Dabei geht es um die Kostenübernahme für die Beerdigung. Vom Sozialministerium haben die Familien sechs Wochen nach dem Amoklauf nur einen Brief erhalten mit dem Verweis auf das Verbrechensopfergesetz, das Entschädigungsleistungen wie etwa Schmerzengeld, psychotherapeutische Unterstützung oder den Ersatz von Bestattungskosten vorsieht. Für weitere Kosten, beispielsweise bei langfristigem Verdienstentgang, müsse geprüft werden, was über den Fonds abgedeckt werden könne. Dafür seien Anträge notwendig. Eine Auszahlung habe bislang nicht stattgefunden, heißt es auf Nachfrage aus dem Sozialministerium.
Die betroffenen Familien sehen sich mit weitreichenden, oft langfristigen Folgen konfrontiert: anhaltende psychische Belastungen, Einkommensverluste und die ungewisse Frage, wie sie ihr Leben künftig finanzieren und bewältigen sollen. Einige Eltern waren seit dem 10. Juni nicht mehr in der Lage zu arbeiten. Ob sie jemals in ihren Beruf zurückkehren können, ist unklar. Und während sie mit diesen Herausforderungen kämpfen, müssen sie sich oft allein in einem undurchsichtigen Dickicht aus Anträgen, Zuständigkeiten und Fristen zurechtfinden.
Aus dem Büro der Grazer Bürgermeisterin heißt es, man werde die Familien nicht im Stich lassen. „Sofern die Kosten nicht von dritter Seite übernommen werden, springen wir ein. Die Familien sollen nicht auf den Kosten sitzen bleiben“, sagt Elke Kahr zu profil. Noch fehlt es aber an klaren Zuständigkeiten. Welche Kosten vom Sozialministerium übernommen werden, was der Elternverein leisten kann und ob es darüber hinaus weitere Stellen gibt, die unterstützen können – all das ist bislang nicht verbindlich geregelt.
Zehn Jahre warten auf Entschädigung
Wie lange solche Verfahren dauern können, zeigt ein Blick in die Vergangenheit: Gunther Ledolter, Anwalt in Graz, hat rund 50 Personen vertreten, die bei der Amokfahrt 2015 in der Grazer Innenstadt verletzt wurden. Bei zwei seiner damaligen Klienten ist das Verfahren bis heute nicht abgeschlossen. Es geht vor allem um komplexe Fälle von Verdienstentgang.
Eine junge Frau, damals Studentin, konnte ihr Studium wegen der Verletzungen bis heute nicht abschließen. „Da ist es extrem schwierig, den Schaden zu beziffern“, sagt Ledolter, „weil dabei fiktiv angenommen werden muss, was sie nach Studienabschluss verdient hätte.“ Dieses Einkommen wird dann in der Berechnung dem gegenübergestellt, was sie im Moment verdient. Die Frau schlägt sich seit der Tat mit gelegentlichen geringfügigen Jobs durch, obwohl sie heute vermutlich als Akademikerin gearbeitet hätte.
Der andere Fall betrifft einen Selbstständigen, dessen Kundenstamm durch seine Arbeitsunfähigkeit weggebrochen ist. Hier wird die Differenz zwischen dem durchschnittlichen Einkommen der letzten drei Jahre vor dem Tatzeitpunkt und dem, was er durch das Krankengeld bekommen hat, als Schaden angesetzt. Beide befinden sich seit der Amokfahrt in psychologischer Betreuung. „Ihr Hauptproblem ist mittlerweile nicht mehr das Körperliche“, sagt Ledolter. Die Schadensberechnung wird dadurch zusätzlich erschwert, denn bei langfristigen psychischen Folgen lässt sich der Endzustand kaum abschätzen. Solche Belastungen verschwinden in der Regel nicht vollständig, sie kommen in Phasen zurück, können sich verschärfen oder zeitweise abschwächen. Eine genaue Prognose sei kaum möglich.
Um die Verfahren endgültig abschließen zu können, müssten die Betroffenen eine dauerhafte finanzielle Unterstützung erhalten, etwa in Form einer Invaliditätspension. Voraussetzung dafür wäre jedoch, dass entweder eine anhaltende Erwerbsunfähigkeit festgestellt wird oder klar ist, dass die aktuelle, eingeschränkte Tätigkeit über längere Zeit ausgeübt werden kann. „Im Fall der Studentin ist es so, dass sie immer wieder versucht hat, ihr Studium abzuschließen“, sagt Ledolter, „aber die Konzentration war einfach nicht da.“ Beide Betroffene halten sich von Zeit zu Zeit mit geringfügigen Jobs über Wasser, leben teils von ihren Ersparnissen oder der Unterstützung durch ihre Familien.
Ledolter zeigt einen wesentlichen Unterschied zum Amoklauf am BORG Dreierschützengasse auf: Bei der Amokfahrt 2015 konnte die Haftpflichtversicherung des Fahrzeugs als Anspruchsgegner herangezogen werden. Das habe die rechtliche Abwicklung etwas erleichtert. Über die Versicherung konnten auf diese Weise Schadenersatzforderungen geltend gemacht werden. Im aktuellen Fall ist das nicht möglich.
Klage gegen Staat
Zwei Grazer Anwälte bereiten deshalb juristische Schritte vor. Laut einem Bericht der „Kronen Zeitung“ planen sie, die Republik Österreich auf Schadenersatz zu verklagen. Eine von ihnen ist die Patientenanwältin Karin Prutsch-Lang. Sie kritisiert vor allem die „großzügige Vergabe von Waffenbesitzkarten“ sowie das laut Prutsch-Lang „mangelhafte psychologische Gutachten“: „Wenn wir erreichen, dass Waffenbesitzkarten nicht mehr so leicht ausgestellt werden, haben wir etwas verändert und schon gewonnen.“ Dazu müssten sich die Betroffenen oder Hinterbliebenen an einen Anwalt wenden, der prüft, ob ein Anspruch besteht. Ist das der Fall, kann eine Klage eingebracht werden. Dafür braucht es Belege, etwa ärztliche Atteste, Krankenhausunterlagen, Fotos oder Rechnungen. Grundsätzlich gilt eine Verjährungsfrist von drei Jahren ab dem Zeitpunkt, an dem der Schaden bekannt wurde.
Bislang habe sich laut Prutsch-Lang aber noch niemand aus dem Kreis der Hinterbliebenen gemeldet.