Kranzniederlegung in Gedenken an die Opfer der Novemberpogrome vor der Shoah-Namensmauern-Gedenkstätte in Wien
Erinnern wir uns um des Erinnerns willen oder der Zukunft wegen?
Heute um elf Uhr findet im Nationalratssaal des Parlaments ein Festakt anlässlich des 30-jährigen Bestehens des Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus statt. Bundespräsident Alexander Van der Bellen hält die Festrede. Der 1995 gegründete Nationalfonds leistet Zahlungen an überlebende NS-Opfer und fördert wissenschaftliche Projekte. Aktuell liegt der Schwerpunkt auf der Bekämpfung von Desinformation in Online-Medien, in denen der Holocaust relativiert und die Erinnerungskultur unterminiert werden.
Es ist eine der letzten Veranstaltungen im Erinnerungsjahr 2025. Wir gedachten des Jahres 1945 (Kriegsende, Befreiung vom Nationalsozialismus, Wiedererrichtung der Republik); des Jahres 1955 (Staatsvertrag, Beschluss der immerwährenden Neutralität); und schließlich des EU-Beitritts vor 30 Jahren.
Gedenkjahre wie dieses finden alle zehn Jahre statt, in einer kleineren Version jeweils im achten Jahr jedes Jahrzehnts, wenn die Republik sich kollektiv an das Ende des Ersten Weltkriegs 1918 und an den so genannten „Anschluss“ an Hitler-Deutschland 1938 erinnert.
Was bleibt von solchen Gedenkjahren? Liefern sie Impulse oder handelt es sich bloß um Rituale und Events unter reger Beteiligung der Staatsspitze? Pflegen wir Erinnerungskultur oder betreiben wir Erinnerungsfolklore? Erinnern wir uns um des Erinnerns willen oder der Zukunft wegen?
Gedenkjahre mit ihren Festakten, Veranstaltungen und wissenschaftlichen Projekten dienen der Bewusstseinsbildung. Wir stellen uns unserer Geschichte, im besten Fall lernen wir aus ihr, dass Demokratie, Rechtsstaat, Frieden und Wohlstand keine Selbstverständlichkeit sind. Hier beginnt die Debatte: Was kann man aus der Geschichte wirklich lernen? Sind etwa politische und gesellschaftliche Entwicklungen vor 1938 mit der heutigen Zeit überhaupt vergleichbar?
Was „Nie wieder!“ bedeuten kann
Man kann die Erinnerungskultur in Zusammenhang mit der NS-Zeit als Fortsetzung der Vergangenheitsbewältigung begreifen – ein einst allgegenwärtiger Begriff, der mittlerweile rar, weil offenbar obsolet geworden ist. Die Einrichtung des Nationalfonds ist Teil dieser Vergangenheitsbewältigung, ebenso die Verleihung der österreichischen Staatsbürgerschaft an Nachfahren von NS-Opfern. Deren Namen nie zu vergessen, ist Sinn und Pflicht der Erinnerungskultur, die ihren Ausdruck in Gedenkjahren oder auch in der Shoah-Namensmauern-Gedenkstätte im Ostarrichipark in Wien findet, an der vergangenen Freitag das offizielle Österreich der Opfer der Novemberpogrome 1938 gedachte.
Aus dem Nicht-Vergessen leitet sich das normative „Nie wieder!“ ab. Finden wir einen Konsens, was damit gemeint ist? Die Parole zeigt, welch konträre Lehren aus der Geschichte gezogen werden. Für die einen liegt die Verpflichtung aus unserer NS-Schuld in unverbrüchlicher Solidarität zu Israel. Für andere bedeutet „Nie wieder!“ das Gegenteil: Solidarität mit den Palästinensern, die ihrer Meinung nach von einem Genozid bedroht wären.
Die Enkelgeneration konnte über die Kriegszeit von den Großeltern erfahren. Mittlerweile sind die Urenkel erwachsen, für die der Zweite Weltkrieg wohl so abstrakt ist wie der Erste. Überlebende NS-Opfer, die als Zeitzeugen in Schulen gehen und den Jungen von ihrem Schicksal erzählen, werden weniger. 2035, im nächsten Gedenkjahr, werden sie alle verstorben sein.
Ist die Nazizeit für die Jüngeren „real so versunken wie Karthago“, wie der 2021 verstorbene Philosoph Rudolf Burger in einem heftig diskutierten Beitrag im „Standard“ im Juni 2001 (Titel: „Die Irrtümer der Gedenkpolitik“) schrieb?
Eine Erinnerungskultur, die sich ernst nimmt, wird dies verhindern.
In eigener Sache: Am 29. November lädt profil im Rahmen seiner Jubiläums-Veranstaltungsreihe „55 Jahre unbequeme Wahrheiten“ wieder ins Wiener Theater Akzent. Unter dem Titel „Kurz, Ibiza, Casinos und KTM“ diskutieren WKStA-Sprecher Martin Ortner und die profil-Investigativjournalisten Marina Delcheva, Stefan Melichar, Jakob Winter sowie profil-Chefredakteurin Anna Thalhammer über die spektakulärsten Enthüllungen der jüngeren profil-Geschichte. Schicken Sie uns Ihre Fragen vorab an: [email protected]. Vorverkaufskarten finden Sie hier. Abonnentinnen und Abonnenten erhalten Vergünstigungen.