Performance, Tanz, Schauspiel – all das verschmilzt im Kino und auf den Theater- und Tanzbühnen länger schon miteinander. Was ist Schauspielen für Sie? Ist es eine Technik? Eine Emotion? Hat es mit Wahrheit und Ehrlichkeit zu tun? Oder ist es eher Illusion, Verwandlung?
Binoche
Die Empfindung lügt nie. Deshalb steht sie am Anfang meines Films. Als Schauspielerin versucht man, einen Ort der Wahrheit zu finden, der mit dem eigenen Wesen, den eigenen Erfahrungen und Bedürfnissen, dem eigenen Unbewussten zu tun hat, um diesen in eine Form zu bringen, in der man eine Geschichte künstlerisch erzählen kann. Insofern war es für mich sehr hilfreich, dass Susan Batson, ausgehend eben von der Empfindung, zunächst diese Verbindung zwischen Tanzen und Schauspielen herstellte. Es war schwer für mich, diese Verbindung zu finden, weil ich ein willensstarker Mensch bin; und ich musste, wie so oft, gegen meinen Willen ankämpfen.
Wieso denn?
Binoche
Um etwas zu erreichen, suche ich diese Initiation, diese Wunschzündung – aber genau das muss man lassen. Denn der Wille ist wie eine Mauer. Er erlaubt Ihnen nicht, in andere Wahrnehmungen Ihres Seins wirklich einzutauchen. Deshalb war die Empfindung als Ausgangspunkt so wichtig.
Etwas Neues zu riskieren, das ist auch mit Angst verbunden. In einem Interview meinten Sie damals: „Ich liebe das Unbekannte, fast kann ich sagen, ich liebe es, Angst zu haben.“ Gilt das noch?
Binoche
Es gibt ja verschiedene Arten der Angst; man muss diesen Ort in sich zulassen, an dem man nicht weiß, wem und wo man noch vertrauen kann. So wird diese Angst produktiv, weil sie die Verbindung zum Vertrauen, die Brücke zum Glauben ist. Wer keine Angst hat, ist sich seiner selbst nicht bewusst. Erst mit der Angst gelingt der Sprung, der es einem ermöglicht, in sich selbst an einen anderen Ort zu gelangen, und dann wird es interessant.
Angst kann eine Form der Energie sein, sie mobilisiert – zumindest manchmal.
Binoche
Ja, am Ende des Films, kurz bevor die Show beginnt, sieht man mich in Angst, in dieser Beklemmung, die Angst in einem auslösen kann. Es gibt diesen Augenblick, und es ist der Moment, den ich im Film am meisten mag –, in dem ich keine Ahnung habe, wie ich das alles überstehen soll.
Ermöglicht Ihnen dieses Gefühl nicht erst, wirklich gut zu sein?
Binoche
Ich weiß es nicht. Ich hasste diesen Moment, weil ich mich so allein fühlte. Ich fühlte mich ausgeschlossen, verlassen. Es war das Schlimmste, was mir in meinem Leben passiert war. Und doch muss man immer daran glauben, dass einen irgendetwas retten wird.
Die Angst, einsam und exponiert zu sein, ereilt Sie beim Drehen von Filmen weniger, oder?
Binoche
Nein, auch beim Drehen habe ich solche Phasen durchgemacht. Es hängt von der Szene ab, die man spielen muss, von den Emotionen, die man erreichen muss. Es hängt davon ab, wie sehr die Regie einen sein lässt. Es gibt Leute, die gerne kontrollieren. Ich brauche aber deren Vertrauen, denn das Gefühl liegt jenseits der Kontrolle. Es bedeutet, das Leben zuzulassen. Man weiß jedes Mal wieder nicht, wie das gehen wird, aber es wird gehen, denn es ist nicht der Wille, der die Magie des Seins heraufbeschwört. Der Wille bewirkt das Gegenteil. Wenn man also keinen Regisseur hat, der diese Intelligenz besitzt, muss man Wege finden, damit umzugehen.
Zu welchen Mitteln greifen Sie dann?
Binoche
Eine Methode, die ich in der Arbeit mit bestimmten Regisseuren anwende, besteht darin, dass ich zu Beginn einer Szene drei Takes hintereinander machen darf, ohne dass dazwischen Worte fallen. Ich brauche dann keinen, der mir sagt, was er haben oder erreichen will. Ich meine, man kann Dinge besprechen, man kann proben und das Drehbuch analysieren. Das ist alles großartig. Aber während man dreht, muss das aufhören. Die eigentliche Schauspielarbeit gehört nicht in den Bereich der Worte.
Leiten Sie jede Rolle, die Sie spielen, von sich selbst ab? Suchen Sie sich in einer Figur, oder können Sie diese auch komplett abspalten?
Binoche
Es bin sowieso ich. Es ist meine Stimme, es ist meine Sensibilität. Es ist mein Rhythmus. Es ist mein Schweigen, meine Präsenz. Egal also, was ich tue ...
… Sie sind Teil jeder Figur, die Sie spielen.
Binoche
Es ist immer man selbst. Wohin man sich erheben oder hinabsteigen möchte, das hängt von den eigenen Fähigkeiten ab. Schauspielerei ist eine Kunstform, man ist dabei allerdings angewiesen auf die Menschen, mit denen man arbeitet.
Einer der zentralen Begriffe in Ihrem Film lautet: „sich exponieren“. Und das tun Sie darin tatsächlich in fast schon brutaler Weise. Aber ist die Selbstenthüllung in einem allgemeineren Sinn nicht der Kern Ihrer Kunst?
Binoche
Natürlich, als Künstlerin riskiert man es, sich der Welt zu offenbaren. Selbst wenn man allein in einem Atelier malt, werden die Ergebnisse irgendwann öffentlich, gesehen werden. Wie also bringt man das Innere mit dem Äußeren in Verbindung, wie „veröffentlicht“ man sein Inneres? Das ist die eine große Frage. Was man offenbaren möchte, ist die andere. Deshalb sind die meisten Menschen, die Kunst herstellen, innerlich angeschlagen, wir sind so etwas wie gebrochene Kinder. Sie haben Phasen durchlebt, die sie beschädigt haben. Aber erst aus dieser Beschädigung heraus kann man Menschlichkeit wirklich sehen und zeigen. Denn die Wunden sind so tief, dass sie es anderen ermöglichen, sich mit sich selbst zu versöhnen. Deshalb brauchen wir die Kunst.
Sie sprechen über Ihre Arbeit sehr persönlich, und auch „In-I in Motion“ ist eine hochemotionale Erfahrung. Michael Haneke, mit dem Sie in „Code inconnu“ (2000) und „Caché“ (2005) zusammengearbeitet haben, ist bekannt für seine analytische Schärfe und seine Präzision; für ein Kino der emotionalen Wärme steht er nicht.
Binoche
Oh, er kann sehr warmherzig sein; er hat auch einen großartigen Sinn für Humor.
Er hat sich selbst einmal als „gnadenlos“ beim Drehen bezeichnet.
Binoche
Ich habe zwei Filme mit ihm gedreht, und er verhielt sich in dem einen Fall ganz anders als im anderen, weil die Themen ihn auf unterschiedliche Weise forderten. Aber er liebt Schauspielerinnen und Schauspieler. Das spürt man, wenn man mit ihm am Set ist. Aber klar, er konzentriert sich vollständig auf die Dinge, die er braucht, um seine Vorstellungen und Wünsche zu verwirklichen. Ich habe stets großen Respekt und Liebe für ihn empfunden.
Isabelle Huppert sagt, sie entscheide sich für oder gegen eine Rolle praktisch ausschließlich über die Frage, wer Regie führen werde. Drehbücher seien absolut zweitrangig. Trifft das auch auf Sie zu?
Binoche
Die Regie ist natürlich entscheidend für einen Film. Ich beschäftige mich aber sehr gerne auch mit dem jeweiligen Drehbuch, weil darin ja meine künstlerische Beteiligung liegt. Aber klar, es ist wichtig, wie präsent jemand ist, der Regie führt, wie genau er oder sie zuzuhören, zu sehen in der Lage ist.
Sie sind auch Aktivistin, haben gegen die Umweltkatastrophe protestiert, sich für inhaftierte Kolleginnen, für Pressefreiheit und Arbeitersolidarität eingesetzt. Betrachten Sie auch Ihre Kunst als politisch?
Binoche
Zumindest versuche ich, ehrlich zu sein. In der Kunst kann man das Gewicht der Wahrheit gegen die in der Politik allgegenwärtige Lüge setzen.
Die Wahrheit ist allerdings schwer zu definieren.
Binoche
Immerhin streben wir, schon wenn wir nach ihr suchen, nach etwas Höherem.