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Die Gretchenfrage nach dem irren Geständnis des gefallenen ÖVP-Mannes Thomas Schmid: Kann man ihm glauben? Davon hängt nicht nur für die ÖVP viel ab, sondern auch für die Demokratie.

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„Nun sag´, wie hast du´s mit der Religion?“ In Vers 3415 willl es die blutjunge, vom alternden Gelehrten Heinrich Faust umgarnte Maragrete wissen: Ist Faust, die titelgebende Figur in Goethes Tragödie, nun ein gläubiger Christ oder nicht? Der Angesprochene laviert herum: „Laß das, mein Kind! Du fühlst, ich bin dir gut“. Bekanntlich paktierte Faust mit dem Teufel: Erst soll Mephisto ihm irdisches Glück im Übermaß bescheren, und wenn dann Schluss mit lustig ist, soll seine Seele dem Teufel gehören. 

Vergangenen Dienstag schreckte eine geschichtsträchtige Presseaussendung der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA) die Öffentlichkeit auf. Der ehemalige Generalsekretär im Finanzministerium, Thomas Schmid, habe in 15 Einvernahmen ausgepackt, war zu erfahren. „Nun sag´, wie hast du´s mit der Wahrheit?“ Das ist nun die Gretchenfrage. Weil von ihrer Beantwortung viel abhängt – für die ÖVP, für die Regierung, am Ende für das gesamte politische System – beschäftigen sich die neue profil-Titelgeschichte, der Leitartikel von Eva Linsinger und die Geschichte „Schadensfall Republik“ damit in aller gebotenen Ausführlichkeit.

Als Bonustrack erhalten Sie ein Opus Magnus online dazu. Dabei gilt natürlich nicht der Goethesche sondern der journalistische Maßstab. Eines dieser famosen, gelben Reclam-Heftchen, die Generationen von Schülerinnen und Schülern Bekanntschaft mit Gretchen und Faust verschafften, könnten Stefan Melichar und Michael Nikbakhsh damit aber fast schon füllen. „Willkommen in der Welt des Thomas Schmid“ haben die Kollegen ihren Long read über das irre Geständnis eines gefallenen ÖVP-Manns eingeleitet. Die Lektüre lohnt jede Minute.

Wenn es richtig gut läuft, werden die aktuellen Geschehnisse in nicht allzu ferner Zukunft als eine politische Gefahr eingeordnet werden können, der auch Rettendes erwachsen ist: Mehr Transparenz, eine selbstbewusste Justiz, die davon ausgehen darf, ungehindert arbeiten zu können, vertrauenswürdiges, politisches Personal, trocken gelegte Korruptionssümpfe und – träumen wird man noch dürfen – das Ende des unverfrorenen, parteipolitischen Postenschachers. Im schlechten Fall bewährt es sich für eine aktuell arg bedrängte ÖVP einmal mehr, die verfolgte Unschuld zu spielen und zur Wählerwutablenkung Sündenböcke durchs Land zu treiben.

Für die Demokratie geht diese Rechnung sicher nicht auf. Das zeigt auch eine neue, soziologische Vermessung Österreichs: Einmal pro Jahrzehnt bilden Sozialforscher des Wiener Unternehmens Integral das Land in zehn Lebenswelten ab – sogenannten Sinus Milieus. Nun war es wieder einmal Zeit, diese Landkarte zu überarbeiten. profil und Kurier erhielten Einblick in jene zehn Milieus, die Österreich heute ausmachen.

Die Stützen der Gesellschaft wackeln

Ausgerechnet in der gesellschaftlichen Mitte, aus der das Vertrauen in Institutionen und der solide, soziale Zusammenhalt entspringen sollen, zeigen sich die stärksten Bruchlinien. In keinem anderen Milieu sitzt die Angst, „von oben angelogen und manipuliert zu werden“, so tief wie in der sogenannten „bürgerlichen Mitte“.  Auf die Frage, welcher Partei man zutraue, Probleme zu lösen, antworteten im März 2020 die Vertreter dieses Milieus zu 17 Prozent mit „keiner einzigen“. Ein Jahr später sind es 37 Prozent. Mehr dazu – etwa was sich bei den Eliten getan hat und welche jungen Milieus das Land künftig prägen werden – lesen sie ebenfalls im neuen profil. Und auch dazu gibt es Online noch Zahlen, Daten und Fakten drauf.

In Goethes Faust richtet die Machtveressenheit und unstillbare Gier des Titelhelden einiges zugrunde. Gretchens Mutter, ihr Bruder und ihr Kind sterben. Sie selbst wird hingerichtet, erfährt aber letztendlich höhere Gerechtigkeit. Und schließlich fährt selbst Faust noch in den Himmel auf. Hier muss die Analogie natürlich auf den harten Boden der Wirklichkeit anno 2022 und zu den Mühlen der irdischen Gerechtigkeit zurückkehren. Thomas Schmid empfiehlt sich als Kronzeuge. Kann man ihm glauben?

Ich wünsche Ihnen eine anregende Lektüre und einen guten Start in die neue Woche,

Edith Meinhart

Edith   Meinhart

Edith Meinhart

ist seit 1998 in der profil Innenpolitik. Schreibt über soziale Bewegungen, Migration, Bildung, Menschenrechte und sonst auch noch einiges