Morgenpost

Wie kämpft man für die Demokratie?

Lehren aus der Türkei, Israel und Russland.

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Wir genießen das Privileg, morgens in einem Land aufzuwachen, in dem Demokratie herrscht. Lediglich acht Prozent der Weltbevölkerung teilen dieses Glück laut der jährlichen Berechnung der Economist Intelligence Unit; knapp mehr als 37 Prozent leben in einer „mangelhaften Demokratie“; fast 18 Prozent in einem „hybrid“ regierten Land, also in einer Mischform aus Demokratie und Autokratie; und 36,9 Prozent in einem autokratischen, diktatorischen System.

Die Türkei wird zu den hybrid regierten Staaten gezählt, und deshalb blickt die ganze Welt derzeit gespannt und bange auf die Wahlen, die vergangenen Sonntag begonnen haben. Die Präsidentschaftswahl ist noch nicht entschieden, es geht in die Stichwahl zwischen Amtsinhaber Recep Tayyip Erdoğan und seinem Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu. Es geht dabei um mehr als um eine gewöhnliche Richtungsentscheidung zwischen konservativ und progressiv. Die Türkei könnte von ihrem hybriden Status quo in Zukunft in Richtung eines autoritären Systems kippen oder sich umgekehrt zu einer Demokratie entwickeln. Erdoğan ist für den Verfall der Demokratie in den vergangenen Jahren verantwortlich, Kılıçdaroğlu verspricht, demokratische Rechte und Institutionen wiederherzustellen.

Es heißt, die Türkinnen und Türken kämpften nun für die Demokratie. Was genau bedeutet das?

Es scheint simpel: Wer für die Demokratie ist, muss bloß Kılıçdaroğlu wählen. Tatsächlich steckt weit mehr politisches Verantwortungsbewusstsein hinter einer solchen Entscheidung. Bereits die Tatsache, dass sich insgesamt sechs Parteien zu einem oppositionellen Bündnis zusammengeschlossen haben, ist eine Leistung. Sie mussten ideologische Differenzen beiseiteschieben und sich auf einen Kandidaten einigen. Auch die Wählerinnen und Wähler müssen über ihren Schatten springen und ein Bündnis wählen, das sie in Teilen womöglich ablehnen und dessen Spitzenkandidat ihnen vielleicht politisch gar nicht in den Kram passt.

Der Kampf um das höhere Ziel – die Demokratie – verlangt nicht nur Leidenschaft, sondern oftmals auch Pragmatismus und zusammengebissene Zähne.

Auch in Israel wird seit Monaten um die Demokratie gekämpft. In dem Land, das im Demokratie-Index als „mangelhafte Demokratie“ eingestuft wird (wobei auch EU-Staaten wie Griechenland oder die Tschechische Republik in diese Kategorie fallen), will eine rechtmäßig gewählte – zum Teil rechtsextreme – Regierung das politische System umkrempeln und dabei das Oberste Gericht, das einzige starke Gegengewicht zur Regierung, entmachten. Um das zu verhindern, demonstrierten Hundertausende in den Straßen, hochrangige Militärs verweigerten den Dienst, Konzernchefs drohten mit Abwanderung. Das verlangte Rückgrat, Mut, Entschlossenheit. Schließlich sah sich Regierungschef Benjamin Netanjahu gezwungen, das Projekt – zumindest vorübergehend – auf Eis zu legen.

In hybriden Systemen und in mangelhaften Demokratien hat es das Volk schwer, seine Rechte zu verteidigen oder wiederzuerlangen. Aber es gibt diese Möglichkeit noch. In Russland hingegen hat Präsident Wladimir Putin bereits ein autoritäres System errichtet, das derartige Bewegungen unterdrückt. Massenproteste wurden in der Vergangenheit mit Polizeigewalt im Keim erstickt, Wahlen sind längst nicht mehr fair und frei. Wer dem Regime die Stirn bietet wie etwa der Dissident Alexei Nawalny, riskiert sein Leben oder landet für unbestimmte Zeit im Gefängnis.

Der Kampf um die Demokratie ist in den vergangenen Jahren weltweit schwieriger geworden. Autokraten sind im Vormarsch. Schlägt die Demokratie zurück? Nächster Termin: Die Stichwahl in der Türkei am Sonntag, den 28. Mai.

Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur