Trump auf Moskaus Seite – Was vom Westen übrig blieb
Wie fühlt es sich an, von den USA abhängig zu sein? Von 1945 an und noch bis vor relativ kurzer Zeit wäre es Europa leichtgefallen, diese Frage mit großer Gelassenheit zu beantworten: Danke, gut! Die USA, die militärisch unangreifbare Supermacht, waren der Verbündete erst Westeuropas, später des geeinten europäischen Kontinents. Die Verlässlichkeit des Bündnisses gründete nicht auf irgendwelchen Vorteilen oder Deals. Es waren die gemeinsamen Werte – Freiheit, Demokratie, Menschenrechte -, die Europa und die USA zu einer unzertrennlichen Schicksalsgemeinschaft zusammenschweißten. Man nannte sie den Westen.
Spätestens jetzt ist alle Gelassenheit dahin. Die US-Regierung unter Donald Trump führt am Beispiel der Ukraine vor, was es heute bedeutet, von Washington abhängig zu sein. Vorvergangene Woche stellte der US-Präsident den ukrainischen Staatspräsidenten Wolodymyr Selenskyj vor die Wahl, einen „Friedensplan“ zu akzeptieren oder von den USA militärisch fallen gelassen zu werden. Der mit einem Ultimatum versehene „Friedensplan“ löste bei Selenskyj ebenso wie bei den Regierungsspitzen Frankreichs, Deutschlands und Großbritanniens Bestürzung aus. Das Dokument bedeutete nichts anderes als eine Kapitulation der Ukraine vor dem Aggressor Russland.
Europa ist den Launen eines US-Präsidenten ausgeliefert, der nur Werte achtet, die auf Kryptobörsen gehandelt werden.
In den Tagen danach besann sich Trump, er blies das Ultimatum ab und stellte Änderungen des Plans in Aussicht.
Doch der Moment, in dem die USA sich unverhohlen auf die Seite Russlands gestellt hatten, wirkt nach. Die ganze Welt hat mitangesehen, wie ein Staat, der dachte, in den USA einen Verbündeten zu haben, plötzlich zwei Gegnern gegenüberstand: Russland, das in die Ukraine einmarschiert ist und das Land mit Raketen- und Drohnenangriffen überzieht, und die USA, die Kyiv zu erpressen versuchten, sich den Forderungen Moskaus zu fügen.
Diese USA sind der Garant der Sicherheit Europas. Wie sich das jetzt anfühlt? Danke, miserabel!
Solange Europa nicht selbstständig verteidigungsfähig sei, „werden wir herumgekickt“, sagte Österreichs Außenministerin Beate Meinl-Reisinger in der ORF-„Pressestunde“. Herumgekickt zu werden bedeutet jetzt schon, dass Trump Europa ignoriert oder runtermacht, wann immer es ihm passt. Das ist inakzeptabel, wenn es um die europäische Verantwortung für die Ukraine geht. Schlechthin katastrophal wäre es, wenn ein Aggressor unseren Kontinent militärisch unterwerfen wollte und wir den Launen eines US-Präsidenten ausgeliefert sind, der nur Werte achtet, die auf Kryptobörsen gehandelt werden.
Wie sähe in einem solchen Fall ein „Friedensplan“ für Europa aus? Behielte der Aggressor ein Viertel des Territoriums, müssten Frankreich und Großbritannien ihre Atomwaffen vernichten, und bekämen die USA zum Dank für ihre Vermittlertätigkeit 50 Prozent der Erträge der europäischen Industrie?
Die USA sind kein zuverlässiger Verbündeter mehr. Nicht Europa wendet sich vom transatlantischen Bündnis ab, vielmehr wurde auf der anderen Seite des Atlantiks die Idee des Westens ins Meer gekippt.
Was vom Westen übrig ist, müssen wir selbst verteidigen. Nicht zuletzt: uns selbst. Europa hadert nach wie vor damit, dem Ausbau der militärischen Verteidigung erste Priorität einzuräumen. Kein Wunder, im europäischen Denken haben sozialer Frieden und allgemeiner Wohlstand den höchsten Stellenwert, nicht etwa Aufrüstung. Doch verantwortungsvolle Politik muss der Bevölkerung klarmachen, dass die europäische Demokratie nur bewahrt wird, wenn wir sie selbst verteidigen können.
Russlands Angriff auf die Ukraine war der erste Schock, der eine Zeitenwende auslöste; Trumps Abkehr von verlässlicher Bündnispolitik ist der zweite.
Hat Europa die Kraft, sich aufzubäumen? Schafft es die Europäische Union, ihre Außen- und Sicherheitspolitik von der Fußfessel des Einstimmigkeitsprinzips zu befreien? Greift sie Emmanuel Macrons Vorschlag einer „strategischen Autonomie Europas“ aus dem Jahr 2017 auf? Werden die Mitgliedstaaten ihre militärischen Ressourcen bündeln? (Ja, Österreich ist mitgemeint.)
Vieles spricht dagegen: der traditionelle Unwille, Souveränität abzugeben; die Woge des EU-feindlichen Nationalismus, der sich allen gemeinschaftlichen Anstrengungen entgegenstellt; die tiefsitzende Skepsis gegenüber Aufrüstung.
Und doch spricht eines sehr deutlich dafür: der Gedanke, eines Tages hilflos einem „Friedensplan“ zustimmen zu müssen, der zwischen Moskau und Washington ausverhandelt wurde.