
OBJEKTIV 2015 - ÖSTERREICHS PRESSEFOTO DES JAHRES / SIEGER DER JUBILÄUMSKATEGORIE IKONEN (!!! ACHTUNG SPERRFRIST 20:30 UHR !!!)
Vergangenheitsbewältigung: Kurt Waldheim auf der Besuchertribüne des Österreichischen Nationalrats
Waldheim und das profil
Im Oktober 1985 wurde Geschichte geschrieben, wenn auch vorläufig noch mit unsichtbarer Tinte. Der von der ÖVP nominierte Kandidat zur österreichischen Bundespräsidentenwahl, der ehemalige österreichische Außenminister und UN-Generalsekretär Kurt Waldheim, präsentierte sein Wahlkampfteam. Dabei tauchte die – schon in den 1970er-Jahren erstmals gestellte – Frage nach Waldheims NS-Vergangenheit auf, konkret: Ob er Mitglied des Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbunds (NSDStB) oder einer SS-Reiterstandarte gewesen sein könnte. Der Kandidat und sein Team wiegelten ab: Waldheim war Infanterist in der Wehrmacht, mehr nicht, und das Thema schien auch schon wieder erledigt. Stabil lag Waldheim in jenem Herbst rund 10 Prozentpunkte vor dem SPÖ-Kandidaten Kurt Steyrer.
Der Urknall der „Waldheim-Affäre“ erfolgte dann knapp fünf Monate später. Fast ein bisschen versteckt, ab Seite 16 der profil-Ausgabe vom 3. März 1986 (mit dem aus heutiger Sicht verwegenen Coverthema: „Vorbild Schweiz?“), veröffentlichte Hubertus Czernin das Ergebnis seiner Recherchen. Unter dem Titel „Waldheim und die SA“ berichtete der junge profil-Redakteur, was ihm bei einem Besuch im Staatsarchiv untergekommen war, wo er Waldheims „Wehrstammbuch“ einsehen hatte können:
„Jetzt, es war der 21. Februar, kurz nach elf Uhr vormittags, sollte das verstaubte Aktenstück zur Einsicht freigegeben werden. Waldheim selbst hatte, ohne zu zögern, profil die Einschau bewilligt. Zeleny und Neck (Kurt Zeleny, Leiter der Präsidialsektion im Bundeskanzleramt, und Rudolf Neck, Generaldirektor des Staatsarchivs, Anm.) beaufsichtigten die Dokumentenöffnung. Der VP-Präsidentschaftskandidat hatte seinen Büromitarbeiter Ferdinand Trauttmansdorff beigestellt. Viel war ja nicht zu erwarten. Höchstens Aufschluß über Waldheims Kriegseinsätze, Verletzungen, Beförderungen seine Einheiten.
Mehr stand beim ersten Durchsehen tatsächlich nicht in dem 45seitigen Wehrstammbuch: Leutnant der Reserve 1940, Oberleutnant 1942, Kavallerieschule 1938, drei Typhusimpfungen 1939.
Doch dann gab es noch ein zweites, angeheftetes Dokument: die Wehrstammkarte.
Datum der Erfassung: 2. Juni 1939. Geburtsjahr: 1918. Familienname: Waldheim. Vorname: Kurt. Erlernter Beruf: Student jus. Beruf des Vaters: Bezirksschulinspektor i. R. Fremdsprachen: engl, franz., ital., latein. Und: Zugehörigkeit zu Gliederungen usw. siehe Anleitung: SA., N.S.D.StB. Eintritt: 1938.
Ferdinand Trauttmansdorff erblaßte.“

"Waldheim und die SA"
Die Aufmacherseite von Hubertus Czernins epochaler Waldheim-Enthüllung, profil, März 1986
Und Waldheim dementierte wieder. Die Eintragungen entsprächen nicht den Tatsachen, ließ er profil wissen, ihm sei jedenfalls keine Mitgliedschaft in den genannten Organisationen erinnerlich. Allenfalls könne von einer Verwechslung ausgegangen werden: „Ich nahm während meiner Studienzeit vereinzelt an Reitsportveranstaltungen der damaligen Konsularakademie teil, was keinerlei Mitgliedschaft zu derartigen Organisationen bedingte.“
In den Tagen und Wochen danach bröckelte die Verteidigungslinie des Präsidentschaftskandidaten, während mehr und mehr Details über seine Weltkriegsvergangenheit ans Licht kamen. Gleichzeitig zementierten Waldheim und die ÖVP ihre Positionen ein, und tatsächlich wurde der Kandidat im zweiten Wahlgang – „Jetzt erst recht!“ – zum Bundespräsidenten der Republik Österreich – und zu einem internationalen Paria, „mit Einreiseverbot in die USA, nur gelegentlich von einem Scheich besucht“, wie die Schriftstellerin (und ehemalige profil-Redakteurin) Eva Menasse in der diesjährigen Sondernummer zum 55-jährigen profil-Jubiläum schrieb.
Menasse bezeichnete Czernins „Waldheim und die SA“ als einen der „fünf wichtigsten Texte in der Geschichte des profil“, und wir wollen ihr nicht widersprechen. Es ist tatsächlich nicht ganz ausgeschlossen, dass der Umgang Österreichs mit seiner Rolle im Nationalsozialismus durch diesen Text – der die historische „Waldheim-Affäre“ erst auslöste – ganz maßgeblich geprägt wurde.
Kommende Woche werden wir deshalb – in der Oktober-Ausgabe unserer Live-Debattenreihe zum profil-55er – über diesen Text, Czernins Recherchen und deren Auswirkungen diskutieren. profil-Innenpolitikchef Gernot Bauer empfängt im Theater Akzent eine hochkarätige Runde: die Direktorin des Jüdischen Museums Wien Barbara Staudinger, den ehemaligen ÖVP-Nationalratspräsidenten Andreas Khol, den Zeithistoriker Oliver Rathkolb, die ehemalige Botschafterin in den USA und außenpolitische Beraterin von Bundeskanzler Franz Vranitzky Eva Nowotny sowie Christoph Kotanko, langjähriger „Kurier“-Chefredakteur (und anno 1986 profil-Redakteur). Das musikalische Rahmenprogramm bestreitet die Singer-Songwriterin OSKA, Tickets können noch unter www.akzent.at erworben werden.