Morgenpost

Wladimir Putin: Blufft er nur?

Fünf Lehren, die wir aus der Putin Rede ziehen können.

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Putin hat die Welt wieder einmal stundenlang warten lassen. Eigentlich hätte der Kreml-Chef am Dienstabend zur besten Sendezeit eine Rede halten sollen. In den sozialen Netzwerken, vor allem auf Telegram, rumorte es. Aber dann passierte – nichts. Am Mittwochmorgen sprach Putin dann doch. Seitdem rätselt die Welt wieder einmal über seine Worte. Sicher ist: Der Krieg geht in eine neue Phase, die Zeichen stehen auf Eskalation. Fünf Thesen, die ich nach Gesprächen mit Russlandkennern, ziehe.

1.Putin holt den Krieg nach Hause – und geht damit ein Risiko ein

Bisher wollte Putin in Russland den Anschein einer Normalität aufrechterhalten. Der Krieg in der Ukraine, der nicht als solcher bezeichnet werden darf, war weit weg von den Menschen. Damit ist jetzt Schluss. „Jetzt, wo Väter und Söhne von ihren Familien getrennt oder aus ihren Betrieben herausgerissen werden, kommt der Krieg nahezu in jedem Haushalt an“, sagt der Russlandexperte Gerhard Mangott, Professor für internationale Beziehungen an der Universität Innsbruck im Interview mit profil. Das bedeutet: Die Stimmung innerhalb Russlands wird sich verändern, die Unzufriedenheit zunehmen. Paul Krisai, Büroleiter des ORF in Moskau, geht jede Woche auf die Straße, um mit Menschen zu sprechen. Ein Anruf. „Die Realitätsverweigerung geht sich jetzt nicht mehr aus“, sagt Krisai, „jeder kennt jetzt jemanden, der mobilisiert und in die Ukraine geschickt werden könnte.“ Schon jetzt kommt es zu panikartigen Fluchtbewegungen, erzählt er. Buchungsportale waren, trotz explodierender Preise, überlastet. Flugtickets sind für die nächsten Tage in fast alle Richtungen ausverkauft, so Krisai.

2. Putin eskaliert

In seiner Rede hat Putin deutlich mit dem Einsatz von Nuklearwaffen gedroht. „Wenn die territoriale Integrität unseres Landes bedroht wird, werden wir zum Schutz Russlands und unseres Volkes alle zur Verfügung stehenden Mittel nutzen. Das ist kein Bluff“, sagte er in der Fernsehansprache. Muss man das ernst nehmen? „Ja“, sagt der Russlandexperte Mangott: „Zu spekulieren, ob Putin blufft oder nicht, halte ich in dieser dramatischen Situation für unangebracht.“ Mangott hält es durchaus für denkbar, dass Putin nach weiteren, militärischen Verlusten explizit mit dem Einsatz von Nuklearwaffen droht, eine Testdetonation auf unbewohntem Gebiet durchführt und im Ernstfall auch im ukrainischen Hinterland.

3. Putins Rede kann als Schwäche interpretiert werden

Westliche Regierungen interpretieren die Rede hingegen unisono als ein Zeichen der Schwäche. Der deutsche Kanzler Olaf Scholz sprach gar von einem „Akt der Verzweiflung“. Putin habe die militärische Situation in der Ukraine unterschätzt, weswegen er jetzt eine noch größere Drohkulisse aufzubauen versuche. Der britische Verteidigungsminister Ben Wallace sieht in der Rede den Beweis dafür, dass „Putins Invasion scheitert“. Der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte mahnte zur Ruhe: „Seine Rhetorik über Atomwaffen haben wir schon oft gehört, und sie lässt uns kalt.“

4. Putin will die Annexion des Donbass vorantreiben

Spätestens am 28. September, glaubt Gerhard Mangott, werden die Scheinreferenden im Osten der Ukraine über die Bühne gegangen sein. Alles weitere wäre nur noch ein Formalakt. Die pro-russischen Separatisten in den selbsternannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk sowie die Verwaltungen in den südukrainischen Gebieten Saporischschja und Cherson halten eine Pseudo-Wahl ab und die Duma, das russische Parlament, erlässt im Eiltempo die passenden Gesetze. „Dann sind die von Russland militärisch eroberten Gebiete nach der Lesart Moskaus offizielles russisches Staatsgebiet“, so Mangott. Und was, wenn ukrainische Soldaten versuchen, diese Gebiete zurückzuerobern? Wäre das ein Schlag gegen die territoriale Integrität Russlands, der den Einsatz von Nuklearwaffen möglich macht? Genau das ist jetzt die Drohgebärde mit der Putin dem Westen in Angststarre versetzen will.

5. Putin mobilisiert mit Lügen

All das ist, gelinde gesagt, einfach nur noch absurd, wie mein Kollege Robert Treichler im profil-Podcast richtig sagt. Putin verdreht in seiner Rede auf perfide Art und Weise die Tatsachen. Plötzlich greift nicht mehr Russland die Ukraine an, sondern die Ukraine Russland. Und nicht nur: „Das Ziel dieses Westens ist es, unser Land zu schwächen, zu spalten und letztlich zu zerstören“, so Putin. Der Westen habe „alle Grenze überschritten“. Dass nichts davon stimmt, ist selbsterklärend. Putin braucht den Westen als Drohkulisse. Nur so kann er seiner Bevölkerung die Teilmobilmachung als notwendig verkaufen.

Franziska Tschinderle

Franziska Tschinderle

schreibt seit 2021 im Außenpolitik-Ressort. Studium Zeitgeschichte und Journalismus in Wien. Schwerpunkt Südosteuropa / Balkan.