Der Streit ums Kopftuch – eine österreichische Volksneurose
Volksneurose. Der Begriff fiel neulich in unserer Redaktionssitzung, als wir über das bevorstehende Kopftuchgesetz diskutierten. Ein Wort, das nach Sigmund Freud klingt, irgendwie nach Massenpsychologie und kollektiver Angst. Und doch beschreibt es in diesem Moment ganz gut, was Österreich derzeit beschäftigt. Kaum ein Thema vereint politische Kalkulation, Identitätsfragen und symbolische Bedeutung so stark wie das Kopftuch.
Am Montag rückte Integrationsministerin Claudia Plakolm (ÖVP) einmal mehr aus, um die bevorstehende Regelung zu verteidigen. In einer Pressekonferenz erklärte sie, diesmal solle es anders laufen als noch vor sechs Jahren, im Jahr 2019, als der Verfassungsgerichtshof (VfGH) das damalige Gesetz kippte, weil es „zu sehr auf Muslime abzielte“. Nun soll es Begleitmaßnahmen geben: ein Paket zur Stärkung der Selbstbestimmung von Mädchen, zur präventiven Arbeit mit Burschen und „Sittenwächtern“ sowie zur Unterstützung und Aufklärung von Eltern. Anfang November soll eine Kommission über die Zuschläge entscheiden. „Ich bin zuversichtlich, dass dieser Gesetzesentwurf auch halten kann und wird“, sagte Plakolm zu Beginn der Woche.
Ein weiterer Unterschied zu 2019: Vom 11. September weg bis gestern konnte die Bevölkerung Stellungnahmen direkt auf der Website des Parlaments abgeben. Vor sechs Jahren ging das noch nicht, das Recht war Institutionen oder Landesregierungen vorbehalten. Das neue Begutachtungsverfahren, also die Möglichkeit, dass auch Bürgerinnen und Bürger ihre Meinung zu Gesetzesentwürfen abgeben, gibt es in dieser Form erst seit August 2021. Das heißt: Man weiß heute schlicht nicht, wer sich, damals noch unter Schwarz-Blau, zum Kopftuchverbot geäußert hätte – und schon gar nicht wie. Am Donnerstagabend lag die Zahl jedenfalls bei knapp 600 Stellungnahmen, die diesmal eingelangt sind, die meisten von Privatpersonen, rund 50 von Institutionen.
Beim Lesen zeigt sich ein breites Meinungsspektrum, die meisten Wortmeldungen aber fallen negativ aus. Viele gehen aber davon aus, dass das Gesetz wieder verfassungswidrig sein könnte. Die Bischofskonferenz etwa warnt vor einem „Eingriff in das Recht auf religiöse Kindererziehung“. Aber es gibt auch jene, die das Gesetz befürworten. Der Berufsverband der Psychologinnen und Psychologen hält fest, dass eine Regelung, die Kinder vor äußeren Zwängen oder vorzeitigen Rollenzuschreibungen schützt, „einen Beitrag zu einer freien und selbstbestimmten Entwicklung leisten“ könne, sofern sie verhältnismäßig gestaltet sei. Eine Frau, die an einer Tiroler Schule arbeitet, schreibt, Frauen, die ein Kopftuch tragen, „verlieren ihre rechtliche Selbstbestimmung“, weil das Tragen von Männern bzw. Vätern „verordnet“ wird.
In unserer heutigen Geschichte, die Sie ab 12 Uhr im E-Paper lesen können, kommen Betroffene zu Wort, Musliminnen, Lehrerinnen und Lehrer, die erzählen, was das neue Gesetz in ihrem Alltag verändern würde. Sie berichten von persönlichen Entscheidungen, die politisch werden, von Unsicherheiten und von Situationen, in denen sie sich rechtfertigen müssen.
Die Begutachtungsfrist ist seit Mitternacht beendet, die Debatte noch lange nicht.