Husein beim Zoom-Gespräch mit profil-Redakteurin Edith Meinhart

Abschiebung des 13-jährigen Husein: "Mir geht es mittel"

Im Februar wurde der 13-jährige Husein aus Salzburg nach Aserbaidschan abgeschoben. Wieder einmal wurde das Wohl eines Kindes grob missachtet, sagen Experten.

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Am Bildschirm taucht ein schmächtiger Bursche in einem schwarzen, ärmellosen T-Shirt auf. "Ich bin in einer kleinen Stadt namens Lenkora, ich lebe bei meiner Oma", sagt Husein Salimov im Videogespräch mit profil. Sein 14. Geburtstag liegt wenige Tage zurück. Sein Tischtennis-Team in Salzburg, in dem er einer der Besten war, gratulierte über Zoom. Er hätte lieber mit ihnen gefeiert, er hätte auch gerne die Kirschen-Bananen-Torte, die seine Mutter für ihn gebacken hat, mit ihnen geteilt. Doch seit seiner Abschiebung nach Aserbaidschan liegen zwischen Husein und seinem früheren Leben 3000 Kilometer Luftlinie.

Wieder wurde ein Kind aus seiner Umgebung gerissen, in einen Flieger gesetzt und in die alte Heimat zurückgeflogen. Das Gleiche war zu Beginn des Vorjahres der zwölfjährigen Georgierin Tina widerfahren. Vergeblich protestierten Schulkollegen vor dem Gebäude, maskierte WEGA-Beamte und eine Hundestaffel rückten an. Die Bilder befeuerten eine politische Debatte, die der türkis-grünen Koalition zusetzte. Ein Jahr später, um Weihnachten 2021, holte Rechtsanwalt Wilfried Embacher die Jugendliche zurück. Sie lebt bei einer Gastfamilie in Wien, bekam ein Schülervisum und macht das Gymnasium fertig.

Husein im Garten seiner Oma in Lenkora

Kinderrechts-Experte Sax: „Wir sollten uns schämen.“

22 Kinder wurden im Vorjahr abgeschoben, 2020 waren es 67, im Jahr davor 100. Eine Kindeswohlkommission unter der Leitung der ehemaligen OGH-Präsidentin Irmgard Griss arbeitete Empfehlungen aus, damit sich das Drama, für das Tinas Geschichte steht, nicht wiederholt. Vor einem Jahr, am 13. Juli 2021, legte sie ihren Bericht. Seither sei "nicht nichts passiert", wie Griss feststellt, wesentliche Verbesserungen sind aber nicht zu vermelden. Ob und wie das Kindeswohl geprüft wird, ist noch immer Glückssache. Im Bundesverwaltungsgericht, der zweiten Instanz im Asylverfahren, wurden Kriterien erstellt, wurde Personal geschult und eine Ansprechrichterin ernannt. Ähnliche Anstrengungen vermisst Helmut Sax, Kinderrechtsexperte am Ludwig Boltzmann Institut für Grund- und Menschenrechte, im Innenministerin: "Unterm Strich überlagert der Anti-Migrationsdiskurs das Kindeswohl immer noch in allen Belangen."

In Asylverfahren und Rückkehrentscheidungen geht es um die Eltern. Kinder werden mitabgeschoben, ohne sie anzuhören, ohne zu prüfen, wie verwurzelt sie sind. Bis heute kommen nur in Tirol unbegleitete, minderjährige Flüchtlinge (UMF) vom ersten Tag an in die Obhut der Kinderund Jugendhilfe. In den restlichen Bundesländern landen sie in der normalen Grundversorgung, wo die Tagsätze niedriger sind, und erst später in speziellen, rund um die Uhr betreuten Quartieren. Mitunter dauert es Monate, bis ihre Obsorge geklärt ist, wie Sax nicht genug beklagen kann: "Dafür, dass sie bis dahin in der Luft hängen, wenn es um ihre Erziehung, Pflege, Gesundheit oder um die Schule geht, sollten wir uns schämen."

Oft eingemahnte Clearing-Häuser – ähnlich wie Einrichtungen für Kinder, die ihren Familien abgenommen werden –, fehlen bis heute. Justizministerin Alma Zadić stellte sich hinter das Anliegen. Nun müssten sich Bund und Länder zusammenraufen, und hier spießt es sich, wie so oft, am Geld. Auch eine Stelle, die Kindeswohl-Causen nachgeht, gibt es nach wie vor nicht. Wie groß der Bedarf dafür ist, zeigt sich für Griss daran, dass die nach ihr benannte Kommission mit ihrem Bericht die Arbeit offiziell beendete, Lehrerinnen, Ärzte und Jugendarbeiter sich aber immer noch melden. An wen sollten sie ihre verweifelten Mails sonst adressieren?

Husein erledigt seine Aufgaben, fotografiert sie und schickt sie über WhatsApp zurück."

