Bald fand sich neben der „silly season“ der Begriff der „cucumber time“, womit im 18. Jahrhundert jene Monate bezeichnet wurden, in denen die Lebensmittel knapp waren und deshalb auf Eingemachtes wie eben saure Gurken zurückgegriffen wurde. Wann die Saure-Gurken-Zeit zum Sommerloch wurde, lässt sich nicht mehr nachvollziehen. Das „Deutsche Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm“, das umfangreichste Sprachlexikon des Deutschen, das in einem Zeitraum von mehr als 100 Jahren publiziert wurde, verzeichnet in seiner letzten Lieferung anno 1961 noch keinen Begriff „Sommerloch“.
An das Phänomen S. sollte man sich, der kleine Exkurs sei erlaubt, eher nicht als strenge Naturwissenschaft nach dem Modell der Newtonschen Physik herantasten. Dass es existiert, ist seit dem Jahr 2006 allerdings amtlich: Damals legte ein Student an der Technischen Universität Dortmund seine Diplomarbeit mit dem Titel „Gibt es das Sommerloch? Inhaltsanalyse der Lokalberichterstattung dreier Tageszeitungen im Hinblick auf ihre mögliche Veränderung während des Sommers“ vor – und belegte mit wissenschaftlichem Werkzeug eindrucksvoll dessen Existenz. Tageszeitungen würden im Sommer, beobachtete Christian Pohl in seiner Arbeit, „von gewohnten Berichterstattungsmustern abweichen“ und „nicht ereignisbezogen“ berichten: „Im Sommer erscheinen häufiger Beiträge, für die Journalisten selbst Aktualität herstellen.“ Mit einem Wort: Sommers schießt der Medien-Nonsens ins Kraut.
Spätestens an dieser Stelle kommen die Tiere ins Spiel. Sommerzeit ist die Hochzeit der Sommerlochtiere, die zu jener Spezies von Lebewesen gehören, denen durchgedrehte, aber eben auch herzerwärmende Geschichten angedichtet werden. Man weiß nicht recht, warum, aber Sommer für Sommer gerät ein anderes Tier in den Fokus, wobei „Tier“ zoologisch betrachtet nicht immer ganz zutreffend ist – siehe den Drachen-Dino-Mischling Nessie.
Das jüngste Kapitel in dieser langen Geschichte schreibt gerade Elch Emil. Warum sehen wir Sommerlochtiere an?, ließe sich, leicht adaptiert, mit dem Titel eines Essays des im Jahr 2017 verstorbenen britischen Schriftstellers John Berger fragen. Und weshalb schaffen es Rötelmaus und Mönchsgrasmücke nie in die Sommerhitparade? Die Antwort darauf dürfte etwas mit Körpergröße, stimmiger Namensgebung und der achtunggebietenden Distanz zur Kreatur zu tun haben, die wohligen Grusel erzeugt. Die alte Geschichte: Bestie gegen Mensch. Oder sind Sommertiergeschichten von Schachbrettfalter Schorsch und Iltisdame Ida denkbar? Eben. Es müssen Kängurus, Kraken und Kühe her.
2004 büxte das Zwergkänguru Heidi in Niederbayern aus und genoss zwei Wochen lang, atemlos vom Boulevard verfolgt, seine Freiheit. Ein Jäger mit Betäubungsgewehr erwischte Heidi am Ende und bugsierte sie zurück in den Käfig, wo Kängurumann Hermann bereits wartete.
Ein Wesen mit offiziellem Namen J11 geisterte 2006 über die deutsch-österreichische Grenze. Vom damaligen bayerischen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber sogleich zum „Problembären“ abgewertet und von den Zeitungen liebevoll „Bruno“ getauft, verfolgte eine becircte Öffentlichkeit Brunos Spuren entlang gerissener Schafe und „New York Times“-Schlagzeilen: „Herr Bruno Is Having a Picnic, but He’s No Teddy Bear“. Ende Juni beendeten drei Jäger Brunos irdisches Wandeln; im Münchner Museum „Mensch und Natur“ ist er als Präparat zum Kuschelbären erstarrt.
Yvonne, die „Kuh, die ein Reh sein will“ („Frankfurter Allgemeine Zeitung“), unternahm 2011 wiederum von Kärnten aus ausgedehnte Wandertage durch Oberbayern. Wochenlang narrte sie ihre Verfolger, gezählte 98 Tage lang. Ein Sommer-Epos.
Tatort Oggenrieder Weiher, Ostallgäu, August 2013. Ein Bub schwimmt im Teich, verletzt sich schwer. Experten machen eine ausgesetzte Schnappschildkröte für die Bisswunde verantwortlich. Lotti, so der Name der mutmaßlichen Übeltäterin, ließ sich bis heute nicht blicken. Lotti Ness.
Und da wären noch: Krake Paul, der die Ergebnisse der Fußball-WM-Spiele 2010 voraussagte; Brillenkaiman Sammy („Bestie im Baggersee“) auf der Flucht; Geierschildkröte Eugen und Wels Kuno, der Schrecken aus Mönchengladbach („Killerwels frisst Dackel“), dicht gefolgt von jenem aktuellen Wels-Drama am Brombachsee nördlich vom bayerischen Weißenburg, dem Polizisten mit ihren Dienstwaffen ein Ende bereiteten.
Ente gut, alles gut. 2006 verliebte sich Schwänin Petra auf dem Münsteraner Aasee unsterblich in ein Tretboot in Schwanenform, zwei Jahre lang wich sie dem Plastikgenossen nicht von der Seite, was mehr als nur ein Sommerloch füllte. Irgendwann war auch diese Liebe zu Ende. Mit einem Artgenossen bekam Petra später Nachwuchs. Einer ihrer Söhne soll sich in eine Ente verliebt haben. Der nächste Zeitungsenten-Sommer kann kommen.