Tag der Arbeit

1. Mai: Wir arbeiten, um zu leben. Oder umgekehrt?

Gibt es ein Recht auf Faulheit? Was uns kluge Denkerinnen und Denker über Lust und Leid der Erwerbstätigkeit verraten.

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Das Beeindruckendste am Mai-Aufmarsch am Wiener Rathausplatz ist der Stolz der Teilnehmer. Spötteleien ob des folkloristischen Gehalts der Veranstaltung tragen sie wie eine Viktor-Adler-Plakette. Zum Abschluss der Veranstaltung singen SPÖ- und Gewerkschaftsspitzen auf der Ehrentribüne und die Menge unten am Rathausplatz gemeinsam die Hymne aller Werktätigen: „Stimmt an das Lied der hohen Braut/Die schon dem Menschen angetraut/Eh’ er selbst Mensch war noch/Was sein ist auf dem Erdenrund/Entsprang aus diesem treuen Bund/Die Arbeit hoch! Die Arbeit hoch!“

Was sie uns damit singen wollen: Arbeit ist mehr als Broterwerb. Sie verleiht dem Menschen Sinn und Würde. Umso erstaunlicher ist es, dass die Sozialdemokratie die Arbeit ständig verringern will. Der Traiskirchner Bürgermeister Andreas Babler, Wunschkandidat der linken Partei-Intelligenz für den SPÖ-Vorsitz, schlägt vor, die gesetzliche Arbeitszeit für alle auf 32 Stunden kürzen. Allerdings hat er diesbezüglich noch nicht einmal in seiner eigenen Gemeinde einen Feldversuch gestartet.

Als gelernter Marxist folgt Bablers Verständnis von Arbeit der Ausbeutungstheorie. Die Unternehmer bereichern sich an den Leistungen der Werktätigen, die Babler konsequent „Lohnabhängige“ nennt. Die Fron, die er derzeit bei seinen Auftritten beschreibt, wurde nie trauriger besungen als im Lied „Arbeit“ des vor einem Jahr verstorbenen Willi Resetarits alias Ostbahn-Kurti. Der Held der Ballade muss in der Arbeit „ollas geb’n“ und ist daher „bald derrisch von da Hock’n und blind fürs Leb’n“.

Ist Liebe zur Arbeit ein Wahn?

Arbeit bedeutet also auch Leid. Der Arzt und Sozialist Paul Lafargue (1842 bis 1911) nannte die „Liebe zur Arbeit“ einen „Wahn“. In einer kapitalistischen Gesellschaft sei die Arbeit „die Ursache für jeden geistigen Verfall“. Lafargue war der Schwiegersohn von Karl Marx und zu seiner Zeit in Paris das, was Andreas Babler in Traiskirchen und auf Twitter ist: ein Star.

Der Satiriker Herbert Müller-Guttenbrunn (1887 bis 1945) teilt Bablers, Ostbahn-Kurtis und Lafargues Einschätzung vom Arbeitsleid, macht in seinem „Alphabet des anarchistischen Amateurs“ allerdings auch die Lohnabhängigen für ihr Schicksal verantwortlich: „Die Arbeit ist das Einzige, was der Kapitalist dem Arbeitnehmer zu nehmen gestattet. Solange der Arbeiter von dieser gnädigen Erlaubnis Gebrauch macht, ja sogar noch eine Partei bildet, die dieses Nehmen organisiert, ist an ihm Hopfen und Malz verloren.“

Müller-Guttenbrunns Zitat ist als Aufruf zur Arbeitsverweigerung zu verstehen. Aber so sind wir nicht, wir österreichischen Lohnabhängigen, wie die Statistik zeigt. 2021 streikten hierzulande 5032 Arbeitnehmer an insgesamt 1421 Streiktagen. Umgelegt auf sämtliche Beschäftigte sind das im Schnitt nur 12 Sekunden Streik pro Arbeitskraft. Von 2015 bis 2017 und von 2005 bis 2010 gab es keinen einzigen Streiktag. Österreich ist also ein Arbeitgeber-Paradies. Kapital und Humankapital bilden eine Symbiose, das nennt man Sozialpartnerschaft, dank der nicht nur die Streikrate, sondern auch die Arbeitslosigkeit im internationalen Schnitt seit 1945 gering ist.

Hackler, die Helden der Arbeit

Streiktage sind aus Unternehmersicht also ein vernachlässigbares Problem, Krankenstände nicht. Laut dem „Fehlzeitenreport 2021“ des WIFO war im Schnitt jeder Arbeitnehmer zwölf Tage lang im Krankenstand. 43 Prozent aller Krankenstände betreffen Erkrankungen des Muskel-Skelett-Systems und der Atemwege. Psychische Erkrankungen waren 2021 für 3,2 Prozent aller Krankenstände verantwortlich. Das Burn-out gehört mittlerweile zum Erwerbsleben wie Urlaubs- und Weihnachtsgeld. 

Im schlimmsten Fall führt der Krankenstand in die Berufsunfähigkeits-Pension: Menschen wollen arbeiten, aber können nicht mehr. Bis vor einigen Jahren war es umgekehrt: Menschen konnten noch arbeiten, aber wollten nicht mehr. Die Frühpension war die Regelpension. Für Frühpensionisten ist die Arbeit keine Braut, sondern eine Lebensabschnittspartnerin, die man möglichst bald anbringen will. Seit dem Jahr 2000 ist das durchschnittliche Pensionsantrittsalter laut Statistik Austria allerdings gestiegen, bei Männern von 58,5 auf 61,9 Jahre, bei Frauen von 56,8 auf 59,9 Jahre.

Das Gegenteil der Frühpensionisten sind die Langzeitversicherten. Sie sind Helden der Arbeit, für die die „Hacklerregelung“ erfunden wurde. Wer 540 Beitragsmonate beisammen hat, kann mit 62 Jahren – Frauen auch früher – in Pension gehen. Die Regelung war ursprünglich für echte Hackler gedacht, die nach einem zehrenden Berufsleben die Gnade des frühen Pensionsantritts erfahren sollten. Tatsächlich profitierten von der Regelung auch viele Schreibtisch-Hackler. Daher führte der Gesetzgeber eine spezielle Hacklerregelung für Schwerarbeiter ein. Dem Ostbahn-Kurti hätte das gefallen. Als „Schwerarbeit“ gelten etwa Tätigkeiten „in Schicht- oder Wechseldienst“, „unter Hitze oder Kälte“, „unter chemischen oder physikalischen Einflüssen“ und generell „schwere körperliche Arbeit“ unter Verbrauch einer definierten Kilojoule-Menge.

Für ihre Arbeitseinsatz wird die Erwerbsbevölkerung entlohnt. So funktioniert der Kapitalismus. „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen“, heißt es bei Paulus. Seit einigen Jahrzehnte wird allerdings über das Modell des bedingungslosen Grundeinkommens diskutiert. Das Konzept: Der Staat kürzt massiv bei Sozialleistungen und überweist dafür allen Bürgerinnen und Bürgern einen gewissen Betrag, den diese nach Laune ohne Gegenleistung verwenden können. Erwerbsarbeit würde damit von der „ewigen Naturnotwendigkeit“ (Marx) zur Freiwilligkeit. Essen gibt es auch ohne Hacke.

Im Vorjahr erhielt ein Volksbegehren zur Einführung des Grundeinkommens immerhin 170.000 Stimmen. Befürworter erwarten sich davon die Verringerung von Armut, den Abbau von Existenzängsten und mehr Arbeits- und Lebensfreude.  Kritiker bezweifeln, dass das System finanzierbar ist. Außerdem sei das Grundeinkommen nicht sozial treffsicher und würde „Inaktivität“ fördern. „Inaktivität“ ist der Terminus, den Wissenschaftler benützen, wenn sie „Faulheit“ meinen.

Im Christentum ist die Faulheit eine Todsünde, seit der Mensch aus dem Paradies vertrieben wurde. Bis dahin genossen Adam und Eva eine Art bedingungsloses Grundeinkommen im Garten Eden, für das ihr Schöpfer als Gegenleistung bloß etwas Gehorsam erwartete. Leider waren die beiden aufmüpfig wie Gewerkschafter bei Lohnverhandlungen. Gott tat, was Dienstgeber gern tun und kündigte einseitig den bestehenden Kollektivvertrag mit dem Menschen. Seither muss dieser sein Brot durch harte Arbeit „im Schweiße seines Angesichts“ verdienen.

Darf essen, wer nicht arbeitet?

Auch der frühere deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder meinte einmal: „Es gibt kein Recht auf Faulheit in unserer Gesellschaft.“ Daher galt er auch als „Genosse der Bosse“. Der frühere Wiener Bürgermeister Michael Häupl machte sich die Lehrer zum Feind, als er ihnen bei der Debatte um eine Ausweitung der Unterrichtsstunden Faulheit unterstellte: „Wenn ich 22 Stunden in der Woche arbeite, bin ich Dienstagmittag fertig.“ Das Gegenteil von Faulheit ist Fleiß, der im Arbeitsleben in der Überstunde seinen Ausdruck findet. Laut Bildungsministerium leisteten Österreichs Lehrkräfte im Schuljahr 2021/22 mehr als 6,1 Millionen Überstunden. Michael Häupl hätte dafür umgelegt mindesten bis Donnerstagvormittag gebraucht.

Was den tätigen Menschen ausmacht, beschäftigt Philosophen und Philosophinnen seit jeher – von Aristoteles bis Ahrendt. Die Pariser Revolutionäre des Jahres 1848 forderten ein „Recht auf Arbeit“. Auch im Artikel 23 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen steht geschrieben: „Jeder hat das Recht auf Arbeit.“

Dagegen stellte der österreichische Philosoph Konrad Paul Liessmann im Jahr 2017 die ketzerische Frage: „Ist der Mensch tatsächlich von Natur aus ein ,Animal laborans‘, ein arbeitendes Wesen, das in eine Krise gerät, wenn es seinen Job verliert?“ Man sollte, so Liessmann, auch über andere Existenzweisen nachdenken wie „beharrliche Langsamkeit“ und „lasterhafte Faulheit“.

Auch Paul Lafargue hielt vom Recht auf Arbeit wenig. Im Gegenteil: Er forderte für die Ausgebeuteten explizit ein „Recht auf Faulheit“. Man solle „sich darauf beschränken, nicht mehr als drei Tage zu arbeiten und den Rest des Tages und der Nacht zu faulenzen und zu feiern“. Die Jungen von heute nennen das „Work-Life-Balance“.

Gernot   Bauer

Gernot Bauer

ist Innenpolitik-Redakteur.