Robert Treichler
Robert Treichler

Deutschland nach der Wahl: Jetzt das Beste aus drei Welten, bitteschön!

Der Wahlkampf war erbärmlich, die Koalitionsverhandlungen müssen großartig werden. Kriegt Ihr das hin, Deutschland?

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Ein Wahlabend, bei dem der Sieger nicht sofort feststeht, ist ein Geschenk für die Demokratie, ein Segen für uns Medien und Zucker für Polit-Junkies. Ein großartiger Sonntagabend also, danke nach Berlin! Genießen wir also den Nervenkitzel mit Popcorn und Kichern über das Herumeiern der Parteiensprecher, die nicht wissen, ob sie lachen oder weinen sollen. Spätestens morgen jedoch, wenn das Endergebnis feststeht, beginnt der knifflige Teil, und der kann am Ende durchaus dröge werden, langwierig und – unbefriedigend.

Deutschland blühen verworrene Koalitionsverhandlungen an deren ein böses Erwachen droht: eine schwache Regierung. Das hat mehrere Gründe.

Da wären einmal die schwachen potenziellen Kanzlerkandidaten. Die einzige Kanzlerkandidatin wurde bereits von den Wählern ausgesiebt, aber auch Olaf Scholz (SPD) und Armin Laschet (CDU/CSU) lahmen bereits, ehe der Bundespräsident einen von beiden als Regierungschef ins Auge fassen kann. Laschet hat es geschafft, die Unionsparteien binnen weniger Monate runter ins tiefe Tal der Ex-Großparteien zu führen. Das Wahlergebnis rechtfertigte durchaus einen sanglosen Rücktritt, tatsächlich meldet der Verlierer unverdrossen seinen Kanzleranspruch an.

Olaf Scholz wiederum hat es am Ende mit Mühe geschafft, in etwa gleich erfolgreich zu sein wie Laschet. Zudem hat Scholz nicht einmal die eigene Partei hinter sich, seine Kandidatur um den Vorsitz brachte ihm im vergangenen Jahr eine Niederlage ein.

Keiner der beiden hat einen Wahlkampf geführt, der die Bevölkerung auch nur ansatzweise begeistert hätte. Kein großes Projekt, keine Aufbruchsstimmung, kein Ruck in irgendeine Richtung.

Beide Volksparteien a.D. verfügen über so wenige Sitze im Bundesstag wie noch keine Kanzlerpartei zuvor. Selbst Juniorpartner hatten schon einmal mehr Mandate.

Dazu kommt, dass Union und SPD um dieselben Partner buhlen müssen: um die Grünen und die FDP. Das gibt den beiden kleineren Parteien die Gelegenheit, sich besonders teuer zu verkaufen, was zu kuriosen Regierungsprogrammen führen könnte. Wahrscheinlichster Beschönigungsslogan: Das Beste aus drei Welten. Die Übersetzung ins Realpolitische: nicht dies, nicht das.

Nicht nur Deutschland bräuchte eine starke Regierung mit einem klar konturierten Projekt, auch Europa giert nach deutlichen Ansagen aus Berlin.

Das Vakuum zeichnet sich ohnehin bereits ab. Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron und Italiens Ministerpräsident Mario Draghi bilden ein romanisches Duo unter dem Kürzel „Dracon“. Was macht Berlin? Man weiß es nicht.

Laschets „Mehr oder weniger weiter so“ und Scholz‘ „Bloß nichts Falsches sagen“ gaben im Wahlkampf keinen Aufschluss.

Aber jetzt beginnt eine neue Phase, eine, die es bisher nicht gab: Die Sondierungsgespräche zwingen (zunächst einmal) beide möglichen Regierungskoalitionen, das jeweils überzeugendere Resultat zu liefern. Wer liefert es: SPD und Grüne und FDP? Oder Union und Grüne und FDP? Einen solchen Wettstreit gab es noch nie. Bei vergangenen Regierungsbildungen wusste man, wer Kanzler oder Kanzlerin sein werde. Jetzt gibt es zwei Optionen, denn auch der knapp Zweitstärkste könnte im Bundestag eine Mehrheit bilden.

Die deutschen Parteien sind besser als es ihre Spitzenkandidaten und -kandidatinnen und ihr Wahlkampf vermuten ließen. Im vergangenen Jahr beschloss die Europäische Union zum ersten Mal in ihrer Geschichte, gemeinsame Schulden zu machen, um damit Corona-Hilfen für angeschlagene Staaten zu finanzieren. Für die Unionsparteien und besonders die FDP war dies lange Zeit tabu. Doch am Ende stimmten beide zu.

Auch die Grünen haben längst bewiesen, dass sie zu Kompromissen in der Lage sind, die beiden Vorsitzenden Annalena Baerbock und Robert Habeck stehen genau dafür ein.

Den Wahlkampf haben sie alle vermasselt. Er war mau, uninspiriert, mutlos. In den Koalitionsverhandlungen können sie es wieder gutmachen. Mit starken Positionen und überraschenden, weil unausweichlichen Kompromissen.

Bisher lautete die Berliner Binsenweisheit: Deutsche Wahlen sind aufregend, aber am Ende regiert immer derselbe: die Mitte.

Jetzt könnte es heißen: Deutsche Wahlen sind aufregend, aber warten Sie erst auf das Ergebnis der Koalitionsverhandlungen!

Das ist die optimistische Interpretation des 26. September. Also kommt schon, enttäuscht uns nicht!

Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur