Selbstverständnis

Im Weltdorf rasen gerade viele Fahrzeuge in unterschiedliche Richtungen. Die Verkehrsregeln sind abgeschafft. Europa muss sich im neuen Chaos blitzartig seinen Platz erkämpfen.

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Ist die friedliebende EU ein hoffnungslos begriffsstutziges Politwesen, das mit den aktuellen Realitäten nicht zurechtkommt? Ja, Gewalt, Drohung und Erpressung gehören nicht zu den bevorzugten Polittechniken der Europäer. Mit Verhandeln statt Gewalt haben wir immerhin 80 Jahre Wohlstand und Frieden erreicht. Aber am Beispiel Ukraine zeigen die bösen Buben Trump und Putin den braven Europäern gerade, wo sie ihrer Meinung nach im geopolitischen Dschungelcamp hingehören: an den Katzentisch.

Das darf so nicht bleiben. Schleunigst weg, sagt die Vernunft. Augen zu, sagt das Gefühl. Wer wollen wir eigentlich sein? Wie steht es um das europäische Selbstverständnis 2025? Zunächst könnten wir aus unseren Demütigungen lernen. Putin hat vor seinem Ukraine-Überfall reihenweise europäische Häuptlinge in Moskau aufmarschieren lassen. Ausgerichtet haben sie nichts. Beschwichtigung wirkt also nicht. Aber die EU ist immerhin mehr als drei Jahre geeint und standhaft an der Seite der Ukraine geblieben, wir haben Flüchtlinge aufgenommen, Waffen beschafft, finanziert und geliefert. Und Sanktionen gegen Moskau durchgezogen. Standhaftigkeit wirkt. Viktor Orbáns trojanische Pferde- Nummer hat die EU nicht umgedreht, aber Ungarn isoliert.

Der Zollkrieger Trump versteht Europa bestenfalls als Schmarotzerverein und Deko-Vorlage für seine Selbstkrönungsfantasien, siehe Übernachtung im Königsschloss. Natürlich bekommt, wer der europäischen Top-Liga beim Trump-Schleimen zusieht, Magenkrämpfe des Fremdschämens. Aber im Moment geht es um Zeitgewinn, also Schamlosigkeit runterschlucken.

Wie wegkommen vom Katzentisch? Mit Willenskraft, Geschlossenheit, Geld und einer Strategie. Wir Europäer brauchen dringend einen echten Bewusstseinsschub. Friede, Freude, Eierkuchen und Beifall waren gestern. Es kommen härtere Zeiten, neue Wahrheiten. Europaweit gefragt sind verantwortungsbewusste Bürger und couragierte Politiker. Sicherheit und Stärke statt Komfortzone. Die Kassen sind leer, daheim und in Europa. Trotzdem muss Geld her für Selbstverteidigung und Wirtschaftskraft, Zukunftstechnologien und Zusammenhalt. Der Staat als Selbstbedienungsladen und Allheilmittel hat ausgedient. Die öffentliche Hand muss die Spendierhosen ausziehen. Kürzer arbeiten für gleichen Lohn ist ein Hirngespinst, Frühpension kein Grundrecht. Auch im reichen Österreich werden wir das Wort „Verzicht“ neu buchstabieren lernen.

Die Bundesregierung will „angesichts der geopolitischen Entwicklungen generell Fragen der Wehrhaftigkeit prüfen“. Gut, aber bitte sofort!

Stichwort Europageld: Das Sieben-Jahres-Budget der EU ist der erste Praxistest für ein neues europäisches Selbstverständnis. Auch wenn zwei Billionen Euro gigantisch klingen – bei Lichte besehen ist das EU-Geldbörsel recht schmal mit nur 1,26 Prozent unserer gemeinsamen Wirtschaftsleistung. Was also wollen wir gemeinsam erreichen? Was geht nur durch Kräftebündelung? Der europäische Mehrwert ist bei jedem Projekt mit größtmöglicher Strenge zu prüfen. Wer regelt, wer finanziert, wer setzt um? Zu oft verschwimmt die Verantwortlichkeit.

Das tiefgreifendste Umdenken von Bürgern und Politik verlangt die europäische Sicherheitspolitik. Nach 80 Jahren Hängemattendasein gilt ab sofort Eigenverantwortung. Der Aufbau einer europäischen Rüstungsindustrie und ein Binnenmarkt für Militärgüter genügen nicht. Wer wird höchstpersönlich mitmachen bei der Selbstverteidigung Europas und Österreichs? Es braucht auch Menschen, etwa für europäische Militärmissionen. Österreich ist traditionell stolz auf seine UNO-Blauhelme. Warum nicht mit demselben Stolz EU-Blauhelme werden? Auch wir sollten mitmachen, wenn an der ukrainischen Ostgrenze europäische Friedenstruppen eingesetzt werden. Allerdings wird Österreich demnächst mehr Zivildiener haben als Grundwehrdiener. Auch werden sechs Monate Wehrpflicht nicht reichen. Die Bundesregierung will „angesichts der geopolitischen Entwicklungen generell Fragen der Wehrhaftigkeit prüfen“. Gut, aber bitte sofort!

Wollen wir vom Katzentisch an den Erwachsenentisch, müssen wir aufhören mit dem Herumschieben von Verantwortung. Wir selbst müssen definieren, wer wir sein wollen und was wir dazu einzubringen bereit sind. Wer tatenlos zuschaut, schützt unsere Freiheit nicht. Furchtlose, nüchterne, europäisch denkende Politiker müssen der Bevölkerung reinen Wein einschenken, statt ihr Honig ums Maul zu schmieren und vor den Populisten zu zittern. Niemand wird fürs Angsthaben gewählt.

Ursula  Plassnik

Ursula Plassnik

Ursula Plassnik war österreichische Außen- und Europaministerin von 2004 bis 2008.