Amoklauf von Graz: "Ich wollte sie halten"
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An der Tür zu Anna Bellas Kinderzimmer klebt ein Plakat. Schwarze Großbuchstaben auf gelbem Hintergrund: „Gaming Area. Zutritt verboten“. Ein stiller Wächter über eine Welt, die leer und unbewohnt zurückbleibt. An diesem Donnerstag klopfen Natascha und Stefan Bernhart an die Tür, bevor sie das Zimmer ihrer Tochter betreten, obwohl sie wissen, dass sie niemand mehr hereinbitten wird. Sie setzen sich an den Schreibtisch, bewegen die Maus. Der Bildschirm flackert auf. Anna Bellas digitale Welt erwacht.
Hier hat sie Stunden verbracht, Kopfhörer auf den Ohren, versunken in Online-Spielen wie Roblox, Genshin oder Valorant, ein Ego-Shooter-Spiel, wie es auch der spätere Amokläufer spielte. Eine zufällige Überschneidung, mehr nicht. Ihre Spielfiguren, ihre Welten, ihre Chats – sie sind alle noch da, gespeichert auf dem Computer. Stefan Bernhart findet Mitschnitte von alten aufgenommenen Computerspielen, die Anna Bella gemeinsam mit ihren Freunden gespielt hat. Ein Klick, und plötzlich ist da dieses Lachen. Hell, ungehemmt, aus vollem Herzen. So hat sie geklungen, wenn sie mit ihren Freunden wieder einen Diamanten gefunden oder eine neue Welt gebaut hat. Für einen Moment ist sie wieder da. Ganz nah.
Anna Bella war 15 Jahre alt, als sie in ihrer Klasse im Bundesoberstufenrealgymnasium Dreierschützengasse in Graz von einem ehemaligen Schüler, dem sie davor nie begegnet war, erschossen wurde. Sie ist eines von zehn Todesopfern des Amoklaufs in Graz am 10. Juni. An jenem Dienstag kehrte der Täter an seine ehemalige Schule zurück und schoss willkürlich auf Lehrkräfte und Schüler. In Anna Bellas Kinderzimmer ist seither die Zeit stehen geblieben. Der Computer läuft auf Stand-by. Auf dem Schreibtisch stehen eine Chipstüte und ihr Lieblingseistee. Geschmacksrichtung Pfirsich. Auf dem Bett liegt ihr Handy, als hätte sie es nur kurz vergessen. Alles wirkt, als könnte Anna Bella jeden Moment zur Tür hereinkommen. Nur die zwei weißen Trauerschleifen, die am Regal hängen, erinnern an das, was passiert ist. In goldenen Lettern steht darauf: „Im Herzen für immer. Deine große Schwester, Mama und Papa.“
Für das Treffen mit profil öffnen Natascha und Stefan Bernhart die Tür zu Anna Bellas Zimmer. Natascha geht zum Regal, auf dem Anna Bellas Parfum steht. Ein schwarzer Glasflakon, geformt wie ein Stöckelschuh. Dass gerade dieser Duft so wichtig für ihre Tochter war, überraschte die Eltern am Anfang. Anders als viele gleichaltrigen Mädchen begeisterte sie sich nicht nur für Beauty und Kosmetik, aber dieses Parfum wollte sie unbedingt. „Sie hat lange darauf gespart und es sich selbst gekauft“, sagt Natascha Bernhart. Getragen hat sie es zu besonderen Anlässen.
Stefan Bernharts Blick bleibt an dem kleinen Bonsaibaum aus Lego hängen. Anna Bella und er haben den Baum zusammengebaut. Die rosa Blüten auf der Baumkrone lassen sich durch grüne Blätter austauschen, je nach Jahreszeit. „Das wollten wir heuer noch machen“, sagt er. Die Steine für die Herbstblätter liegen unberührt in der Schachtel. Daneben stehen gerahmte Fotos, einige vom Maturaball ihrer älteren Schwester Aliya vom vergangenen Jahr. Auf einem formt Anna Bella lachend mit den Händen ein Herz. Dieses Bild wird auf ihrer Todesanzeige zu sehen sein. Es wird in unzähligen TikTok-Videos auftauchen, unterlegt mit Musik, versehen mit Kommentaren, die Trauer und Fassungslosigkeit ausdrücken. Es wird vielfach geteilt werden und Menschen weit über Graz hinaus erreichen. Sie alle werden ihren Namen lesen. Und die der anderen.
