Codewort 2015: Das Jahr, das Österreich veränderte
Unter dem Eindruck schrecklicher Tragödien änderte sich vor zehn Jahren die Flüchtlingspolitik – zumindest kurzfristig. Langzeitfolge ist die Veränderung der politischen DNA, die bis heute nachwirkt.
Es war der 4. September 2015, ein heißer Spätsommerfreitag in Budapest. Tagelang schon saßen rund um den neurenaissancezeitlichen Bahnhof Keleti an die 3000 Flüchtlinge fest. Junge Männer, Frauen, Kinder, Alte. Sie schliefen in den Bahnhofspassagen, aßen Pizza, Döner und alles, was die Imbissbuden rund um den Ostbahnhof hergaben. Morgens rasierten sich die Männer und wuschen sich notdürftig Nacken, Oberkörper und Füße. Auf dem Gelände standen Plastiktoiletten, doch der elendige Gestank nach Schweiß, Urin und Kot waberte über dem gesamten Areal des Ostbahnhofs.
Von Ungarn bekamen sie keinerlei Hilfe. Selbst die katholische Kirche unter dem Budapester Erzbischof Peter Erdö hielt sich an das Verbot des ungarischen Premiers Viktor Orbán, Hilfe für Flüchtlinge zu leisten – die Menschenfischer sollten nicht zu „Menschenschleppern“ werden, wie in der Diktion der ungarischen Regierung Flüchtlingshelfer damals genannt wurden. Beherzte Budapester, die das Leid der Fremden nicht tatenlos mitansehen konnten, machten sich strafbar, weil sie Decken und Polster, Dosen und Bananen aus ihren Schränken hervorholten und in Keleti an Mütter mit Babys verteilten.
Ungarn wollte die Flüchtlinge weder richtig registrieren noch weiterziehen lassen. In jenen Tagen spielte Viktor Orbán ein undurchsichtiges und gefährliches Spiel – und war in Wahrheit einer derjenigen, die den Boden für das bereitete, was als die Chiffre „2015“ in die Zeitgeschichte eingehen sollte.
Es war der 4. September 2015, ein heißer Spätsommertag in Budapest, als sich gegen 13 Uhr eine Gruppe von 1000 Flüchtlingen vom Bahnhofscamp in Keleti in Bewegung setzte. Männer, Kinder, Schwangere, Blinde, Alte vor allem aus Syrien, Irak und Afghanistan – unter den Augen der Weltöffentlichkeit marschierten sie in der prallen Sonne; zunächst als lose Gruppe über den breiten Rákóczi Boulevard Richtung Elisabethbrücke und schließlich hinauf auf die Autobahn M1 Richtung Wien. Sie sollten nicht nur sich selbst aus dem Patt befreien, sondern für Millionen anderer Flüchtlinge erstmals sichere Routen zumindest in Europa eröffnen, auf denen sie nicht auf erbarmungslose, geldgierige Schmuggler angewiesen waren, die sie über lebensgefährliche Wege lotsten. Als sie an diesem Septemberfreitag einen Schritt nach dem anderen setzten, konnten sie nicht ahnen, wie historisch ihr Weg werden würde. Niemand verstand, wie tief sich diese physische Kraftanstrengung der 1000 darüber hinaus in der politischen DNA Europas codieren würde.
2015 ist eine Art Vexierbild: Das Jahr der sogenannten Willkommenskultur und der Zivilgesellschaft, das „Jahr der Menschlichkeit“, wie es AMS-Chef Johannes Kopf im profil-Interview ausdrückt. Angela Merkel, die damalige deutsche Bundeskanzlerin, hatte mit ihrem Satz „Wir schaffen das“ die Parole für diese Phase ausgerufen, um sie selbst im Frühjahr 2016 mit dem EU-Türkei-Deal zu beenden und die Asylantragszahlen zu drosseln. Dennoch kippte 2015 bald und nachhaltig in eine andere Erzählung und findet Ausdruck in einem anderen Mantra: „2015 darf sich nicht wiederholen.“ Der Spruch fiel erstmals Ende Jänner 2016, und zwar in einem bemerkenswerten Rahmen: Der damalige Tiroler ÖVP-Landeshauptmann Günther Platter hatte ihn beim „Einkehrschwung“ der Volkspartei im Rahmen der Kitzbüheler „Streif-Ski-Festspiele“ zum ersten Mal formuliert. Die Bilder der Menschenmassen, die wochenlang zu Fuß über die Grenzen kamen, die in Spielfeld gegen die Absperrungen drängten – sie brannten sich ins kollektive Gedächtnis als bedrohliche Szenen ein. „2015 darf sich nicht wiederholen“ wurde der Slogan der Machtergreifung des Sebastian Kurz und vielleicht sogar sein größter politischer Erfolg. All das Gute, das für diese Menschen getan wurde, bekam durch seine Politik und seinen Erfolg etwas gefährlich Naives.
78 Prozent erwerbstätig
Wer denkt heute noch an diese Tage und diese Anstrengung? An die geschwollenen Füße und an das Leid und die Gründe, warum überhaupt die Menschen kamen? Heute wird das Thema Flüchtlinge weniger unter dem humanitären Aspekt diskutiert, schon seit Langem geht es um deren Nützlichkeit für die österreichische Volkswirtschaft. Die Frage, welchen Schutz sie brauchen, wurde von Überlegungen verdrängt, was sie denn beitragen und leisten können.
Die rund 90.000 Menschen, die damals kamen, sind heute ein Teil Österreichs, nahezu die Hälfte von ihnen lebt in Wien. Von jenen, die 2015 nach Österreich flüchteten, waren acht Jahre danach knapp 78 Prozent erwerbstätig – bei den Frauen waren es lediglich knapp 38 Prozent; unter den Syrerinnen fanden 33,1 Prozent Jobs, die Afghaninnen waren häufiger beschäftigt (36,3 Prozent).
Heute sind laut AMS immer noch 45 Prozent der syrischen Frauen und 36,3 Prozent der syrischen Männer arbeitslos – bei den Österreicherinnen und Österreichern sind es 5,1 Prozent und 6,3 Prozent. Bei geflüchteten Männern, die 2015 ins Land kamen, lag das Einkommen nach acht Jahren bei 26.907 Euro brutto und damit bei etwa zwei Dritteln des österreichischen Durchschnitts. Erwerbstätig gewordene Frauen, die 2015 nach Österreich geflüchtet waren, benötigten acht Jahre, um auf 13.700 Euro, also etwa die Hälfte, zu kommen. Der Anteil der Jugendlichen aus Afghanistan, Syrien beziehungsweise dem Irak in Ausbildung stieg in den letzten zehn Jahren insgesamt deutlich von 38 Prozent auf 52 Prozent.
2015 und Corona als Zwillinge
2015 ist in seiner systemischen Bedeutung eine Art Zwilling der Coronapandemie: Beide Ereignisse waren auf gleiche Weise zutiefst erschütternd, und sie trafen denselben Nerv, wenn auch an unterschiedlichen Enden. Beide katapultierten die Frage nach staatlichen Befugnissen aus der Theorie in die unumgängliche Praxis: Bei Corona wurde der Staat vielfach als zu überschießend, streng und invasiv auf das Individuum empfunden – bei 2015 als das genaue Gegenteil: Der Staat sei nicht einmal in der Lage, die Integrität seiner territorialen Grenzen zu wahren. Europa schien zuweilen wie ein Hausherr ohne Schlüssel zum eigenen Tor. Denn es waren nicht nur Kinder und Schutzbedürftige, die kamen, sondern auch Menschen, die sich als Kriminelle entpuppen sollten, unter anderem auch Attentäter des Terroranschlags auf den Bataclan-Konzertsaal in Paris im November 2015.
Davon zehren Parteien wie die FPÖ bis heute. Erst kürzlich präsentierten die Freiheitlichen eine Schrift mit dem Titel „Merkels Werk“. Auf dem Buchcover ist die ikonische Merkel-Raute zu sehen, ihre Hände darauf in Blut getränkt.
Als die zerlumpten und abgekämpften Flüchtlinge von Keleti im Morgengrauen des 5. September 2015 am Wiener Westbahnhof ankamen und vom damaligen ÖBB-Chef und späteren SPÖ-Bundeskanzler Christian Kern sowie ÖVP-Innenministerin Johanna Mikl-Leitner empfangen wurden, hielt sich Sebastian Kurz fern. Der damalige Außenminister und bald türkise Parteichef legte sich auf die Lauer. Dass die Menschenmassen die Kapazitäten überstrapazieren, wussten nicht nur die Rechten, auch die Helfer stöhnten unter der Last. Recht bald begann Sebastian Kurz sich als Mahner zu inszenieren, als derjenige, der das Heft in die Hand nehmen könnte, notfalls auch mit Gewalt. „Es wird nicht ohne hässliche Bilder gehen“, ist ein weiterer Kurz-Spruch aus jenen Tagen. Und er ist bedeutsam, denn er symbolisiert den Bruch und die bewusste Abkehr von humanitären Erwägungen, die zum freien Geleit für Flüchtlinge vor zehn Jahren geführt hatten – die ja ihrerseits ebenfalls eine Vorgeschichte hatten: 2015 ist nicht vom Himmel gefallen. Es ist nicht der Beginn der sogenannten Flüchtlingskrise, sondern ihr Höhepunkt. Der Krieg in Syrien begann im Jahr 2011. In der Folge strömten Menschen über gefährliche Schlepperrouten nach Europa. Es waren die hässlichen Bilder, die die neue Politik ermöglichten.
Särge auf Lampedusa, die Toten vor Malta
In den Monaten, Wochen und Tagen vor dem September-Marsch aus Budapest spitzte sich die Situation auf den Flüchtlingswegen zu, und es ereigneten sich schreckliche Tragödien: Unvergessen die Särge auf Lampedusa, die Toten vor Malta und Libyen, der dreijährige Bub Aylan Kurdi, dessen Leiche am Strand von Bodrum im Sand lag, der Transporter, der in der Nothaltebucht beim Burgenländischen Parndorf hielt und von einem Asfinag-Mitarbeiter entdeckt wurde, weil aus dem Wagen merkwürdige Flüssigkeit tropfte, im Wagen selbst 71 Leichen von geschleppten Flüchtlingen, deren leblose Körper ineinander gesackt gefunden wurden. Ihre Leichen wurden in der ehemaligen Veterinär-Grenzdienststelle Nickelsdorf verladen, den schwülen Verwesungsgeruch trieb der Wind kilometerweit.
Nur unter dem Eindruck dieser Bilder, die um die Welt gingen, war Merkels „Wir schaffen das“ möglich. Er war die humanitäre Reißleine für das Verabsäumte der Jahre davor. Was 2015 passiert ist, wäre vermeidbar gewesen, doch Europa ließ sehenden Auges alles geschehen.
Die meisten Flüchtlinge waren vorerst in den umliegenden Ländern wie Jordanien und Libanon geblieben und hatten dort Schutz gefunden. Dass sie dort ihre Zelte in Massen abrissen, ist auf den Zusammenbruch der internationalen Hilfen zurückzuführen – noch dazu in einem dermaßen kritischen Moment. Bereits im Jahr 2014 hatte das World Food Programme gemahnt, es müsste für 1,7 Millionen Syrer die Hilfe in der Region einstellen. Im September dieses Jahres trafen einander in Brüssel die EU-Staats- und Regierungschefs, um über die Flüchtlingskrise zu beraten – zum damaligen Zeitpunkt war lediglich 50 Prozent des vereinbarten Betrags ans World Food Programme bezahlt, Österreich und Ungarn hatten noch gar nichts geleistet, Deutschland nur die Hälfte. War es Mutwilligkeit oder Kurzsichtigkeit? Es sollte jedenfalls fatal enden für jene, die ihr Leben auf der Route lassen mussten. Genauso fatal war es für Europas Politik, die einen Rechtsruck erlebte, durch den Menschenrechte und das Recht auf Asyl mittlerweile unverblümt zur Disposition gestellt werden. Im Jahr 2015 hatte Herbert Kickl, damals FPÖ-Generalsekretär, heute Obmann der stimmenstärksten Partei in Österreich, eine Änderung der Menschenrechtskonvention gefordert und wurde dafür nicht nur von links, sondern auch von der ÖVP harsch kritisiert. Heute, zehn Jahre später, ist das Mainstream. ÖVP-Bundeskanzler Christian Stocker spricht sich heute für eine Diskussion der Menschenrechtskonvention aus, ebenso wie der rote Kärntner Landeshauptmann Peter Kaiser oder Burgenlands Hans Peter Doskozil.
Kaum im Bus erschöpft eingeschlafen
In jenen Septembertagen 2015 war der Sozialdemokrat Doskozil noch burgenländischer Polizeichef. In Ungarn waren die Flüchtlinge in der Nacht zum Stehen gekommen. Plötzlich tauchten Busse auf, in die sie steigen sollten. Die Flüchtlinge trauten der Sache nicht, einer von ihnen, sein Name war Mohammed, setzte sich durch und diktierte vor den Augen der Journalisten die Bedingungen: keine Polizei in den Bussen. Ein Bus möge als eine Art Testballon vorfahren und jemand zurückmelden, wo er angekommen ist. Wenn alles gut gehe, würde auch der Rest der 1000 die Fahrzeuge besteigen. Würde der Fahrer von der Route zur Grenze abweichen, würden die Männer im Bus den Chauffeur töten, drohte Mohammed. Doch kaum im Bus, schliefen die Geflüchteten vor Erschöpfung ein.
Die Ersten kamen an und stiegen aus, auf der anderen Seite stand Doskozil. Auf die Frage, wie die Kommunikation mit den Ungarn war, wer die Busse bereitgestellt hatte und ob die Ungarn Österreich wissen haben lassen, dass die Busse kommen, konnte er damals nur mit einer unwirschen Nichtantwort reagieren.
Ob Österreich zu einer humanitären Anstrengung wie 2015 bereit wäre? Und welche Bilder es heute dafür bräuchte?