Leitartikel

Die erstaunliche Antwort eines Terroropfers

Wenn die Hamas ausgelöscht sein wird, braucht es eine Strategie, um Israel dauerhaft zu schützen. Sie ist nicht neu.

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Einem Mann wie Alon Alsheich muss man jede Emotion zugestehen. Wut, Hass, Verzweiflung, Durst nach Rache. Stundenlang hatte er am vergangenen Samstag mit seiner Familie in Todesangst in einem dunklen Raum in seinem Haus ausharren müssen, während er draußen die Raketen und Gewehrsalven der Hamas hörte. Doch als profil am vergangenen Dienstag, drei Tage nach dem schrecklichsten Erlebnis seines Lebens, mit Alsheich sprach, sagte der plötzlich: „Ich möchte den Palästinensern etwas sagen: Unsere Hand ist ausgestreckt. Wir wollen Frieden!“

Das ist wahre menschliche Größe.

Alsheichs Reaktion (seine Geschichte finden Sie auf S. 13) zeigt nebenbei auch, welche Menschen dieser größte, perfideste Terroranschlag in der Geschichte Israels getroffen hat: viele Bewohnerinnen und Bewohner der Kibbuzim, für die Humanität ein zentraler Wert ihres Daseins ist; Leute, die immer wieder mitgeholfen haben, dass kranke Palästinenser in israelischen Spitälern behandelt werden konnten.

Den Wunsch nach Frieden gerade jetzt zu formulieren, wie Alon Alsheich es getan hat, erscheint unendlich naiv. Aber hat er abgesehen von seinem emotionalen Wert vielleicht doch auch eine reale Berechtigung? Die unmittelbare Antwort darauf lautet: nein. Aber Achtung, weiter unten wird eine zweite Antwort folgen!

Die Hamas, die Täter und Drahtzieher des genozidalen Angriffs auf Israel müssen ausgeschaltet werden. Niemand, der bei klarem Verstand ist, kann bestreiten, dass Israel das Recht dazu hat.

Die Überlegung, wie man Herzen und Hirne der Leute in Gaza gewinnt, 
bedeutet keinen Einwand gegen eine Militäroperation.

Der israelische Staat wurde 1948 gegründet, um Juden in aller Welt einen Ort der Sicherheit zu bieten. Dieser Bestimmung muss Israel wieder gerecht werden. Dass tausend Terroristen ins Land eindringen und mordend Dörfer überfallen, muss denkunmöglich sein. Die Hamas, Inbegriff der Barbarei, darf keinen Platz in Gaza haben und auch nirgendwo sonst auf der Welt.

Die israelische Regierung will die Terrororganisation eliminieren, sie will die militärische Abschreckung wiederherstellen, und sie will verhindern, dass sich eine einmal ausgerottete Hamas irgendwann neu formiert und mit ihr die Bedrohung zurückkehrt.

Das Ziel ist klar, aber wie kann es erreicht werden?

Jede der militärischen Optionen birgt erhebliche Gefahren. Belässt es Israel bei dem Krieg aus der Luft, so wird die Hamas dies als ihren Sieg verkaufen: Der militärisch übermächtige Feind wage sich nicht mehr auf das Territorium von Gaza. Zudem würden einzelne Mitglieder der Hamas-Führung die Raketenangriffe überleben und sich danach triumphierend zurückmelden und der israelischen Bevölkerung weiteren Terror androhen.

Wagt aber Israel den Einmarsch in Gaza – und allgemein rechnet man mit einer Bodenoffensive an diesem Wochenende – so tut es damit das, was die Hamas zu provozieren versucht. Die Terrorführung wünscht sich einen wochenlangen Häuserkampf, bei dem Israel seine Überlegenheit nur beschränkt ausspielen kann und Gefahr läuft, am Ende eigene Verluste und eine hohe Zahl an zivilen Opfern eingestehen zu müssen. Die Hamas hofft in ihrer perversen Gewaltlogik, dass Feinde Israels wie der Iran, die libanesische Hisbollah oder arabische Staaten am ehesten einen Krieg gegen Israel beginnen, wenn die Schlacht in Gaza ungekannte Brutalität entfaltet. Wie gesagt, es handelt sich um einen Gedanken, der Terroristengehirnen entstammt.

Wohl um ein massenhaftes Sterben von Zivilisten in Gaza zu vermeiden, hat die israelische Regierung vergangenen Freitag die Bevölkerung des nördlichen Gazastreifens (und damit auch Gaza-Stadt) aufgefordert, sich in den Süden zu begeben. Das klingt wie eine mögliche Lösung des Problems, doch sie könnte an der Realität scheitern. Mehr als eine Million Menschen – also die halbe Bevölkerung Wiens – innerhalb von 24 Stunden abzusiedeln, wäre selbst in Friedenszeiten und in einem hoch entwickelten Land schwierig. In Gaza scheint es aussichtslos. Wohin sollen die Leute gehen? Wie soll man sie mit Wasser und Lebensmitteln versorgen? Wo sollen die Kranken aus den Spitälern hingebracht werden?

Diese Risiken aufzuzeigen, bedeutet nicht, dass Israel daran gehindert werden soll, die Hamas militärisch zu bekämpfen. Die Verbündeten wollen Israel davor bewahren, sich für einen Weg zu entschieden, der ihm am Ende selbst am meisten schadet.

Das führt zur vielleicht schwierigsten Frage überhaupt: Was kommt nach der Militäroperation?

Man kann davon ausgehen, dass die Hamas in Gaza dann ausgeschaltet sein wird. Wer weiterhin dort leben wird, sind mehr als zwei Millionen Palästinenser. Die werden von manchen kollektiv verdächtigt, Hamas-Anhänger zu sein und damit eine potenzielle neuerliche Gefahr darzustellen.

Das ist jedoch ein vorschnelles Urteil. Wahr ist, dass die Hamas bei einer demokratischen Wahl im Jahr 2006 als Siegerin hervorging, doch das ist erstens 17 Jahre her und angesichts des Durchschnittsalters der Bevölkerung von 18 Jahren längst nicht mehr repräsentativ, und zweitens hat die Hamas seither eine Art islamistischen Gottesstaat errichtet, eine theokratische Diktatur.

Ihre Herrschaft gründet auf einem Regime des Schreckens gegenüber der eigenen Bevölkerung – und auf Manipulation. Wer in Gaza vertrauensvoll mit jungen Leuten spricht (was ich bei Reportagen vor Ort getan habe) erfährt, wie unglücklich sie mit der politischen Lage sind. Polizisten agieren, ähnlich wie im Iran, als repressive Sittenwächter; jede Form von öffentlichem Widerspruch gegen die Führung ist verboten; Kritiker und Oppositionelle werden systematisch gefoltert. Gleichzeitig gelingt es der Hamas, viel Zorn der Leute auf Israel zu lenken – so wie jede Diktatur einen Außenfeind braucht.

Hier kann eine der wesentlichen Strategien der Terrorbekämpfung einsetzen: „Herzen und Hirne“ der Bevölkerung zu gewinnen. Das ist alles andere als einfach, wie ein prominenter, fehlgeschlagener Versuch der jüngeren Vergangenheit beweist: Die USA wollten nach ihrem Sieg über die Taliban in Afghanistan einen demokratischen Rechtstaat etablieren und scheiterten. Doch Afghanistan ist flächenmäßig 1700-mal größer als Gaza, hat eine etwa 17-mal größere Bevölkerung und liegt aus Washingtoner Sicht am anderen Ende der Welt.

„Whispered in Gaza“ (Geflüstert in Gaza), heißt ein Film, für den junge Leute vor Ort anonym ausgesprochen haben, was sie sich wünschen. „Religion soll nicht das Fundament unserer Regierung sein und kein Werkzeug, um unser ganzes Leben zu kontrollieren“, sagt darin eine junge Frau, „wir wollen reisen“, und schließlich: „Wir wollen, dass Gaza so wird wie Tel Aviv oder Jerusalem oder Kairo.“

Ist es vermessen, angesichts der schlimmsten Attacke auf Israel und der Tatsache, dass sich 150 Geiseln in der Gewalt der Hamas befinden, über eine Aussöhnung zwischen Israel und der Bevölkerung von Gaza nachzudenken? Nur wenn man die Hamas mit der Bevölkerung von Gaza gleichsetzt, wie das die Hamas selbst tut.

Die Überlegung, wie man Herzen und Hirne der Leute in Gaza gewinnt, bedeutet keinen Einwand gegen eine militärische Intervention. Auch wenn Israel Gaza neuerlich, wie bis 2005, besetzen sollte, braucht es eine Idee, wie man verhindert, dass sich eine neue Hamas – unter diesem oder anderem Namen – bildet, die sich wieder des Volkes bemächtigt.

Unter den Palästinensern müssen jene gestärkt werden, die sich für eine Aussöhnung mit Israel einsetzen. Deshalb ist es ein gutes Zeichen, dass beim EU-Außenministertreffen vergangene Woche sowohl der Außenminister Israels, Eli Cohen, als auch sein Amtskollege der Palästinensischen Autonomiebehörde, Riyad al-Maliki, eingeladen waren. Auch die Unterredung zwischen US-Außenminister Antony Blinken und Palästinenser-Präsident Mahmud Abbas weist in die richtige Richtung.

Thomas L. Friedman, Kommentator der „New York Times“, der seit fünf Jahrzehnten über den Nahost-Konflikt berichtet, betitelte seinen Text über die Katastrophe des 7. Oktober so: „Israel brauchte niemals zuvor so klug zu sein wie in diesem Moment“. Premierminister Benjamin Netanjahu müsse eine Regierung anführen, die „das Beste, nicht das Schlechteste“ der israelischen Gesellschaft widerspiegle. Es braucht die klügsten Ideen auf Seiten der Israelis, um auch auf Seiten der Palästinenser die Vernünftigen nach vorne zu bringen.

Das ist die zweite Antwort auf die Frage, ob der Wunsch nach Frieden jetzt bloß naiv sei: Nein. Auch im Anschluss an den eben begonnenen Krieg bleibt Frieden die einzige strategische Lösung.

Erahnen kann man sie in der Reaktion eines Mannes wie Alon Alsheich, der als Terroropfer der Hamas den Palästinensern die Hand ausstreckt.

Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur