Robert Treichler: Kabul, wir vergessen euch nicht!

Viele Afghanen haben sich zum Westen bekannt. Auch Österreich darf sie jetzt nicht im Stich lassen.

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Was jetzt gleich kommt, werden viele nicht hören wollen, deshalb ein kurzer Prolog: Ja, Österreich hat in den Jahren 2015 und 2016 sehr viele Flüchtlinge aufgenommen. Ja, Österreich hat das Recht, Menschen, die keinen Anspruch auf Asyl haben, abzuschieben. Ja, auch in Länder, in denen die allgemeine Sicherheitslage schlechter ist als hierzulande. Nein, Österreich und die anderen reichen Industriestaaten können nicht alle aufnehmen, denen es in ihren Herkunftsländern schlecht geht.
 

Doch jetzt geht es um Afghanistan, ein Land, aus dem seit zwei Jahrzehnten viele Menschen flüchten und aus dem sehr wahrscheinlich bald noch mehr nach Europa kommen werden – und das hat mit uns zu tun, auch mit uns Österreichern.

Vor wenigen Wochen hat US-Präsident Joe Biden bekannt gegeben, dass bis September alle US-Truppen Afghanistan verlassen werden. Ich habe in einem Kommentar argumentiert, dass dies das Einbekennen des Scheiterns sei, dass aber der Krieg in Afghanistan nicht gänzlich sinnlos gewesen sei (zum Kommentar geht es hier). In den 20 Jahren der Besatzung durch westliche Truppen habe sich das Leben vieler Afghanen gebessert. Mädchen konnten zur Schule gehen, viele Einheimische arbeiteten an dem Projekt des Aufbaus eines modernen Afghanistans mit.

Es ist eine Tragödie, dass es nicht gelungen ist, einen Staat aufzubauen, der demokratisch, rechtsstaatlich und prosperierend ist, und es ist niederschmetternd, dass die Taliban auf dem besten Weg sind, wieder die Macht in Afghanistan zu übernehmen. Mit dem Abzug westlicher Truppen endet jedoch nicht die Verantwortung, die alle in Afghanistan engagierten Staaten übernommen haben, ganz im Gegenteil.

50 Staaten waren an der International Security Assistance Force (ISAF) beteiligt, der per UN-Mandat die Aufgabe zugekommen war, für Sicherheit im Land zu sorgen, damit der Aufbau des Landes und der Übergang zu einer neuen, demokratischen Ordnung gelingen kann. Auch Österreich war Teil dieser multinationalen Truppe.

Die Entsendung westlicher Soldaten war ein Versprechen an die afghanische Bevölkerung. Sie sollte keine Angst mehr davor haben müssen, von den islamistischen Taliban terrori-siert zu werden. Dieses Versprechen konnten die USA, die ISAF und der Westen trotz großer Anstrengungen nicht halten.

Wir dürfen jetzt nicht vergessen, dass Hunderttausende Afghanen als Mitarbeiter westlicher Initiativen beschäftigt waren und an das Projekt eines modernen, liberalen Staates geglaubt haben. Sie sind in den Augen der Taliban Kollaborateure der Feinde – und dementsprechend in großer Gefahr.

Wir kennen das Menschenbild dieser sektiererischen Islamisten, wir wissen, wie sie vorgehen, wenn sie an der Macht sind. Ich habe im August 2000 Abdul Mujahid, den internationalen Repräsentanten der Taliban in den USA, interviewt (profil Nr. 33/ 2000). Die Taliban versuchten damals – etwas mehr als ein Jahr vor den Anschlägen des 11. September 2001 – als Regierung Afghanistans von den Vereinten Nationen anerkannt zu werden. Ich fragte Mujahid nach der Praxis öffentlicher Exekutionen und Strafamputationen. Seine Antwort: „Der Exekutierte ist mental und ideologisch zufriedengestellt. Er weiß, dass er durch die Exekution als Unschuldiger zu Gott, dem Allmächtigen, gelangen wird.“ Dabei war Mujahid einer der gemäßigten Taliban – und der einzige Repräsentant, der den Terror von 9/11 verurteilte.

Barbarische Sitten und jegliche Form von Diskriminierungen drohen überall in Afghanistan wieder Einzug zu halten. Frauen dürfen nicht selbstständig arbeiten, haben kein Recht auf Bildung, „Unsittliches“ wie etwa Musik ist verboten …

Der Westen kann Afghanistan nicht mehr von den Taliban befreien. Aber er hat Verantwortung für die Leute auf sich genommen, die unter ihnen zu leiden haben werden oder bereits jetzt unter ihnen leiden, insbesondere für die, die sich zum Westen bekannt haben. Diese Verantwortung gilt auch für Österreich.

Zunächst muss die Frage, ob Abschiebungen nach Afghanistan noch vertretbar sind, neu geklärt werden. Sehr wahrscheinlich sind sie das nicht mehr.

Außerdem wäre jetzt der geeignete Zeitpunkt, das einzulösen, was Bundeskanzler Sebastian Kurz schon oft angekündigt hat: ein Resettlement-Programm als legalen Weg für Flüchtlinge nach Europa, „damit wir gezielt den Schwächsten der Schwachen helfen können.“ (Kurz am 26. August 2018 via Twitter). Afghanen gehören jetzt zweifellos zu den Schwächsten der Schwachen. Ein Resettlement-Programm sollte vor allem auch Frauen außer Gefahr bringen, denn ihnen ist eine Flucht über Pakistan, Iran und die Türkei aus vielen Gründen unmöglich.

Afghanistan hat 38 Millionen Einwohner, und die internationale Gemeinschaft kann nicht alle retten. Aber sie kann, nein, sie muss zeigen, dass der Abzug der Truppen nicht bedeutet, dass ihr die Menschen in Afghanistan gleichgültig sind.

Die frühere US-Außenministerin Hillary Clinton hat US-Präsident Joe Biden aufgefordert, ein „großzügiges Visa-Programm“ für Afghanen einzurichten. Die österreichische Bundesregierung sollte dasselbe tun.

Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur