sei in ihr wieder aufgetaucht – „dieses Gefühl, dass jemand an genau der gleichen Stelle gesessen hatte, an der ich nun saß; was hat er oder sie erlebt, gefühlt oder gedacht? Sind es vielleicht sogar dieselben Gedanken?“

Und dann habe sie in dem Haus eine Fotografie aus den 1920er-Jahren entdeckt: Sie zeigt drei direkt in die Kamera blickende Frauen auf jenem Hof. „Das war unsere Initialzündung: Das Foto brachte uns mit der eigenen Sterblichkeit in Kontakt. Auch wir standen auf diesem Hof und werden irgendwann nicht mehr sein, wie die Frauen auf dem Bild. Es war ein Blick durch die vierte Dimension zurück.“

All dem Materiellen, dem fixierten Raum, dem Erdigen des Landlebens, stellt Schilinski die Metaphysik, die Auseinandersetzung mit dem Sterben, Geistergeschichten gegenüber. Die wichtigste Referenz dafür seien Fotografien der New Yorkerin Francesca Woodman gewesen, die sich früh das Leben genommen hat. „Sie hat den eigenen Tod in ihren Fotografien vorweggenommen und durchgespielt. Mich faszinierte das Luzide ihrer Fotos, deren Leuchtkraft.“ So bringt „In die Sonne schauen“ das Zirkuläre der Geschichte auf den Punkt: vorwärts ins Gestern, zurück in die Zukunft.

Wie wurde dieses monumentale, offene und freie Werk entworfen? Der Schauplatz dieses Vierkanthofs, den Sie mit Ihrer Co-Autorin Louise Peter zufällig gefunden haben, stand ganz am Anfang? Wie kamen Sie dorthin?

Mascha Schilinski

Über Umwege. Wir sind mit einem klapprigen alten Mercedes durch die Altmark getuckert und haben uns auf diesem Hof einquartiert, um zu schreiben. In Neulingen steht dieser Vierseitenhof seit Jahrzehnten leer. Aber alle Möbel waren noch da, alles war so an Ort und Stelle, wie es der Bauer, der dort zuletzt gelebt hat, verlassen hatte, als er starb. Und dann haben wir eine Fotografie aus den 1920er-Jahren entdeckt, auf der drei Frauen auf diesem Hof standen, eine Schwarzweißaufnahme, die sehr ungewöhnlich war für jene Zeit, weil sie wie ein Schnappschuss wirkte und diese Frauen direkt in die Kamera blickten. Das war unsre Initialzündung: Wir beschlossen, die anderen Stoffe, mit denen wir uns eigentlich beschäftigt hatten, beiseitezulegen, um herauszufinden, wie das Leben an jenem Ort gewesen sein könnte.

Diese Fotografie fand sich im Haus selbst?

Schilinski

Ja, das Foto fand sich auf dem Hof, der eben noch genauso aussieht wie damals, nur stand da, wo auf dem Foto ein Heuwagen stand, jetzt eben unser Auto. Wir konnten das wie übereinanderlegen.

Junge Frau mit Kerze in dunklem Raum, unheimliche Atmosphäre
Bild anzeigen

Mit welchen Vorgaben oder Prämissen haben Sie sich an die Arbeit gemacht? Wann war klar, dass Ihr Film aus vier ineinander verwobenen, auf vier Zeitebenen spielenden Frauenerzählungen bestehen sollte? War von Beginn an klar, dass das ein Sprung durch die Zeit, ein experimentelles Werk werden sollte?

Stefan Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.