Wahlen in Österreich

Demokratie in Schieflage: Reich wählt, arm fehlt

Geringverdiener und Arbeitslose pfeifen überdurchschnittlich oft auf ihr Wahlrecht. Corona könnte das Problem verschärfen.

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Die Sozialwissenschafterinnen Martina Zandonella und Tamara Ehs können erstaunlich genau prognostizieren, mit welcher Wahrscheinlichkeit Menschen aus Wien an der nächsten Wahl teilnehmen werden. Dafür müssen die Forscherinnen bloß Beruf, Einkommen, Herkunft und Vermögen von Wahlberechtigten kennen. 

Wer die Matura oder gar eine Uni abgeschlossen hat, Vollzeit arbeitet, zum oberen Einkommensdrittel zählt, über ein Vermögen von mehr als 100.000 Euro verfügt und österreichischer Staatsbürger ohne Migrationshintergrund ist, geht mit einer Wahrscheinlichkeit von 98 Prozent wählen.

Bei Menschen ohne Matura, die im Wiener Durchschnitt verdienen und kein nennenswertes Vermögen haben, sinkt der Wert auf 82 Prozent – oder gar auf 74 Prozent, wenn die Person Migrationshintergrund hat. 

Wer dagegen ohne Job und Vermögen dasteht, aber mit Sozialleistungen finanziell abgesichert ist, geht bloß mit 51-prozentiger Wahrscheinlichkeit wählen. Bei Menschen, die unter der Armutsgrenze leben, liegt die Wahlbeteiligung im Schnitt überhaupt nur bei 31 Prozent. 

Menschen mit prekären Jobs und Arbeitslose bleiben am Wahlsonntag viel öfter daheim als Mittelschicht und Besserverdiener. Die Gruppe der Nichtwähler erhält vor allem aus einer Richtung Zulauf: von unten; vom ökonomisch schwächsten Drittel. 

Das hat Gründe: Obwohl seit über 100 Jahren jede Stimme gleich viel zählt, haben arme Menschen zunehmend den Eindruck, dass es auf ihre Meinung nicht ankommt. Demokratieforscher warnen bereits vor einer Zweidritteldemokratie, die auf die Schwächsten vergisst. Und davor, dass die Corona-Krise die Schieflage beim Wählen verschärfen könnte.

Bei der Wienwahl im Oktober 2020 zeigte sich der Effekt: Im bürgerlich geprägten Innenstadtbezirk Josefstadt stimmten 76 Prozent der Wahlberechtigten über die Machtverhältnisse im Rathaus ab. In Favoriten, wo Einkommen deutlich niedriger sind, gingen gerade einmal 59,27 Prozent wählen. Ein Gap von fast 17 Prozentpunkten. 

Tatsächlich ist die Schieflage bei der Wahlbeteiligung aber noch deutlich stärker ausgeprägt, als die Bezirksanalyse vermuten lässt – denn sie blendet aus, dass auch in einigen ärmeren Bezirken Besserverdiener leben. 

Um das Phänomen genauer zu erforschen, glichen Martina Zandonella vom Institut SORA und die Demokratieforscherin Tamara Ehs die Wahlbeteiligung bei der Wiener Landtagswahl 2015 und der Nationalratswahl 2019 mit demografischen Daten wie Einkommen und Hochschulabschlüssen ab – und zwar für alle 1343 Zählsprengel der Stadt.

Die Ergebnisse der Studie, die von der Wiener Arbeiterkammer und der Stadt Wien finanziert wurde, belegen einen Zusammenhang zwischen ökonomischer Lage und Wahlbeteiligung: Steigt das durchschnittliche jährliche Nettoeinkommen in einem Stadtteil um 1000 Euro, erhöht das auch die Wahlbeteiligung um einen Prozentpunkt. Und jedes Prozent mehr an Arbeitslosen im Grätzel senkt die Wahlbeteiligung um 0,5 Prozentpunkte. „Steigt die Arbeitslosigkeit in Folge der Corona-Krise, kann sich der Gap vergrößern“, erklärt Studienautorin Zandonella. Zwar gehen auch in Stadtteilen mit vielen türkischen und ex-jugoslawischen Migranten weniger Menschen wählen – allerdings habe das ökonomische Gründe, sagt Zandonella: Der Migrationshintergrund habe einen „indirekten Effekt, indem eben viele Menschen mit Migrationshintergrund geringe ökonomische Ressourcen haben“.

Vorbei sind die Zeiten, in denen Arbeiter die mächtigste politische Wählergruppe waren. Bis in die 1980er-Jahre gingen Bewohner bürgerlicher Bezirke seltener wählen. Nun ist es umgekehrt. Demokratieforscherin Ehs: „Die vielen prekären Ein-Personen-Unternehmen und ebenso Arbeitslose, deren Zahl ja stark gestiegen ist, sind schwieriger anzusprechen.“ 

Das unterste ökonomische Drittel wurde gewissermaßen zum Opfer des finanziellen Aufstiegs der Mehrheitsgesellschaft. Der Großteil der Wähler zählt zur Mittelschicht – um die sich die Parteien besonders bemühen müssen, wenn sie  erfolgreich sein wollen. US-amerikanische und deutsche Studien fanden heraus, dass politische Anliegen von Besserverdienern in den vergangenen Jahrzehnten deutlich öfter umgesetzt wurden als Wünsche von Ärmeren. Zandonella: „Durch den starken Fokus auf die Mittelschicht wurde von der Politik und der Wissenschaft lange übersehen, dass es auch noch Gruppen gibt, die weiter unten stehen. Dabei hat die ökonomische Ungleichheit seit den 1990ern wieder zugenommen. Aber das kommt im Diskurs kaum vor.“

Aus Sicht der Studienautorinnen ergibt sich eine negative Spirale: Politische Parteien fokussieren sich stark auf die Mittelschicht und Vermögende, ärmere Menschen fühlen sich nicht angesprochen, gehen seltener wählen, sind daher politisch schwächer repräsentiert. Und werden als Konsequenz daraus noch seltener angesprochen. 

Jakob   Winter

Jakob Winter

ist Digitalchef bei profil und leitet den Faktencheck faktiv.