„Du schaffst das“
Natascha und Stefan Bernhart wollen über den schlimmsten Verlust sprechen. Über den Tag, an dem ihre Tochter nicht mehr nach Hause kam. Er begann wie jeder andere, mit Müdigkeit und ein bisschen Widerwillen. Anna Bella wollte nicht in die Schule. Sie habe sich nicht gut gefühlt, sagte sie. „Wir waren da nie überstreng“, erzählt Natascha Bernhart. Sie arbeitet als Krankenschwester an der Kinderklinik in Graz. „Wenn die Kinder sich unwohl fühlten, durften sie auch zu Hause bleiben.“ Aber an diesem Tag blieb sie hart, und Anna Bella entschied sich, doch in die Schule zu gehen. Über die Feiertage hatte sie ein Referat vorbereitet, das sie gemeinsam mit ihrer Freundin Vanessa in den ersten beiden Stunden halten sollte. Thema: Michael Jackson, der King of Pop. Sie besuchte die Musikklasse des Gymnasiums, sang im Schulchor, tanzte gern, war immer schon musikalisch. Das Referat war ihr wichtig, nicht nur wegen der Note. „Wir haben ihr immer wieder gut zugeredet“, sagt Natascha Bernhart. „Haben ihr gesagt: Du schaffst das. Du kannst alles schaffen.“
Immer wieder hatte sie Anna Bella darin bestärkt, ihren eigenen Weg zu gehen. Auch damals, als sie die Schule wechseln musste, nach Monaten des Mobbings. So schlimm waren manche der Nachrichten, die ihre Tochter bekam. „Ich wollte sogar die Polizei einschalten“, sagt die Mutter. Anna Bella wollte das nicht. Sie zog sich zurück, wollte kein Aufsehen. Natascha wusste immer, wie besonders ihre Tochter war. Sie hoffte, dass auch Anna Bella das eines Tages sehen würde. An der neuen Schule, dem BORG Dreierschützengasse, fand sie schließlich, was sie lange vermisst hatte: Freundinnen, Anschluss, ein bisschen Leichtigkeit. Alles schien sich zu ordnen. Dann kam der 10. Juni.
An jenem Morgen lief alles wie gewohnt. Anna Bella stieg ins Auto, ihr Vater fuhr sie von ihrem Wohnort in Eggersdorf zum Hauptbahnhof nach Graz. Von dort waren es noch sechs Haltestellen mit dem Bus bis zur Schule. Bei den täglichen Fahrten wurde hin und wieder über Alltägliches gesprochen, Neuigkeiten ausgetauscht, gelacht, gesungen oder geschlafen, wenn Anna Bella noch müde war. An diesem Morgen brauchte es keine großen Worte zwischen Vater und Tochter. Stattdessen lief Musik. Anna Bellas Playlist: K-Pop, ausschließlich koreanische Bands, vor allem Blackpink. Für ihren 16. Geburtstag im August hatte Stefan Bernhart heimlich Konzertkarten für einen Auftritt in Mailand besorgt. Bei Anna Bellas Beerdigung enthüllte die Trauerrednerin vom Pult die Überraschung: „Jetzt weißt du, was dein Papa dir schenken wollte.“ Um 7.25 Uhr stieg sie wie immer am Grazer Hauptbahnhof aus. „Alles Gute. Bussi, baba und bis später. Hab dich lieb“, sagte Stefan Bernhart noch zu seiner Tochter. Es war ein kurzer Moment, fast beiläufig, und doch lag darin eine stille Vertrautheit, die jetzt schmerzlich fehlt.
Stunden ohne Antwort
Dann, wenige Stunden später, zerbrach die Welt der Familie Bernhart. Kurz vor 11 Uhr bemerkten Stefan und Natascha auf ihren Handys verpasste Anrufe von ihrer älteren Tochter Aliya. Stefan Bernhart saß gerade bei einem Meeting in seinem Büro. „Die Kinder rufen uns nur selten an. Meistens schreiben sie eine kurze Nachricht“, sagt er. Die Anrufversuche beunruhigten ihn. Als er Aliya zurückrief, hörte er zum ersten Mal, was passiert war. Sie hatte mehrmals versucht, Anna Bella zu erreichen. Aliya war durch Freunde von ersten, bruchstückhaften Berichten über einen Polizeieinsatz an Anna Bellas Schule informiert worden, über TikTok, wo Videos von Einsatzkräften und verunsicherten Jugendlichen schnell die Runde machten. Aufnahmen wurden geteilt, die Hilflosigkeit und Chaos dokumentierten. Aliyas Sorge wuchs mit jeder neuen Nachricht, während sie vergeblich auf eine Antwort von ihrer Schwester wartete.
Um 10.51 Uhr erreichten erste Meldungen die Öffentlichkeit – knapp, unvollständig, noch ohne Details: „Polizei-Großeinsatz in Grazer Schule – laut Medien ein Toter.“ Um 11.31 Uhr bestätigten die Behörden mehrere Todesopfer, konkrete Details blieben zu diesem Zeitpunkt jedoch weiterhin unklar. „In solchen Momenten sucht man Halt in jeder noch so kleinen Hoffnung“, sagt Natascha Bernhart heute. „Ich habe mir immer wieder laut vorgesagt: Das Schulgebäude ist ein massiver Betonbau, vielleicht hat sie nicht überall Empfang. Nur um mich selbst zu beruhigen.“
Namenlose Nummern
Kurz nach 11 Uhr fuhren die Eltern zur Schule, doch das Gelände war großräumig abgesperrt. Niemand konnte ihnen etwas über Anna Bella sagen. „Es gab zu diesem Zeitpunkt viele widersprüchliche Informationen“, sagt Natascha. Ein Mädchen meinte, Anna Bella sei ins Krankenhaus gebracht worden. Also machte sich Natascha Bernhart auf den Weg zur Kinderklinik, wo sie arbeitete, in der Hoffnung, Antworten zu finden. Elf Menschen waren bei dem Amoklauf am Gymnasium verletzt worden, darunter ein Lehrer. Sie wurden in Krankenhäuser in ganz Graz gebracht. Weil manche keinen Ausweis bei sich trugen oder bewusstlos waren, wurden sie ohne Namen aufgenommen und mit Nummern versehen.
Stefan telefonierte die umliegenden Krankenhäuser ab. Überall stellte er dieselbe Frage, immer wieder: ob ein Mädchen mit langen, dunklen Haaren eingeliefert worden sei, 15 Jahre alt. Er beschrieb seine Tochter so genau, wie es in diesem Moment eben ging. Doch niemand passte auf diese Beschreibung. Keine der Verletzten war Anna Bella. Mehr als drei Stunden vergingen, in denen Stefan und Natascha Bernhart nicht wussten, ob ihre Tochter noch am Leben ist.
„Das war der schrecklichste Moment überhaupt“
Während er telefonierte, fuhr Stefan Bernhart zur ASKÖ-Sporthalle, der provisorisch eingerichteten Anlaufstelle für Eltern und Familien der evakuierten Schülerinnen und Schüler. Ein Ort, wo Hoffnung und Angst dicht beieinanderlagen. Viele der Eltern wussten in ihrer Verzweiflung nicht, an wen sie sich wenden und wie sie die Stunden der Ungewissheit ertragen sollten. Einige sprachen leise, andere starrten ins Leere, die Hände verkrampft um das Handy geklammert, in der Hoffnung auf eine Nachricht, die das Grauen abwenden könnte. Unter ihnen wartete auch Stefan Bernhart. „Das war der schrecklichste Moment überhaupt“, sagt er heute.
Schüler und Lehrer wurden mit Bussen zur ASKÖ-Halle gebracht. Im ersten Bus waren die Schülerinnen und Schüler der 5a. Anna Bellas Klasse. Sie war nicht dabei. Als um 14.12 Uhr ein Polizist auf Stefan Bernhart zuging und ihn in einen Nebenraum bat, ahnte er bereits, worum es ging. Es tue ihm leid, sagte der Polizist, Anna Bella hat nicht überlebt. Zur selben Zeit war Natascha Bernhart noch in der Kinderklinik. Sie hatte die ganze Station nach einem Mädchen mit langen, dunklen Haaren durchgefragt. Doch niemand passte auf Anna Bellas Beschreibung. Dass keine der Patientinnen ihrer Tochter ähnelte, gab ihr einen letzten Hoffnungsschimmer. Dann klingelte das Telefon. Stefan. Als sie seine Stimme hörte, wusste sie es bereits.
Natascha machte sich auf den Weg zur Sporthalle, wo Stefan und Aliya auf sie warteten. „Ich wollte Antworten“, sagt Natascha Bernhart. „Ich wollte wissen, ob sie sofort gestorben ist, ob sie gelitten hat.“ Eine Polizeiärztin nahm sie zur Seite. Natascha zeigte ihr ein Foto von Anna Bella. Die Ärztin sah es an, nickte – ja, das sei sie. Ein Moment grausamer Klarheit. Es bedeutete auch, dass Anna Bella noch zu erkennen war. Bei einigen der Opfer war eine Identifizierung nur noch über Kleidung oder persönliche Gegenstände möglich. Natascha Bernhart wollte nur noch zu ihrer Tochter. „Ich wollte sie halten. Mir war egal, wie viel Blut da war. Ich hatte das Gefühl, ich habe sie im Stich gelassen.“ Später erfahren die Eltern, dass Anna Bella nicht allein gewesen war. Ihre Freundin Vanessa sei bis zum Schluss an ihrer Seite gewesen, bis zu dem Moment, als die Polizei die Klasse evakuierte. Auch Vanessa wurde getroffen, mehrfach. Sie war eine der elf Verletzten. Und es war die Klassenvorständin, die Natascha und Stefan Bernhart sagte, wie stolz Anna Bella noch vor der Tat gewesen sei – auf das gemeinsam mit Vanessa gehaltene Referat über Michael Jackson.
Wie funktioniert ein Weiterleben nach dem schlimmsten Verlust? Natascha und Stefan Bernhart sprechen über ihre Tochter und über eine Gesellschaft, die versagt hat. Sie sprechen über Waffengesetze und Sicherheit an Schulen. „So eine Welt will ich nicht“, sagt Natascha, „wo Schule kein sicherer Ort mehr ist.“ Sie sprechen über die Verantwortung, die jemand für all das übernehmen muss, und über die bittere Erkenntnis, dass manches hätte verhindert werden können. Die Opfer des Amoklaufs in Graz sind längst keine anonymen Zahlen mehr, sie sind Teil eines politischen Diskurses geworden. Nach der Tat kündigte die Regierung schärfere Waffengesetze an. „Doch in Österreich ist die Waffenlobby zu stark, und Veränderungen kommen oft erst nach der Katastrophe“, sagt Stefan. Natascha und Stefan Bernhart kämpfen nicht nur mit der Trauer um ihre Tochter, sie stellen auch die Frage, warum es erst Tote braucht, damit sich politisch etwas bewegt. Sie sprechen über Anna Bella, weil sie nicht schweigen wollen. Sie sprechen über das, was ihr genommen wurde: ihre Zukunft, ihre Stimme, ihr Platz im Leben. Sie sprechen, damit dieser Verlust nicht folgenlos bleibt.
Am Ende schließen sie die Tür zu Anna Bellas Zimmer und sagen ihr gute Nacht, so wie jede Nacht.
Daniela Breščaković
ist seit April 2024 Innenpolitik-Redakteurin bei profil. War davor bei der „Kleinen Zeitung“.