Morgenpost

Lesen, bitteschön!

In einer Ecke zu sitzen und ein Buch lesen, während anderswo Tumult und Tod toben? Drei Bücher, die helfen können, das Jahr 2024 zu verstehen.

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Die Welt war und ist stetige Konfusion, alles andere ist groteskes Gerücht. Der Himmel auf Erden? Mitnichten. Es herrscht, spätestens seit wir Menschenwesen uns fatalerweise unseres eigenen Verstandes bedienen, Dauerdurcheinander: Kriege, Erderwärmung, Fluchtbewegungen, Klimakatastrophe, Ressourcenverbrauch, Artensterben und weitere hausgemachte Unglücksfälle. Wohl nur unter ausgesuchten Stammtischbrüdern ist es noch nicht ganz durchgedrungen, dass der trübe Globus-Trabant namens Dystopie nicht vor der Wirtshaustür steht und sich erst überlegt, ob er anklopfen soll, sondern längst mit am Tisch sitzt. 

Ist es da nicht geradezu lachhaft, all den Problemen in Buchstabengröße zu begegnen? Zu lesen, während anderswo Tumult und Tod toben? „Lesen Sie gefälligst!“, raunzte einst der Schriftsteller Peter Handke. Drei Kurztipps für Bücher, die helfen können, das kommende Jahr besser zu verstehen. 

Christopher Clark: Frühling der Revolution. DVA

Der australische Historiker Christopher Clark schreibt über Geschichte so, als sei diese die Ouvertüre zu etwas Größerem. Der Frühling des Jahres 1848, als sich aus dem Nichts in zahllosen europäischen Städten gewaltige Menschenmengen versammelten, um gegen die politische Ordnung zu demonstrieren? Clark erweckt in seinem 1000-Seiten-Opus „Frühling der Revolution“ nicht allein die Revolutionen anno 1848 zu neuem Leben – er beschreibt, wie der Wunsch nach politischem Wandel bis zum heutigen Tag vieles zum Guten und nicht weniges zum Schlechten verändert hat. „Warum sollten wir uns also heute die Mühe machen, uns mit den Ereignissen von 1848 zu befassen?“, fragt Clark, der im O-Ton mit Kollegin Edith Meinhart in profil-Jahresausgabe zu erleben ist, in seinem Buch. Weil jede Antwort auf Clarks Frage Konsequenzen über die Epoche hinaus hat. 

Judith Mackrell: Frauen an die Front. Insel

Bert Brecht hielt die Ratlosigkeit eines lesenden Arbeiters in einem Gedicht fest: „Wer kocht den Siegesschmaus? / Alle zehn Jahre ein großer Mann. / Wer bezahlte die Spesen? / So viele Berichte, / So viele Fragen.“ Die britische Tanzkritikerin Judith Mackrell hat über die Jahrzehnte hinweg eine passende Antwort parat. In ihrer Porträtsammlung „Frauen an der Front“ konterkariert sie die Bomben-Gier der Männer mit den Lebenswegen von sechs Kriegsreporterinnen – Lee Miller, Martha Gellhorn, Sigrid Schultz, Virginia Cowles, Clare Hollingworth und Helen Kirkpatrick –, die allesamt Gott Mars als das Scheusal benennen, das er immer schon war. 

Thomas Meyer: Hannah Arendt. Piper

Vor mehr als 70 Jahren notierte die Philosophin Hanna Arendt in ihrem Essay „Es gibt nur ein einziges Menschenrecht“: „Vor allem findet der Raub der Menschenrechte dadurch statt, dass einem Menschen der Standort in der Welt entzogen wird.“ Es schadet nie, Arendt zu lesen. Der Münchner Philosophieprofessor Thomas Meyer liefert in seiner Biografie „Hannah Arendt“ durch erstmals ausgewertete Dokumente neue Einblicke in Leben und Werk der 1975 in New York verstorbenen politische Theoretikerin und Publizistin. Es bleibt uns wohl oder übel nicht erspart, das Nachdenken über uns Katastrophenwesen: „Ich glaube nicht, dass es irgendeinen Denkvorgang gibt, der ohne persönliche Erfahrung möglich ist“, schrieb Arendt im September 1964: „Alles Denken ist Nachdenken, der Sache nach – denken.“

Auf lange Nachdenk- und Lesestunden!

Wolfgang   Paterno

Wolfgang Paterno

ist seit 2005 profil-Redakteur.