Anti-Putin-Demo in Wien: Alte und neue Friedensbewegung unterscheiden sich wie Tag und Nacht.

Die Neutralität Österreichs: Das Ende der Bequemlichkeit

Nach dem russischen Überfall auf die Ukraine verschieben sich die sicherheitspolitischen Perspektiven. Der Austro-Pazifismus hat ausgedient. Die Neutralität auch?

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Eine neue Friedensbewegung ist in der Welt, praktisch über Nacht entstanden. Sie ist jung, laut und selbstbewusst, auch wenn sie gar nicht so genau weiß, ob und was sie am Ende erreichen will. Auf „Stoppt Putin“ können sich alle verständigen. 

Die „Ukrainische Jugend Österreichs“ hatte Fridays for Future um Hilfe gebeten. Und dann standen sie am Wiener Heldenplatz. 24 Stunden später. 

Auch Magdalena Frauenberger, Studentin, Schauspielerin und Fridays-for-Future-Aktivistin, hielt bei der Wiener Kundgebung am ersten Tag des russischen Angriffskrieges mitten unter tausend anderen Leuten ihres Alters ihr Handydisplay in die Höhe; empört, traurig, aber auch glücklich im Gefühl der Solidarität. Die einen fordern Kampfjets für die Ukraine, eine NATO-gesicherte Flugverbotszone und würden am liebsten selbst für Wolodymyr Selenskyj in den Kampf ziehen; die anderen fordern ein Ende des Krieges und den sofortigen Stopp von Gas-und Ölimporten aus Russland. 

„Ich konnte mir nie vorstellen, dass einmal ein Krieg nach Europa kommt. Anfangs war Schockstarre. Jetzt steigt die Wut auf die Leute, die mit der Abhängigkeit von russischem Öl und Gas das in Kauf genommen haben“, sagt Frauenberger. 

Und was sagt sie zu stärkerer militärischer Hilfe für die Ukraine? Soll Österreich neutral bleiben oder NATO-Mitglied werden? „Wir sind junge Klimaaktivistinnen und Klimaaktivisten. Wir haben da keine Meinung. Da gibt es andere Leute, die sich besser auskennen. Wir haben  keine Kompetenz. Wir sind für den Frieden und Klimagerechtigkeit.“ Persönlich fühlt sich Frauenberger zerrissen zwischen den Standpunkten. Wenn das Leid in der Ukraine nicht aufhöre, müsse man vielleicht doch einschreiten. „Ich traue mir da keine profunde Einschätzung zu. Aber wenn ein ganzes Land einfach so untergeht, ist das grauenvoll.“ Ein sofortiger Importstopp von Öl und Gas sei „das Geringste“, das man tun müsse. Und Quartiere für Flüchtlinge finden. 

Die alte und neue Friedensbewegung unterscheiden sich wie Tag und Nacht. Keine großen ideologischen Debatten, keine zähen Diskussionen über einen gemeinsamen Aufruftext. An der Neutralität hängt kein Herz. Aber man ist empört über Unrecht. Es ist ein Bruch zwischen Generationen. Auch in der Politik kommt es zu tektonischen Verschiebungen. Seit Jahrzehnten hat es sich Österreich in seiner sicherheitspolitischen Nische bequem gemacht. 

Die Neutralität ist Staatsdoktrin, verschaffte uns in Europa aber auch den Status eines Sonderlings. Doch das Inseldasein könnte bald ein Ende haben. Der Überfall von Putin-Russland auf die Ukraine reiht die Prioritäten neu. Die militärische Sicherheit zählt auf einmal so viel wie die soziale. Landesverteidigung wird zur Staatsaufgabe. Grüne schwören der Gewaltfreiheit ab. Ist der Pazifismus österreichischer Prägung damit Geschichte?

Der Krieg in der Ukraine macht Undenkbares möglich: Österreich wird – zumindest ein wenig – militarisiert. Das Heeresbudget soll zukünftig ein Prozent des BIP (4,3 Milliarden Euro) pro Jahr betragen. Derzeit liegt es bei 0,74 Prozent (2,7 Milliarden Euro). Das Geld kann die Truppe gebrauchen. Es mangelt an vielem: Ausrüstung für die Soldaten, Munition, Transportfahrzeuge, Panzer, Flieger- und Drohnenabwehr. Um die gesamte militärische Landesverteidigung mit allen Waffengattungen wieder funktionsfähig zu machen, benötigt das Heer laut Generalstabschef Robert Brieger zwischen sechs und zehn Milliarden Euro in den nächsten zehn Jahren. 

Mit der dauerhaften Erhöhung des Budgets auf ein Prozent des BIP könnte das Heer immerhin sogenannte „Schutzoperationen“ bewerkstelligen. Dabei handelt es sich etwa um Maßnahmen gegen systematische Terrorangriffe. Um einen konventionellen Angriff (vergleichbar dem Überfall auf die Ukraine) abzuwehren, benötigte das Heer rund 2,5 Prozent des BIP, vor allem für den Ausbau der Luftverteidigung. Bisher kam eine solche „Abwehroperation“ in den strategischen Überlegungen der Heeresführung nur am Rande vor. Nun müssen die Risikoanalysen neu gewichtet werden. 

Die Herausforderungen des Ukraine-Krieges für die militärische Landesverteidigung Österreichs sind unmittelbar. Doch was bewirkt der Krieg bei der sogenannten, ebenfalls in der Verfassung verankerten, geistigen Landesverteidigung, also der Bewusstseinsschaffung in der Gesellschaft für die Notwendigkeit des Militärs? Wie alle Umfragen belegen, schätzt die Bevölkerung das Bundesheer, allerdings vor allem als Unterstützung bei Naturkatastrophen. Der ideale österreichische Soldat trägt Schaufel statt Sturmgewehr. Er soll nicht militärisch schützen, sondern wie ein Feuerwehrmann helfen.

Vor allem die Grünen, nun Regierungspartei, lehnen das Militär im Grunde ab. Der Pazifismus zählt seit Beginn zu ihren Grundprinzipien. In ihrem Wahlprogramm 2019 definieren die Grünen den Katastrophenschutz als eine „der Hauptaufgaben“ des Bundesheeres. Dieses sollte „auf das absolut notwendige Maß verkleinert“ werden. Für „personenstarke Armeen“ bestehe „kein Bedarf mehr“. Landesverteidigung „im klassischen, territorialen Sinn“ sei „heute unnötiger Luxus“. Abfangjäger seien „zu teuer und nicht erforderlich“.

Mittlerweile ist auch Vizekanzler und Grünen-Chef Werner Kogler für die Erhöhung des Verteidigungsbudgets. Als Regierungspartei sind Kogler & Co gezwungen, ihre pazifistische Haltung zu hinterfragen. Auch die deutschen Grünen machen einen Meinungswandel durch. Die grüne Außenministerin Annalena Baerbock sprach sich nach dem russischen Überfall für deutsche Waffenlieferungen an die Ukraine aus. Der grüne Vizekanzler Robert Habeck sagte, er achte „die Position des unbedingten Pazifismus“, aber er halte sie für falsch. Schon 2014 hatte der deutsche Bundespräsident Joachim Gauck gemahnt, Pazifismus dürfe „kein Deckmantel für Bequemlichkeit“ sein. Er bestritt, dass Deutschland wegen seiner Geschichte dauerhaft ein „Recht auf Wegsehen“ erworben habe.

In Österreich ist dieses „Recht auf Wegsehen“ immerwährend. Es nennt sich Neutralität. Für kurze Zeit wurde vergangene Woche auf höchster Ebene über deren Berechtigung diskutiert. Der frühere ÖVP-Nationalratspräsident Andreas Khol hatte sich in einem Gastkommentar in der „Kleinen Zeitung“ für einen NATO-Beitritt Österreichs ausgesprochen. Die SPÖ-Vorsitzende Pamela Rendi-Wagner replizierte: „Die Neutralität stärkt Österreichs Sicherheit seit 67 Jahren. Diese jetzt abzuqualifizieren, wäre völlig falsch. Unsere Neutralität ist jetzt wertvoller denn je und mit der SPÖ nicht verhandelbar.“ Kanzler Karl Nehammer beendete die Debatte, bevor sie richtig beginnen konnte: „Österreich war neutral, Österreich ist neutral, Österreich wird auch neutral bleiben.“ Die Neutralität habe „gute Dienste geleistet und leistet gute Dienste“. Allerdings sei Österreich im Ukraine-Krieg zwar „militärisch neutral“, aber nicht „politisch“. 

„Aus freien Stücken“ hatte sich Österreich 1955 der Neutralität verschrieben, doch jeder wusste: Sie war der Preis, um den Abzug der russischen Truppen zu erreichen. Das Neutralitätsgesetz war nicht Bestandteil des Staatsvertrags, doch die Sowjets und nach dem Zerfall der UdSSR die russische Regierung beriefen sich immer auf ein zuvor beschlossenes Memorandum und leiteten daraus ab, bei der Ausgestaltung der österreichischen Neutralität als Staatsvertrags-Signatarmacht ein Wörtchen mitreden zu können. 

Im Gegensatz zu heute sahen die Sozialdemokraten 1955 in der Neutralität „keine optimale Lösung“, sondern eine kommunistische Strategie, so Zeithistoriker Oliver Rathkolb in „Die paradoxe Republik“. 

Doch derartige Bedenken waren bald ausgeräumt. Bei Aufbau und Ausstattung des österreichischen Bundesheeres halfen die USA mit Waffen und Finanzierung – aus Geheimhaltungsgründen wurden die Gelder am Kongress vorbeigeschleust. Das offiziell neutrale Österreich half den USA klandestin bei der Ausspionierung der Ostblockstaaten während des Kalten Krieges. Der 1958 errichtete Horchposten Königswarte des Bundesheeres bei Hainburg an der Grenze zur Slowakei wurde von den Amerikanern mitfinanziert. Die Informationen, die das Heeres-Nachrichtenamt dort über die Staaten des Warschauer Pakts sammelte, gingen an US-amerikanische Dienste.

NATO-Unterlagen vom November 1955, die in den 1990er-Jahren bekannt wurden, liefern Hinweise auf bemerkenswerte Gespräche mit der Bundesheerführung: Demnach habe der österreichische Generalstabschef betont, dass sich die österreichischen Streitkräfte sofort nach einem sowjetischen Einfall Richtung Westen in die Alpen absetzen und eine Linie halten werden, die von der Stadt Salzburg über Gmunden, Eisenerz und Leoben bis Wolfsberg reicht. „Um den Schein der Neutralität“ zu bewahren, würde das Bundesheer gleichmäßig an allen Grenzen verteilt.   

An eine Verteidigung Ostösterreichs war in den ersten Jahren des Bundesheeres also nicht gedacht. In den Raumverteidigungskonzepten wurde davon ausgegangen, dass Österreich nur kurz fremde Truppen aufhalten könne. Der Militärhistoriker Manfried Rauchensteiner sagte 1994: Die Neutralität habe zwar „als mentale Hemmung“ auf potenzielle Angreifer gewirkt, „bei ernsthaften Aggressionsabsichten hätte sie wohl nicht geholfen“. 

Der Selbstbetrug wurde zur Lebensform.

Der verstorbene Philosoph Rudolf Burger über das Wesen der Neutralität

In den Schulen hörten die Kinder, am 26. Oktober 1955 habe der letzte russische Soldat das Land verlassen, und deshalb werde der Nationalfeiertag begangen. Tatsächlich war an diesem Tag das Neutralitätsgesetz beschlossen worden. In den 1970er-Jahren wurde der Nationalfeiertag zum Volkswandertag umgewandelt. 
Bis in die 1990er-Jahre glaubten in Umfragen jeweils rund 40 Prozent, Österreich würde „aufgrund seiner Neutralität von keiner fremden Macht angegriffen“ (Studie des Verteidigungsministeriums, 1991).  

„Der Selbstbetrug wurde zur Lebensform“, kommentierte der verstorbene Philosoph Rudolf Burger im profil. Das Konzept der Neutralität nannte er „eine Politik des verhärteten Herzens“. Blind gegenüber Verbrechen und Barbarei. 

Mit Österreichs Beitrittsansuchen zur EU flammte die Neutralitätsdebatte wieder auf. 1996 tauchten auch noch geheime Waffendepots auf, die im Nachkriegsösterreich mit US-Hilfe angelegt worden waren. Pistolen, Sprengstoff, Jagdmesser und Anleitungen für einen Guerillakrieg.  Ein CIA-Mann hatte geplaudert – aus Sorge, die erstarkende FPÖ unter Jörg Haider könnte sich dieser Verstecke bedienen. 

In diesen Jahren ging es nicht mehr um die Neutralität, sondern um die NATO. Die Regierungspartei ÖVP war dafür, die SPÖ eher dagegen.  ÖVP-Obmann Wolfgang Schüssel: „Die NATO – das neue Sicherheitsinstrument“.  ÖVP-Klubobmann Andreas Khol: „Die Neutralität – eine Staatsfiktion“.

SPÖ-Außenpolitiker Josef Cap warb in einem profil-Kommentar für einen „kurzfristigen NATO-Beitritt“. Heute sagt er, das sei ein Mondfenster gewesen, eine Gelegenheit, in der sich die NATO neu orientiert habe, sogar die Russen in einer Form miteinbeziehen wollte. Die Situation sei heute komplett anders, und er ein leidenschaftlicher Verfechter der Neutralität. Ein NATO-Beitritt würde derzeit ohnehin an den Bürgerinnen und Bürgern scheitern. Über 80 Prozent lehnen diesen laut einer aktuellen profil-Umfrage ab.

1998 erfuhr das Bundesheer durch bloßen Zufall, dass die Daten aller Heeres-Flugbewegungen in Österreich postwendend an die tschechische Luftraumüberwachung und damit an die NATO gehen.  Im Kosovo-Einsatz 1999 überflogen NATO-Jets unbehelligt österreichisches Territorium. Eine verbale Protestnote wurde später eingelegt. Abfangjäger stiegen nicht auf. 
Auch derzeit überqueren NATO-Flugzeuge Österreich in Richtung Osteuropa. Laut „Kleine Zeitung“ würden  vom italienischen Pisa aus Transportmaschinen durch den österreichischen Luftraum militärische Güter ins polnische Rzeszów bringen, von wo aus sie in die Ukraine verbracht würden. Laut Auskunft des Verteidigungsministeriums seien solche Überflüge neutralitätsrechtlich unbedenklich.

Vergangenen Freitag beschlossen die EU-Staats- und Regierungschefs eine zweite Militärhilfe für die Ukraine in Höhe von 500 Millionen Euro. Österreich ermöglichte diesen Beschluss, indem es sich bei der Abstimmung „konstruktiv enthält“, wie es laut EU-Recht möglich, aber eher nicht neutral ist. 
Alfred Gusenbauer, Ex-SPÖ-Kanzler, der „nicht zu den Putin-Verstehern“ gezählt werden will und betont, er habe nie eine geschäftliche Verbindung zu Russland gehabt, warnt vor nächsten Eskalationsschritten. Was Russland mache, sei verabscheuungswürdig, doch müsse weiterverhandelt werden. Russland als Atommacht werde nicht von der Landkarte verschwinden, und die NATO, „als Relikt einer vergangenen Zeit“, sei nicht in der Lage, Vertrauen aufzubauen und den Dialog zu führen.  Ein neutraler Staat wie Österreich hätte „mehr Handlungsmöglichkeiten, als er nützt“.   

Ob Gusenbauer hier nicht irrt? Die „Handlungsmöglichkeiten“ der österreichischen Diplomatie hängen von der Glaubwürdigkeit der Neutralität ab. In Zusammenhang mit dem Krieg gegen die Ukraine ist diese offenbar nicht mehr vorhanden. Vorvergangene Woche warf das russische Außenministerium der Bundesregierung „emotionale antirussische Rhetorik“ vor. Dadurch würden ernste Zweifel an der Qualität von Wiens Neutralität aufkommen. Die Republik Österreich, so die russische Kritik, sei nur „scheinbar neutral“.  

Doch die Neutralität alten Musters gilt nicht mehr. Und nicht einmal als Staatsvertrags-Signatarmacht hat Russland das Recht, sie inhaltlich mitzubestimmen.

Gernot   Bauer

Gernot Bauer

ist Innenpolitik-Redakteur.

Christa   Zöchling

Christa Zöchling