Elfriede Windischbauer, Pädagogin und Unterstützerin

Der Verein Asylkoordination stieß das Bündnis "Gemeinsam für Kinderrechte" an, um die Lücke zu überbrücken. Koordinatorin Katharina Glawischnig sammelt Geschichten von Familien, die nach acht oder zehn Jahren fürchten, nach Georgien, Nigeria oder Somalia zurückgeschickt zu werden. Kürzlich landete auf ihrem Schreibtisch der Fall einer Zehnjährigen, die in Österreich mit einem armenischen Pass geboren wurde und in ein Land abgeschoben werden soll, dessen Sprache sie nie gelernt hat. Oder der Fall eines georgischen Mädchens, das unter Panikattacken leidet und sich nicht mit dem Zug zu fahren traut, aus Angst, kontrolliert zu werden. Ihre Psychiaterin empfiehlt die "Herstellung von Sicherheit durch Gewährung eines Aufenthaltstitels". In diesen und ähnlichen Fällen werden künftig Kinderschutzbriefe ausgestellt. Sie richten sich an die Justizministerin, den Innenminister und die Familienministerin mit dem Ersuchen, Entscheidungen im Sinne des Kindeswohls noch einmal zu überprüfen.

Kinderabschiebungen sind nicht per se verboten. Doch sie müssen kindgerecht, also schonend, über die Bühne gehen. Gibt es zwar Gründe, Erwachsene außer Landes zu bringen, ist es aber für Kinder nicht zumutbar, mit zwölf oder 13 Jahren in einem anderen Land neu anzufangen, müsse die Abwägung im Einzelfall zugunsten des Kindeswohls möglich sein und die ganze Familie ein Bleiberecht erhalten, so Kinderrechtsexperte Sax: "Das wäre der Durchbruch." Wie weit die Praxis davon entfernt ist, zeigt der Fall Husein.

Im August 2016 suchten seine Eltern in Salzburg um Asyl an. Der Vater berichtete von Schwierigkeiten mit einem Schuldner und blitzte durch die Instanzen ab. Im November des Vorjahres beantragte die Mutter humanitäres Bleiberecht, Anfang des Jahres wurde ihre Ehe geschieden. Aufenthalt wurde nicht gewährt. Die Familie bekam zwei Wochen Zeit, freiwillig auszureisen, wurde laut Anwalt Wilfried Embacher innerhalb der offenen Frist festgenommen und am 15. Februar 2022 abgeschoben. Gleichzeitig verhängte die Behörde ein für zwei Jahre gültiges Einreiseverbot. Begründung: Eine Rückkehr gefährde die nationale Ordnung und Sicherheit.

Falsche Textbausteine vom Gericht

Die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts strotzt vor Fehlern. Im 90-seitigen Konvolut tauchen plötzlich eine vierköpfige Familie und eine Schule in Mittersill auf, offensichtlich ein Textbaustein aus einer anderen Entscheidung. Das Gesetz verlangt die "vorrangige Beachtung des Kindeswohls". Sich im Klaren zu sein, von wem die Rede ist, wäre dafür die mindeste Voraussetzung, so Anwalt Embacher: "Stützt sich das Gericht auf einen falschen Sachverhalt, kann es gar nicht um den Burschen gegangen sein. Er kommt als eigenständige Person und Träger von Rechten nicht vor." Embacher ruft nun den Verfassungsgerichtshof (VfGH) an. In seiner Beschwerde bemängelt er nicht nur Copy-Paste-Unfälle und die Missachtung des Kindeswohls, sondern auch das Einreiseverbot per se. "Das Gericht begründet es mit fehlenden Unterhaltsmitteln und geht darüber hinweg, dass die Mutter eine Jobzusage von einem Hotel hatte", sagt Embacher: "Da fehlt die Beweiswürdigung."Dass auch Husein die Rückkehr verboten und somit der Weg zu einem Schülervisum versperrt wurde, sei schon gar nicht nachvollziehbar: "Welche Gefahr soll von einem 13-Jährigen ausgehen, noch dazu, wenn er sozial so eingebettet ist wie Husein?"

Beginn einer Tischtennis-Karriere: „Willst du spielen?“

Findet Embachers Kritik bei den Höchstrichtern Anklang, muss das Bundesverwaltungsgericht die Causa neu aufrollen. Das ist der seidene Faden, an den sich Husein und seine Helfer klammern. Zu ihnen gehören Walter Windischbauer und seine Frau Elfriede. Windischbauer ist Vizepräsident des Salzburger Tischtennis-Vereins UTTC. Vor einigen Jahren sei ihm ein Bub aufgefallen, der sich mit seinen Eltern beim Eingang herumgedrückt habe. "Willst du spielen?",habe er ihn gefragt. So habe die sportliche Karriere von Husein angefangen. Bald war er der beste Spieler seines Jahrgangs, gewann Jugendpokale, wurde im Erwachsenen-Team Landesmeister. Windischbauer half der Familie, eine Wohnung zu finden, verschaffte der Mutter eine Stelle als Reinigungskraft. Bloß der Aufenthalt fehlte. "Die Frau ist jede Woche ins BFA gefahren, um nachzufragen",sagt Windischbauer: "Sie hat gedacht, dass ihre Chancen steigen, wenn die Behörde sieht, wie bemüht sie ist."

Am 12. Februar 2022 hatte Windischbauer seinen 64. Geburtstag. Er war auf Feiern eingestellt. Doch der Tag nahm eine unerwartete Wendung. Am frühen Morgen rief Husein an: "Walter, Walter, was soll ich tun? Die Polizei ist da. Wir müssen weg." Windischbauer erwischte die Familie gerade noch beim Packen, bevor sie im Polizeibus verschwand. Er fuhr mit seinem Auto hinterher. Im Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl drückte man dem gelernten Juristen drei Bescheide in die Hand. Einen für den Vater. Einen für die Mutter. Einen für Husein. Jeder davon um die 50 Seiten dick. Am Parkplatz bemühte sich der gelernte Jurist, der Familie verständlich zu machen, dass ihre Anträge auf humanitäres Bleiberecht abgelehnt wurden, die Behörde sie als Gefahr für die nationale Ordnung betrachtet und mit einem Einreiseverbot belegt. Drei Tage saß sie in Wien in Schubhaft, drei Tage lang setzten Windischbauer und seine Mitstreiter alle Hebel in Bewegung, damit sie bleiben darf. Vergeblich. Am 15. Februar hob der Flieger nach Baku ab.

3000 Kilometer Luftlinie entfernt lebt die Hoffnung, dass zumindest Husein zurückkommt. Vier Familien in Salzburg stehen parat, um mit dem Buben im Radl Aufgaben zu machen. Ein Spendenkonto wurde eröffnet. Die Ausgaben des täglichen Bedarfs sind gedeckt. Windischbauer erklärte sich bereit, die Krankenversicherung zu übernehmen. Ein Bekannter bot das Zimmer seiner erwachsenen Kinder als Unterkunft an. Die Schule würde den Burschen wieder aufnehmen. "Huseins Alltag wäre rund um die Uhr geregelt", sagt Windischbauer.

In Lenkaro, Aserbaidschan, gehen die Uhren indes anders. Er lerne für die Schule, spiele am Esstisch mit seinem achtjährigen Cousin Tischtennis, schildert Husein. Michael Pichler, sein Trainer in Salzburg, schickt Trainingspläne. Der Trainer Taro Netzer schaute zwei Mal persönlich vorbei. Netzer arbeitet mit Olympiaverbänden, Formel-1-Teams, Top-Schiedsrichtern und diversen Nachwuchskadern und fliegt mehrmals im Jahr nach Baku, um Box-Champions und Judokämpferinnen zu betreuen. Er brachte Husein einen Rucksack mit Schulbüchern und Jacken mit, die er hatte zurücklassen müssen. Seine Salzburger Freunde packten Bälle, Schläger und ein FC-Barcelona-T-Shirt als Geschenke ein.

Seit Monaten nicht in der Schule

Dienstags und freitags meldet sich Elfriede Windischbauer über Zoom, um mit dem Burschen Deutsch zu üben. Sie war lange Rektorin der Pädagogischen Hochschule in Salzburg und bildet heute Lehrerinnen und Lehrer aus. "Husein erledigt seine Aufgaben, fotografiert sie und schickt sie über WhatsApp zurück", erzählt sie. Seit Monaten ist das sein einziger Unterricht. In Lenkora kann er erst im Herbst in die Schule einsteigen. Oft sei er "ein bisschen gestresst",berichtet der 14-Jährige. Um sich zu beruhigen, spiele er mit seinen Hasen – sie heißen "Weißkopf" und "Schwarzohr" auf Aserbaidschanisch – und den indischen Laufenten, die gerade eine Schar Junge haben. Wenn seine Freunde schreiben: "Wie geht es dir? Was machst du? Wann kommst du?", antwortet er: "Vielleicht komme ich auch nicht. Mir geht es mittel."

Husein wäre bereit, viel hinter sich zu lassen, um bei ihnen zu sein: Lenkora, wo er als Bub kurz die Volksschule besuchte, die Hasen und Enten im Garten der Oma, seine Mutter, die früher Werken und Mathematik unterrichtete, nach ihrer Rückkehr aber schwer Fuß fasst. Er ist jung. Vielleicht werde er Tischtennisprofi, "wie mein Trainer Michi", oder Rechtsanwalt, "damit ich Kindern helfen kann".

 

Edith   Meinhart

Edith Meinhart

ist seit 1998 in der profil Innenpolitik. Schreibt über soziale Bewegungen, Migration, Bildung, Menschenrechte und sonst auch noch einiges