Lügen, Mythen und Politik

Warum beschäftigt uns der Sommer 2015 immer noch? Es gibt einen guten Grund, meint Gerald Knaus.

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von Gerald Knaus 

Regierungen der Mitte sollten zwei Dinge erreichen: eine Politik, die von der großen Mehrheit der Bevölkerung unterstützt wird; und eine, die die „unantastbare Menschenwürde“, gültiges Recht und Konventionen nicht opfert. Wie gelingt das? Oder sind wir dazu verurteilt, Konventionen zu opfern, um nicht zusehen zu müssen, wie radikale Politiker wie Trump mit dem Versprechen, dies zu tun, an die Macht kommen?

Beginnen wir mit einer Sommerlüge des Jahres 2015, der Idee, Wien und Berlin hätten damals ihre Grenze für Flüchtlinge „geöffnet“ oder nicht schnell genug wieder „geschlossen“; und dass die Rekordzahl an Asylsuchenden danach die Folge eines historischen Fehlers Angela Merkels gewesen wäre.

Orbáns „Merkel ist schuld“-Geschichte ist Propaganda.

Gerald Knaus

Migrationsexperte

Es ist banal, darauf hinzuweisen, dass es im grenzenlosen Schengenraum im Sommer 2015 keine „geschlossene“ Grenze gab, die man hätte „öffnen“ können. Nicht banal ist, dass die Hunderttausenden, die damals in Wien und München ankamen, zwei externe Grenzen des Schengenraums überwinden mussten, darunter eine in Ungarn. Viktor Orbán gelang es im Sommer 2015 nicht, Menschen an Ungarns Grenze zu stoppen. Die Methoden, mit denen er es später versuchte – etwa ein Asylrecht, das Pushbacks erlaubte –, wurden vom Europäischen Gerichtshof als klar rechtswidrig verurteilt. Orbán fand selbst 2015 keinen legalen Weg, irreguläre Migration zu stoppen. Dafür erfand er ein mächtiges Märchen: Das, was ihm im September 2015 nicht gelang, wäre Merkel an der Grenze zu Österreich leicht gelungen, hätte sie es nur gewollt.

67.000 Menschen 

Orbáns „Merkel ist schuld“-Geschichte ist Propaganda. Ein Blick auf Österreich, Deutschland und die EU 2017 bis 2021 zeigt etwa: In diesen fünf Jahren erhielten in Österreich (unter Außenminister, dann Bundeskanzler Sebastian Kurz) 67.000 Menschen in erster Instanz Schutz, in Deutschland 530.000, in der EU 1,259 Millionen. Pro Kopf ragen Österreich und Deutschland weit hervor. Aber: Österreich lag pro Kopf vor Deutschland! Wie konnte das sein? Weil es eben nie um Merkels Selfies, ihre Rhetorik und die „Signale“ von Kurz ging. Sondern um etwas, das beide Länder verband: Respekt des gültigen Rechts. Kurz war kein Orbán. Auch Karl Nehammer gab seinen Beamten keinen Auftrag, Asylsuchende menschenunwürdig zu behandeln, um sie abzuschrecken. Zum Glück. Wien und Berlin wollten Asylmigration reduzieren. Dabei hielten sich beide Behörden an das Recht.

Es gibt aber auch einen anderen Mythos: Dass sich Asylantragszahlen durch Politik nicht beeinflussen lassen. „Migration lässt sich nicht stoppen. Wer kommen will, findet immer einen Weg.“ Dieser Mythos steht einer ehrlichen Debatte im Weg. Beispiele aus den letzten Jahren:

• 2015 stellten in Deutschland 121.000 Bürger aus sechs Westbalkanstaaten einen Asylerstantrag. 2019 nur 4800. Dazwischen lag keine Veränderung der Situation vor Ort, sondern eine andere deutsche Politik.

• 2016 kamen 181.000 Menschen nach Italien. 2019 nur 11.000. Dazwischen änderte Rom seine Politik.

• In den ersten drei Monaten 2016 kamen 151.000 Menschen aus der Türkei über das Meer nach Griechenland. 2017 4000. Dazwischen lag eine Einigung mit der Türkei. Die Zahl der Toten in der Ägäis fiel von 366 Anfang 2016 auf 13 Anfang 2017. Im zentralen Mittelmeer fiel sie von 4600 (2016) auf 1300 (2019). Leider haben in den letzten Jahren zu wenige in Politik und Wissenschaft ernsthaft verstehen wollen, welche Politik zu welchen Ergebnissen führte.

Schließlich gibt es, drittens, eine einflussreiche Fehlwahrnehmung bezüglich der Rolle Merkels und ihrer Aussage „Wir schaffen das“ (August 2015). Diese wird heute oft als Botschaft missverstanden, man wolle eine unbegrenzt hohe Zahl von Flüchtlingen aufnehmen. Tatsächlich versprach Merkel kurz danach, irreguläre Migration reduzieren zu wollen. Merkel versprach das bei Anne Will Anfang Oktober 2015. Es gelang auch: 2016 gab es in Deutschland 722.000 Asylerstanträge. 2019 nur 142.000, ein Rückgang auf ein Fünftel.

Ohne Verletzung des EU-Rechts 

Merkels Koalition gelang dies ohne Verletzung von EU-Recht, ohne illegale Zurückweisungen, durch eine Einigung mit der Türkei im März 2016. Und danach? Nach der Ankündigung Ankaras im März 2020, niemanden zurückzunehmen, stieg die Zahl der Syrer und Afghanen, die irregulär kamen, von 2022 bis 2024 an. In Österreich gab es nun mehr Asylanträge (188.000) als von 2015 bis 2017 (148.000)!

Was folgt daraus, wenn man die Lüge Orbáns, den Mythos (Politik ist machtlos) und die Fehleinschätzung der Rolle Merkels richtigstellt? Politik kann Migration und Asylzahlen beeinflussen. Die Herausforderung ist, dies ohne Verletzung von EU-Recht und ohne Zäune im Schengenraum zu tun. Das war – und bleibt – durch Abkommen mit Drittstaaten möglich. Und durch klares, faktenorientiertes Denken. Davon brauchen wir dringend mehr.

Gerald Knaus

Gerald Knaus

ist Vorsitzender der Europäischen Stabilitätsinitiative und Autor des Buches „Welche Grenzen brauchen wir? Zwischen Empathie und Angst – Flucht, Migration und die Zukunft von Asyl“ (Piper Verlag)